Lynn Walsh: Was niedrige Ölpreise die Weltwirtschaft kosten

[eigene Übersetzung des englischen Textes in Socialism Today, Nr. 187, April 2015]

Die Schieferölrevolution in den USA und Kanada hat zu einer weltweiten Ölschwemme geführt – und zu einem Einbruch der Investitionen in kostenintensive Ölfelder. Die niedrigeren Ölpreise haben dem Wirtschaftswachstum in den USA und in Ölimportländern wie der EU, Indien und Japan einen Schub gegeben, aber Ölproduzent*innen wie Russland, Nigeria und Venezuela in die Krise gestürzt. Sie haben die Opec gespalten und die Konkurrenz zwischen Ölimporteur*innen und -exporteur*innen verschärft. Weit davon entfernt, ein uneingeschränktes Plus zu sein, hat der plötzliche Absturz der Öl- und Gaspreise die Unbeständigkeit der kapitalistischen Weltwirtschaft deutlich gemacht. Lynn Walsh schreibt.

Der Ölpreis ist seit letztem Sommer von über 100 Dollar pro Barrel auf etwa 50 Dollar pro Barrel gefallen. In der Vergangenheit wäre dies unter den Kapitalist*innen ein Grund zum Feiern gewesen. Historisch wurde billiges Öl und Gas mit Wachstumsperioden der Weltwirtschaft verbunden. In der Tat hat auch in den letzten Monaten das billige Öl den großen Volkswirtschaften, insbesondere den USA, Auftrieb gegeben. Die schwache Erholung seit der Finanzkrise von 2007-09 hat etwas zusätzlichen Auftrieb erhalten.

Doch das Feiern ist gedämpft. Während die Importeur*innen von den niedrigen Öl- und Gaspreisen profitieren, vor allem, wenn sie über mehrere Jahre hinweg anhalten, bedeuten sie eine Krise für Staaten, die auf die Öleinnahmen angewiesen sind, um ihre Staatsausgaben zu bestreiten, z. B. Russland, Nigeria, Venezuela, Iran usw. Insgesamt könnte der fallende Ölpreis einen Transfer von 1,5 bis 2 Billionen Dollar von den Ölexporteur*innen zu den Ölimporteur*innen bedeuten. Der Absturz des Ölpreises verschiebt die geopolitischen Beziehungen, da einige Produzent*innen geschwächt werden, was unvorhersagbare Auswirkungen hat.

Wenn er zum Importieren von Öl zurückkehrt, wird die Macht des US-Imperialismus international geschwächt. Es wird verschärfte Konkurrenz zwischen den Erdölexporteur*innen geben. Niedrigere Preise bedeuten eine Einschränkung der Ölexploration und der Investitionen in Hochkostengebiete wie die Schieferölfelder in den USA und Großbritanniens Nordseeölfelder. Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten ist die Ölförderung in Hochkostengebieten nicht mehr rentabel, wenn der Ölpreis unter etwa 80 $ pro Barrel fällt.

Dies hat bereits zu einem Rückgang der Investitionen, zu Arbeitslosigkeit im Energiesektor und zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in den zuletzt boomenden Ölfeldern geführt. Unter dem Strich, sagt Janet Yellen, Chefin der US-Notenbank, sind die niedrigeren Ölpreise für die US-Wirtschaft „insgesamt ein bedeutsames Plus“. Der Durchschnittshaushalt in den USA wird 2015 aufgrund des billigeren Öls 750 Dollar gegenüber 2014 einsparen und so verfügbares Einkommen gewinnen. Doch die ungewissen Auswirkungen auf internationaler Ebene machen vielen führenden kapitalistische Vertreter*innen und Strateg*innen eine Heidenangst.

Angebot und Nachfrage

Warum ist der Ölpreis so stark gefallen? Es entstand aus einer Kombination aus gestiegenem Angebot und gesunkener Nachfrage. Der IWF (WEO Update, Januar 2015) schätzt, dass der Preisfall zu 60% an gestiegenem Angebot und zu 40% an gesunkener Nachfrage liegt.

