[eigene Übersetzung des englischen Textes in Socialism Today, Nr. 119, Juni 2008]
The Trillion Dollar Meltdown [Die Eine-Billion-Dollar-Kernschmelze]
Von Charles R. Morris
Veröffentlicht von PublicAffairs, 2008, 13,99 £
Rezensiert von Lynn Walsh
Wütende Aktionär*innen haben auf der Jahreshauptversammlung (27. Mai) der Société Générale das Management beschuldigt, die Bank in ein Kasino zu verwandeln. Société Générale wurde als Ergebnis der Aktivitäten des „Schurkenhändlers“ Jérôme Kerviel von einem Verlust von 50 Mrd. € (79 Mrd. $) getroffen. Für die Aktionär*innen war Kerviel jedoch nur ein Sündenbock – das Produkt der spekulativen Aktivitäten der Bank.
Die gesamte kapitalistische Wirtschaft, besonders in den USA und Großbritannien, gleicht immer mehr einem Kasino. Der Finanzsektor macht nun rund 50% der Konzernprofite aus. Der Schattenbankensektor, der sich aus einer Handvoll unregulierter Hedgefonds und Investmentbanken zusammensetzt, macht nun mehr als die Hälfte aller Kredite aus, während die traditionellen Privatkundenbanken durch ihre unregulierten, „außerbilanzlichen“ Aktivitäten immer mehr in Spekulationsgeschäfte verwickelt sind.
Der Kreditsektor ist seit den 1980er Jahren der am schnellsten wachsende Sektor der Weltwirtschaft. In den frühen 1980er Jahre entsprachen die gesamten Finanzaktiva (Aktien, Anleihen, Kredite, Hypotheken usw.) und alle Forderungen an reale Güter (Immobilien, Unternehmen usw.) in etwa dem weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP). Ende 2005 entsprachen sie dem 3,7-fachen des weltweiten BIP, mit anderen Worten stellen sie nicht nur eine Forderung auf die Produktion des laufenden Jahres, sondern auch auf den besten Teil der Produktion der nächsten drei Jahre dar. In den frühen 1980er Jahre hatten Finanzderivate (Forderungen auf Finanzinstrumente) gerade erst begonnen, sich zu entwickeln. Im Jahr 2005 entsprach ihr gesamter Nominalwert dem Dreifachen des gesamten Finanzvermögens und dem Zehnfachen des weltweiten BIP. In den letzten drei Jahren ist der Finanzsektor im Verhältnis zur Realwirtschaft, die Waren und (nicht-finanzielle) Dienstleistungen produziert, zweifellos noch größer geworden.
Das Finanzwesen wurde durch die Politik und die Gesetzgebung der Regierung in jeder Hinsicht gefördert, mit der Deregulierung der Aktivitäten des Finanzsektors und einer günstigen Steuerpolitik. Historisch niedrige Zinssätze (nach dem Jahr 2000 über 31 Monate lang real negativ) verschafften den großen Zocker*innen kostenloses Geld. Wann immer es eine drohende Instabilität gab, sind Alan Greenspan und jetzt Ben Bernanke mit weiteren Liquiditätsspritzen eingeschritten.
Die Haupttätigkeit der Investmentbanken und Hedgefonds besteht darin, Schulden untereinander zu kaufen und zu verkaufen (und bei jeder Transaktion einen Profit zu machen). Dies ist zweifellos eine Form von Zocken, das auf Kosten der großen Mehrheit der Gesellschaft durchgeführt wird, das den Reichtum von der Mehrheit zu den Reichen – und von den Reichen zu den Superreichen – umverteilt. Zwischen 1980 und 2005 vergrößerte das oberste Zehntel der Steuerzahler*innen seiner Anteil am steuerpflichtigen Einkommen von 34% auf 44%. Aber die größten Zuwächse gab es für das oberste Zehntel von einem Prozent der Bevölkerung, das seinen Anteil am nationalen Bareinkommen von 9% auf 19% steigerte. Das oberste Hundertstel von einem Prozent (15.000 Steuerzahler*innen) hatte ein durchschnittliches Einkommen von 26 Millionen Dollar nach Steuern!
