[Militant Nr. 499, 18. April 1980, S. 11]
Was sollte die Haltung von Marxist*innen zu Russlands Einmischung in Afghanistan sein? Wir drucken hier zwei Leserbriefe [erstmals erschienen in unserer Ausgabe vom 21. März], die zwei Alternativen aufwerfen [hier weggelassen], sowie eine Antwort von Lynn Walsh.
Die Briefe von Chris Evers und Tom Crow zu Afghanistan („Militant” Nr. 495, 21. März) werfen wichtige Fragen auf.
Chris fragt, ob ein Sieg der Rebell*innen unweigerlich zu einer Reaktion führen würde. Nun, die Rebell*innenstreitkräfte sind sicherlich eine bunte Ansammlung von Stammesangehörigen und Bandit*innen, die zwar zweifellos von heftigen nationalistischen Gefühlen beseelt sind, aber eindeutig von Mullahs und Feudalherr*innen dominiert werden, deren Hauptziel es ist, die alten Eigentums- und Machtverhältnisse zu erhalten, und die niemals die nationale Unabhängigkeit oder Autonomie für nationale Minderheiten errichten könnten.
Aber der entscheidende Faktor ist, dass diese Kräfte vom US-Imperialismus als Handlanger für reaktionäre Zwecke benutzt werden, der sie mit Hilfe der reaktionären Diktaturen Pakistans und Saudi-Arabiens und, skandalöserweise, auch der chinesischen Führung bewaffnet und finanziert. Würde das proletarische bonapartistische Regime Afghanistans gestürzt, würde der Imperialismus zweifellos intervenieren, um den Großgrundbesitz und den Kapitalismus wiederherzustellen und ein proimperialistisches Marionettenregime zu installieren.
Afghanistan ist völlig verschieden vom Iran, wo, wie Chris sagt, „eine reaktionäre religiöse Führung gezwungen wurde, Verstaatlichungen und Landreformen durchzuführen“. Beim Fehlen von Arbeiter*innenorganisationen mit marxistischer Perspektive wurde die Moschee aus besonderen Gründen zu einem Kanal für die Opposition gegen die Diktatur des Schahs.
Unter dem enormen Massendruck, sowohl der Bäuer*innenschaft als auch der kleinen, aber entscheidend wichtigen Arbeiter*innenklasse, wurde die Khomeini-Führung dazu gedrängt, progressive, antikapitalistische Maßnahmen zu ergreifen. In Afghanistan hingegen sind die Mullahs die Agenten der sozialen Reaktion.
Marxist*innen unterstützen gewiss „das Selbstbestimmungsrecht der Völker“, aber in einem Land wie Afghanistan, das aufgrund seiner Geografie und Geschichte nie vollständig vereint oder wirklich unabhängig war, bietet diese allgemeine Formel an sich keine fertige Lösung.
Die Probleme der nationalen Befreiung und der sozialen Emanzipation des afghanischen Volkes können nicht von den Klassenkonflikten jenseits der schwachen Grenzen Afghanistans getrennt werden. Deshalb muss der Intervention der russischen Bürokratie zur Verteidigung eines Regimes, das auf der Abschaffung des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus basiert, kritische Unterstützung gewährt werden. Die Alternative wäre ein proimperialistisches Regime, das noch repressiver wäre als (beispielsweise) die Regime in Pakistan und Bangladesch.
Sozialistische Demokratie
Marxist*innen müssen gewiss das Banner der sozialistischen Demokratie hissen und die Kontrolle über die zentralisierte Planwirtschaft und den Staat durch Organe der Arbeiter*innen- und Bäuer*innendemokratie fordern. Aber wenn man „erklärt“ [wie Chris sagt], „dass der nächste Schritt in Afghanistan in Richtung einer gesunden Arbeiter*innendemokratie sein muss“, darf man nicht vergessen, dass in diesem wirtschaftlich rückständigen Land mit einer nur sehr kleinen embryonalen Arbeiter*innenklasse der Schritt, die bonapartistische Bürokratie durch echte Arbeiter*innendemokratie zu ersetzen, nicht losgelöst von der Entwicklung der politischen Revolution in den weiter entwickelten stalinistischen Staaten Russlands und Osteuropas oder vom Erfolg der sozialistischen Revolution in den weiter entwickelten kapitalistischen Ländern Asiens betrachtet werden kann.
Tom Crow ist mit der Haltung von „Militant“ zur Präsenz russischer Truppen in Afghanistan einverstanden, stimmt jedoch nicht mit unserer Ablehnung ihrer ursprünglichen Intervention überein. Jedoch die Tatsache, dass die Feindseligkeit der Arbeiter*innen gegenüber der Präsenz russischer Truppen durch die Propaganda der kapitalistischen Medien geschürt oder verstärkt wird, ändert nichts an der Tatsache, dass es der bonapartistische Charakter der militärischen Intervention war, der den Kapitalist*innen alles gab, was sie brauchten, um die brutalen, undemokratischen Methoden der „sozialistischen“ (d.h. stalinistischen) Staaten anzugreifen.
Tom sagt: „Russland spielt in Ländern der Dritten Welt tatsächlich eine fortschrittliche Rolle.“ Dies trifft in dem beschränkten, relativen Sinn zu, dass Russland Befreiungsbewegungen unterstützt und Regierungen, die sich für die Abschaffung des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus einsetzen, wirtschaftliche und militärische Hilfe gewährt hat. Aber die russische Führung unterstützt diese Regime und einige reaktionäre kapitalistische Regime aus Gründen ihrer eigenen Macht und ihres Prestiges. In Afghanistan selbst unterstützte Moskau die reaktionäre Großgrundbesitzer-Kapitalist*innen-Diktatur von Daoud bis zu ihrem Sturz, woraufhin es prompt dazu überging, das proletarisch-bonapartistische Amin-Regime zu unterstützen.
Die Unterstützung durch die russische Bürokratie stellt darüber hinaus unweigerlich sicher, dass die betroffenen Länder der „Dritten Welt“ ihre antikapitalistische Revolution nach bonapartistischem Vorbild beginnen und Militär-Polizei-Staaten errichten, die alle wesentlichen Merkmale der weiter entwickelten stalinistischen Staaten nachbilden.
International spielt die russische Führung nun eine eindeutig konterrevolutionäre Rolle. Sie könnte nur dann eine wirklich „fortschrittliche”, sozialistische Rolle spielen, wenn sie Parteien oder Bewegungen unterstützen würde, die sich auf eine bewusste, demokratische Mobilisierung der Massen für ein authentisches marxistisches Programm stützen, sowohl in der „Dritten Welt” als auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
In Wahrheit ist die Bürokratie zwar begierig, von oben gelenkte soziale Veränderungen zu unterstützen und Regime ihrer eigenen Art in die Arme zu schließen, aber sie fürchtet bewusste, revolutionäre Massenbewegungen des Proletariats mehr als ihre imperialistischen Rivalen. Die Bürokratie weiß instinktiv, dass die Entwicklung einer internationalen sozialistischen Revolution, die die Isolation der bestehenden stalinistischen Staaten durchbrechen würde, das Ende ihrer bürokratischen Macht und Privilegien bedeuten würde – und die Errichtung einer echten Arbeiter*innendemokratie.
Schreibe einen Kommentar