Das gestiegene Angebot kommt hauptsächlich aus den USA und Kanada, aus der Erschließung von Schieferöl. Ermöglicht wurde dies durch neue Technologien – horizontale Bohrungen und Fracking-Techniken. Das Fracking (Hydraulisches Fracturing) beinhaltet das Pressen von Wasser und Chemikalien mit hohem Druck in unterirdische Gesteinsschichten, um Öl oder Gas herauszupressen. Viele der neuen Techniken wurden durch langfristige Forschungs- und Eentwicklungs-Investitionen des US-Energieministeriums entwickelt (siehe: Behind the Drop in Oil Prices, the Hand of Washington [Hinter dem Fall in Ölpreisen die Hand von Washington], „International New York Times“, 22. Januar 2015). Als Antwort auf die Einschränkung der US-amerikanischen Ölversorgung durch die Staaten der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) in den Jahren 1973 und 1979 sahen die USA das Erreichen von Energieselbstversorgung als dringend notwendig an. Die USA und die großen Ölkonzerne, die die neuen Techniken übernommen haben, haben Einwände gegen die Umweltzerstörung durch Fracking und andere zerstörerische Methoden beiseite geschoben.

Massive Investitionen in die Erschließung von Schieferöl führten zu einem sprunghaften Anstieg der Produktion in den USA und Kanada. Die Ausbeutung von Schieferöl hat die US-Produktion seit 2012 um drei Millionen Barrel pro Tag (3mpd) erhöht. Auch die kanadische Schieferölproduktion ist um eine Million Barrel pro Tag gestiegen. Ende 2014 lag die US-Ölproduktion um 80% höher als im Jahr 2008.

Mit dem derzeitige Fall des Ölpreises wird es jedoch wahrscheinlich einen scharfen Fall der Investitionen in die Exploration und neue Bohrungen führen. Dies hat bereits zur Schließung von Ölfeldern und zum Abbau von Arbeitsplätzen in US-Bundesstaaten wie Texas, North und South Dakota usw. geführt. Die Förderung aus den bereits erschlossenen Feldern wird noch einige Jahre lang anhalten. Nach vier oder fünf Jahren werden der derzeitige Einbruch bei der Exploration und Förderung von Schieferöl und der Rückgang der Produktion jedoch wieder zu einem Anstieg der Ölpreise führen.

Vor ein paar Jahren behaupteten viele Kommentator*innen, dass die „Fracking-Revolution“ einen neuen Boom in den USA auslösen würde. So veröffentlichte beispielsweise Charles Morris sein Buch „Comeback: America’s New Economic Boom“ [Comeback: Amerikas neuer Wirtschaftsboom] (2013). Sie hat jedoch kaum mehr getan, als eine schwache, ungleichmäßige „Erholung“ zu unterstützen. Konjunkturelle Trends halten obendrein nicht ewig an. Jetzt hat die Schieferölförderung zumindest für eine gewisse Periode ihre Grenzen erreicht. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Investitionszyklus in der Öl- und Gasproduktion einerseits und dem Investitionszyklus in der Gesamtwirtschaft andererseits – ein Widerspruch, der in einer anarchischen kapitalistischen Wirtschaft niemals überwunden werden wird.

Der Anstieg der Ölproduktion fiel mit einem starken Rückgang der Nachfrage zusammen. Dies ist vor allem auf eine Verlangsamung bei den großen Ölimporteur*innen, insbesondere China, sowie den so genannten „Schwellenländer“ (halb entwickelte Volkswirtschaften) zurückzuführen. So erwartet der IWF für China in diesem Jahr ein Wachstum von weniger als 7%, verglichen mit einem Wachstum von noch 10 bis 12% pro Jahr vor einigen Jahren. Das Beinahe-Null-Wachstum in Japan, der EU und anderswo hat die Nachfrage nach Öl ebenfalls verringert (im Unterschied dazu hat das billigere Öl das Wachstum in Indien, einem großen Ölimporteur, angekurbelt. Für dieses Jahr wird ein BIP-Wachstum von über 6% erwartet, verglichen mit 5% im Jahr 2013).

Dieses Zusammentreffen von höherer Ölproduktion und geringerer Nachfrage hat zu einer Schwemme auf dem internationalen Ölmarkt geführt – in Höhe von 1,5 bis 2 Mrd. Barrel pro Tag.

Ölgigant*innen streichen Investitionen zusammen

„Überall auf der Welt kürzen die Ölkonzerne ihre Budgets, senken die Ölkosten, verlangsamen ihre Projekte und vertagen neue“. (Daniel Yergin, Who Will Sink the Oil Market? [Wer wird den Ölmarkt versenken?] „New York Times“, 23. Januar 2015) Als das Öl über 100 Dollar pro Barrel stand, machten die Ölgiganten Superprofite – jetzt, da die Profite zusammengepresst werden, kürzen sie rücksichtslos ihre Investitionen und entlassen Arbeiter*innen. Es sind nicht nur die Schieferölbohrungen, die aufgegeben werden, sondern auch Neuinvestitionen in anderen kostenintensiven Sektoren wie Tiefsee- und Arktisfelder. Yellen sagt, dass billigeres Öl ein „bedeutendes Plus“ für die US-Wirtschaft sei, aber die Kürzungen haben verheerende Auswirkungen auf die Bundesstaaten (insbesondere Texas und die Dakotas), die die Hauptgebiete der Schieferölbohrungen waren. Insgesamt nimmt die Beschäftigung in den USA langsam zu, aber im Energiesektor gibt es enorme Arbeitsplatzverluste: Stellenabbau von 20.193 im Januar, von 16.339 im Februar.