Diese Trends werden in The Trillion Dollar Meltdown (Die Eine-Billion-Dollar-Kernschmelze) eingehend analysiert. Charles Morris ist ein ehemaliger Banker, der eine Karriere im US-Finanzsektor gemacht hat. Er weiß sicherlich, wie das System funktioniert, und gibt einen klaren und präzisen Überblick über die Finanzinfrastruktur und ihr Innenleben sowie eine bissige Darstellung der Entwicklung der US-Wirtschaft in den letzten 25 Jahren. Wenn ihr wissen wollt, wie CDOs (Collateralized Debt Obligations [besicherte Schuldverschreibungen]), CDS (Credit Default Swaps [Kreditausfallversicherungen]), CMBS (Commercial Mortgage Backed Securities [hypothekarisch gesicherte kommerzielle Wertpapiere]) und eine Vielzahl anderer Finanzinstrumente funktionieren, ist dies das richtige Buch für euch. Morris ist kein Antikapitalist, aber sein Buch eignet sich hervorragend als Anweisung für eine Anklage gegen den heutigen Finanzkapitalismus.
Morris sah die Kernschmelze kommen. Sein Buch ging im November 2007 in Druck, nimmt aber bereits die Entfaltung der Bankenkrise jetzt vorweg. Er erkannte, dass die Schaffung von „risikofreien“ Krediten durch eine Reihe von exotischen Finanzinstrumenten eine gefährliche Illusion war. Früher oder später würden die hochriskanten Kredite – der „Giftmüll“, der in verschiedenen CDOs versteckt war – zurückkommen und die Banken treffen, die versucht hatten, die Schulden durch Verbriefung weiterzugeben. Freilich begann die große Abwicklungsphase, die bis heute andauert, als Bear Stearns (im Juni 2007) gezwungen war, zwei seiner Hedgefonds, die in den Subprime-Hypothekenmarkt involviert waren, aufzulösen.
Doch die Subprime-Krise ist nur der Anfang. Morris schätzt die gesamten Subprime-Verluste auf 450 Mrd. $ – was viele Kommentator*innen inzwischen für zu niedrig halten. Er schätzt jedoch weitere potenzielle Verluste von 345 Mrd. $ aus Konzernschulden, vor allem aus verschiedenen Arten von Hochzinsanleihen (Junk Bonds [Ramschanleihen]) und damit verbundenen Finanzinstrumenten. Hinzu kommen mögliche Verluste von 215 Mrd. $ aus verbrieften Kreditkartenschulden und CMBS im Zusammenhang mit der Entwicklung von Gewerbeimmobilien. All dies summiert sich auf die Eine-Billion-Dollar-Kernschmelze.
Aber dies umfasst keine Schätzungen für die potenziellen Verluste aus CDS (Credit Default Swaps), einer Form von Derivaten, mit denen eine Reihe anderer Wertpapiere gegen Ausfallverluste abgesichert werden. Diese Instrumente wurden erst vor kurzem entwickelt, haben aber inzwischen einen unglaublichen Nominalwert von 45 Billionen Dollar. Morris betrachtet CDS als inhärent risikoreich (die Swap-Parteien sind im Falle einer Insolvenz gezwungen, ihre Verträge zu kündigen), so dass im Falle einer Kernschmelze in diesem Sektor kolossale Verluste drohen. Ausfälle auf dem Default-Swap-Markt selbst würden zu massiven Wertabschreibungen bei den zuvor durch CDS versicherten Wertpapieren führen. „Kurzum, wir stünden vor einer völligen Thrombose des Kreditsystems, die ,das Problem der Subprime-Hypotheken wie einen Spaziergang im Park‘ aussehen lassen könnte. Es macht keinen Sinn, auch nur zu versuchen, das Ausmaß der Verluste abzuschätzen“.
Selbst die Vorhersage einer Eine-Billion-Dollar-Kernschmelze ist eine vorsichtige Schätzung. Sie geht von einer „geordneten Korrektur“ der Finanzmärkte aus. Eine krampfartige, chaotische Krise – ein katastrophaler Zusammenbruch des Finanzsystems – könnte Verluste von bis zu 3 Billionen Dollar erzeugen. Dies ähnelt der Schätzung Nouriel Roubinis für die potenziellen finanziellen Verluste, die von vielen Kommentator*innen als absurd hoch abgetan wird.
Eine Abschreibung von Verlusten zwischen 1 und 2 Billionen Dollar würde klar eine große Finanzkrise und einen Wirtschaftseinbruch bedeuten. Morris befürchtet jedoch auch, dass die Finanzkapitalist*innen versuchen werden, ihre Verluste so weit wie möglich zu verbergen, um die Abschreibung wertloser Vermögenswerte hinauszuzögern und einen größeren Ausverkauf zu vermeiden, der zu einem Einbruch der Finanzmärkte führen könnte. Dies, sagt Morris, hat der japanische Kapitalismus getan, als seine eigene Vermögensblase Ende der 1980er Jahre implodierte: „Ein Debakel … in der gleichen Größenordnung wie das gegenwärtige und [ähnlich] im Detail … Statt die Probleme anzugehen, wurden sie von dem engen Netzwerk der etablierten Politiker und Banker vertuscht. Und fast 20 Jahre später hat sich Japan immer noch nicht erholt“.