Es gibt eine ähnliche Lage in Großbritannien. Im Nordseebecken waren Produktion und Investitionen bereits vor dem Einbruch des Ölpreises rückläufig. Die Felder in der Nordsee sind langsam erschöpft. Oil and Gas UK, ein Verband von Offshore-Betreiber*innen, sagt: „Ein Fünftel der Produktion oder ein Drittel der Felder ist jetzt unrentabel. Die Barverluste, d. h. die Defizite nach Abzug der Kosten von den Einnahmen, beliefen sich im vergangenen Jahr auf über 5 Mrd. £, der größte Fehlbetrag seit den 1970er Jahren. („Financial Times“, 25. Februar 2015) Es wird erwartet, dass die Investitionen im britischen Teil der Nordsee von 19,2 Milliarden Dollar im Jahr 2014 auf 10,8 Milliarden Dollar im nächsten Jahr zurückgehen werden. Der Energiesektor in Großbritannien macht rund 450.000 Arbeitsplätze aus, von denen nun Tausende bedroht sein werden.

BP und Conoco haben in den letzten Wochen Entlassungen angekündigt, und es werden noch mehr kommen. Shell, die britisch-niederländische Ölfirma, kündigte kürzlich an, dass es seine Investitionen in den nächsten drei Jahren um 50 Milliarden Dollar zu kürzen werde.

Opec-Spaltung

Es gibt Druck auf die Opec, besonders von Nigeria und Venezuela, ihre Förderung zu senken (indem die Mitglieder sich auf niedrigere Förderquoten einigen) und damit die Preise anzuheben. Russland, das nicht Mitglied der Opec ist, fordert ebenfalls Produktionsbeschränkungen (obwohl sich Russland in früheren Episoden des Überangebots geweigert hat, die Produktion gemeinsam mit den Opec-Mitgliedern zu kürzen). Historisch gesehen war dies die Politik der Opec. So verhängte die Opec 1973 ein Ölembargo gegen die großen kapitalistischen Volkswirtschaften, was zu einer Vervierfachung der Ölpreise führte. Dies war zum Teil ein Protest gegen die Unterstützung der Westmächte für Israel im arabisch-israelischen Krieg (6.-25. Oktober 1973). Es war auch ein Versuch, die realen Öleinnahmen wiederzuerlangen, die durch die Inflation und insbesondere durch den Wertverlust des Dollars (in dem die Ölpreise gerechnet werden) drastisch gesunken waren. In der jüngeren Periode hat die Opec jedoch allgemein mit den USA und anderen führenden kapitalistischen Mächten zusammengearbeitet, um einen Preis festzulegen, der als Ausgleich zwischen den Interessen der Produzent*innen und der Verbraucher*innen angesehen wurde und ein stetiges Wachstum der Weltwirtschaft fördert.

Jetzt gibt es eine tiefe Spaltung innerhalb der Opec. Sie funktioniert nicht mehr als ein einheitliches Kartell. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait, die zusammen etwa die Hälfte der Opec-Produktion ausmachen, weigern sich, ihre Produktion zu senken. Dies bedeutet eine drastische Änderung der von der Opec in der Vergangenheit verfolgten Politik. Die Produktionskosten für arabisches Öl sind niedriger als bei den meisten anderen Produzent*innen. Die Förderung von saudischem Öl kostet weniger als 10 Dollar pro Barrel, während Schieferöl je nach den örtlichen Gegebenheiten zwischen 30 und 90 Dollar pro Barrel kostet. Das saudische Regime braucht einen Preis von 80 Dollar, um seinen Staatshaushalt auszugleichen, verfügt aber über Reserven von 750 Milliarden Dollar, auf die es zurückgreifen wird, um seine Preispolitik aufrechtzuerhalten. Würden Saudi-Arabien und seine Verbündeten die Produktion drosseln und die Preise erhöhen, würden sie dazu beitragen, die Produktion in Gebieten mit viel höheren Produktionskosten aufrechtzuerhalten. In diesem Fall würden sie unweigerlich Marktanteile verlieren. Daher ziehen sie es vor, eine Zeit lang Verluste hinzunehmen, um die Preise niedrig zu halten und ihren Anteil am Weltölmarkt zu erhöhen.

Der saudische Ölminister Ali al-Naimi hat diese Politik ziemlich klargemacht: „Es liegt nicht im Interesse der Opec-Produzenten, ihre Produktion zu drosseln, egal wie hoch der Preis ist. Was passiert mit meinem Marktanteil, wenn ich ihn reduziere? Der Preis wird steigen, und die Russen, die Brasilianer und die amerikanischen Schieferölproduzenten werden meinen Anteil nehmen“.

Dies ist eine Politik für Niedrigkostenproduzent*innen wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait mit großen Reserven, die sie durch eine Zeit niedriger Preise tragen. Für Exporteur*innen wie Russland, die viel höhere Produktionskosten haben und auf einen hohen Ölpreis angewiesen sind, um ihren Haushalt auszugleichen, sind mehrere Jahre niedriger Preise jedoch eine Katastrophe.

Die russische Wirtschaft ist durch den Einbruch des Ölpreises in eine Krise geworfen worden. Große Unternehmen, allen voran die Öl- und Gasgigant*innen, stehen Schlange, um vom Staat gerettet zu werden. Der Staat hat zwei Staatsfonds in Höhe von insgesamt 150 Milliarden Dollar und Devisenreserven von 360 Milliarden Dollar. Doch diese rasch zur Neige gehenden Mittel werden zur Stützung des abstürzenden Rubels, zur Rettung strauchelnder Unternehmen, zur Aufstockung des Staatshaushalts (einschließlich der Zahlung von Renten) und zur Rettung großer Infrastrukturprojekte herangezogen. Gleichzeitig erhöhen die von den westlichen Mächten wegen der Ukraine verhängten Sanktionen die Belastung der Wirtschaft, die auf einen Einbruch zuzusteuern scheint.

Aussichten?

Billiges Öl wird die Weltwirtschaft nicht aus der Flaute holen und beschleunigtes Wachstum vorantreiben. Das billigere Öl hat den ölimportierenden Volkswirtschaften einen begrenzten Schub gegeben. Aber selbst der fallende Ölpreis wurde durch den steigenden Wert des Dollars gegenüber den schwächeren Währungen vieler Importeur*innen gedämpft. „Für viele Importeure wird der Impuls aus den niedrigeren Ölpreisen – obwohl er beträchtlich ist – durch die jüngste Währungsabwertung gegenüber dem US-Dollar etwas gedämpft, was einen geringeren Ölpreisrückgang in heimischer Währung bedeutet“. (IWF, WEO Update, Januar 2015)

Obendrein haben die gesunkenen Öl- und Gaspreise (die sich durch Transport, Lagerung usw. auf eine Vielzahl von Preisen auswirken, insbesondere auf Lebensmittel) den Trend zur Disinflation (eine allgemeine Verlangsamung des Preisanstiegs) und Deflation (eine Tendenz zu sinkenden Preisen) verstärkt. Diesen Trend, die die großen Zentralbanken erfolglos umzukehren versuchen, wirkt sich negativ auf die Investitionen und die Verbraucher*innennachfrage aus. Die Tatsache, dass die US-Notenbank eine Zinserhöhung erneut verschoben hat, zeigt, dass die US-Behörden noch lange nicht davon überzeugt sind, dass der Aufschwung in den USA einen sich selbst tragende Schwung erreicht hat.

Es gibt immer noch Unbeständigkeit auf den globalen Finanzmärkten, und insbesondere die quantitative Lockerung hat in den USA, Großbritannien und anderswo Immobilien- und Vermögensblasen entstehen lassen. Nun wird die Einführung von quantitativen Lockerungsmaßnahmen durch die Europäische Zentralbank, die eine minimale Wirkung bei der Ankurbelung von Wachstum haben werden, erneut die Möglichkeit von Finanzblasen bringen. Der Absturz des Ölpreises ist für die Kapitalist*innen international eindeutig ein gemischter Segen. Dies wird im WEO-Update (Januar 2015) anerkannt: „Die beträchtliche Unsicherheit über die Entwicklung des Ölpreises in der Zukunft und die dem Preisrückgang zugrunde liegenden Faktoren hat den globalen Wachstumsaussichten eine neue Risikodimension hinzugefügt“.


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