Morris sieht keinen einfachen Ausweg, sein Szenario ist eine harte Landung, eine Kombination aus Kreditkernschmelze und wirtschaftlicher Rezession. Die US-Immobilienblase, ein wichtiger Faktor für das jüngste Wachstum der US-Wirtschaft, wurde selbst durch eine Flut von relativ leichten Krediten, besonders durch Subprime-Kredite, erzeugt. Der Zusammenbruch des Immobilienbooms hat bereits begonnen, die Verbraucher*innenausgaben, die Hauptantriebskraft des US-Wachstums, zu untergraben. Der US-Kapitalismus rutscht in die Rezession.
Es hat bereits eine große Abschreibungsrunde im Bereich der Subprime-Hypotheken gegeben, die für die Investmentbanken massive Verluste darstellt. Es gibt jedoch kaum Anzeichen für eine Lockerung der Kreditklemme. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie weit sie gehen wird. Aber Morris‘ Vorhersage vom Ende des letzten Jahres könnte sich durchaus bewahrheiten: „Die Bühne für eine wahre Schockwelle von Vermögensabschreibungen im größten Teil des Jahres 2008 ist bereitet. Die weit verbreiteten Ausfälle von Sicherheiten, besonders bei den Kredit-Hedgefonds, werden Zwangsverkäufe von Einschusskonten auslösen. Rollende Herabstufungen werden Veräußerungen durch Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften erforderlich machen, die plötzlich im Widerspruch zu Vorschriften zum Halten von Investment-Grade-Papieren stehen. Die Inhaber von vorrangigen CDO-Tranchen werden ihre Bestände liquidieren, da sich der Kreditschutz auflöst, wozu sie das Recht haben. Wenn dann auch noch die Monoliner und die Kreditversicherungsmärkte auch nur etwas schlechte Ergebnisse haben, wird das globale Finanzsystem in einer Katastrophe sein.“
In seiner Analyse der gegenwärtigen Krise sagt Morris: „Es erstaunt, dass wir so weit gekommen sind“. Er beschreibt gekonnt die unmittelbaren Ursachen: die Flut billiger Kredite, die Deregulierung der Finanzmärkte und die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie, die die Entwicklung der Verbriefung und des globalen Handels erleichtert haben. Aber die „Exzesse“ der Blasenwirtschaft führt er einfach auf den übermäßigen Pendelausschlag von der liberal-keynesianischen Periode vor 1980 zum freien-Markt, zum monetaristischen Konsens der Folgeperiode zurück. Doch welche wirtschaftlichen und sozialen Kräfte lagen diesen Trends zugrunde?
Morris verweist auf das Oszillieren des politisch-ideologischen Zyklus – vom keynesianischen/liberalen Paradigma der 1960er und 1970er Jahre zum Finanzkapitalismus (des ultra-freien Marktes) der Chicagoer Schule, der sich ab den frühen 1980er Jahren entwickelte. Zweifellos gab es eine ideologisch-politische Verschiebung der herrschenden Klasse. Aber Morris macht keinen Versuch, seine Erklärung in einer Analyse des sich verändernden Kräfteverhältnisses der Klassen und der Dynamik der kapitalistischen Produktion zu verwurzeln.
Der Nachkriegsaufschwung klang, laut Morris, aufgrund eines Übermaßes an staatlicher Intervention und Regulierung aus. Er lobt die Politik des Vorsitzenden der Federal Reserve, Paul Volcker, der 1980 die Inflation aus dem System drückte und eine Phase positiver (zeitweise hoher) Realzinsen einleitete. Dies begünstigte Banker*innen und Kreditinstitutionen. Die Veränderungen der Reagan-Ära, einschließlich der weitreichenden Deregulierung des Finanzwesens (die unter Clinton fortgesetzt wurde), ebneten den Weg für die boomende „Goldlöckchen“-Wirtschaft (nicht zu heiß, nicht zu kalt) der USA Mitte der 1990er Jahre. Morris erkennt jedoch an, dass der Rückgang der Verbraucher*innenpreisinflation von einer rasant steigenden Inflation der Vermögenspreise begleitet wurde. Die Kapitalist*innenklasse hortete zunehmend Geld und suchte Profit durch Finanzspekulationen.
Diese Entwicklung spiegelte jedoch mehr wider als neue Technologien und einen Wandel in der Regierungspolitik. Der Rückgang der Produktivität und der Profite am Ende des Nachkriegsaufschwungs spiegelte den Umstand wider, dass der Kapitalismus, der durch das Privateigentum an den Produktivkräften und den Rahmen des Nationalstaates eingeschränkt war, an die Grenzen seiner Fähigkeit zur Entwicklung der Produktivkräfte stieß. Die Kapitalist*innen wandten sich mehr und mehr von der Produktionstätigkeit ab und der Finanzspekulation zu. In den 1980er und 1990er Jahren haben die Kapitalist*innen ihre Profitabilität durch verstärkte Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse gesteigert, während gleichzeitig die Kapitalinvestitionen auf ein historisch niedriges Niveau zurückgefallen sind. Eines der Merkmale der jüngsten Blase waren die riesigen Bargeldüberschüsse vieler Konzerne, die entweder durch Gehälter und Aktienoptionen von Führungskräften abgeschöpft oder in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen an die Aktionär*innen zurückgegeben wurden. „Profite waren während des größten Teils der 2000er Jahre sehr hoch, und die Investitionsausgaben waren gering …“ Diese überschüssigen, nicht investierten Profite sind eine der Hauptquellen für die Geldflut, die in den Finanzsektor geflossen ist. Gleichzeitig wurden die Überschüsse der großen Exporteur*innen wie China, Japan und der Erdöl exportierenden Länder auch in die Finanzmärkte der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder gelenkt.
Morris verweist auf „die extreme Bedeutung der Finanzdienstleistungen im amerikanischen Wirtschaftswachstum“ als den Schlüsselfaktor bei vielen der von ihm beschriebenen Entwicklungen. Aber es ist die zugrundeliegende organische Krise der kapitalistischen Akkumulation, die letztlich die Entwicklung der Blasenwirtschaft und ihre grotesken Auswüchse erklärt.
Der „Anti-Regulierungs-Eifer“ der letzten 25 Jahre sei zu weit gegangen, sagt Morris. Wie einige andere Strateg*innen der herrschenden Klasse in den letzten Monaten lehnt er nun die Vorstellung ab, dass die Märkte immer Recht hätten und alle Probleme lösen würden. Die Subprime-Krise (die sich an eine ganze Reihe von Finanzkrisen und -skandalen anschließt) untergräbt die Glaubwürdigkeit des US-Marktsystems. Die jüngsten Ereignisse mögen die „letzten Atemzüge des rohen Marktes des Finanzkapitalismus Marke Chicagoer Schule“ darstellen…“ Die Einschränkung der Rolle des Staates ist, sagt er, zu weit gegangen: „Der heimische öffentliche Sektor in den Vereinigten Staaten wurde verarmt und korrumpiert, und wir zahlen einen Preis dafür … Wir müssen ein gewisses Gleichgewicht wiederherstellen. Die allererste Priorität wird die Wiederherstellung einer wirksamen Aufsicht über die Finanzwirtschaft sein“.
„Meine persönliche Überzeugung ist, dass die Verschiebung von einem regierungszentrierten Stil des Managements zu einem mehr marktgetriebenen in den 1980er Jahren ein entscheidender Faktor für die Erholung der amerikanischen Wirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren war. Aber das Ausmaß des aktuellen Finanzcrashs deutet darauf hin, dass wir den Punkt erreicht haben, wo der Marktdogmatismus zum Problem und nicht zur Lösung geworden ist. Und nach einem Vierteljahrhundert ist es an der Zeit, dass das Pendel in die andere Richtung ausschlägt“.
Der historische Wandel, der Übergang von einer Periode zur anderen, verläuft jedoch nicht glatt wie das Schwingen eines Pendels. Es ist nicht einfach eine Frage, dass die Kapitalist*innenklasse ein ideologisch-politisches Paradigma aufgibt und ein anderes annimmt. Die Strateg*innen des Kapitals haben wirklich keine Ahnung, wie sie einen Ausweg finden können. Kapitalistische Regierungen mögen sich vielleicht wieder der Idee der Regulierung zuwenden, aber das wird das System, das organisch krank ist, nicht heilen. Eine große internationale Krise des Kapitalismus wird zu erschütternden Ereignissen und Umwälzungen führen. Und sie werden einer Massenrevolte der Arbeiter*innenklasse, der armen Bäuer*innen und der Besitzlosen gegenüber stehen, die durch die Superausbeutung durch das Finanzkapital verarmt sind.
Schreibe einen Kommentar