August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 994, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 13, 29. März 1889, S. 5 f.]

:: Aus Norddeutschland, 26. März. Die Aufregung über das Verbot der Berliner „Volkszeitung“ rumort in der Presse weiter und die Antwort, welche der Minister des Innern auf eine Anzapfung von freisinniger Seite im preußischen Abgeordnetenhause gab, hat die Stellung der Regierung nicht verbessert. Der Minister lehnte es ab, wie sein Vorgänger Herr v. Puttkamer in einem ähnlichen Falle tat, wo ein freisinniges Blatt auf Grund des Sozialistengesetzes unterdrückt worden war, direkt einzugreifen und das Verbot aufzuheben. Er versteckte sich hinter die Reichskommission, die in der Sache zu entscheiden habe. Der Minister handelte schlau, er mag sich nicht die Finger verbrennen, er wagte nicht die „Volkszeitung“ ein sozialistisches Blatt zu nennen, was überhaupt keiner der Redner der Rechten, die in die Debatte eingriffen, zu sagen wagte, er sagte aber auch nicht das Gegenteil. Die Reserve des Ministers ist erklärlich, er weiß so genau wie wir, dass das Verbot der „Volkszeitung“ auf direktes Eingreifen des Kaisers erfolgte. Der Kaiser ist ein sehr tatenlustiger Herr mit ausgeprägt reaktionärer Gesinnung, den das Verhalten der „Volkszeitung“ längst furchtbar ärgerte, namentlich gewisse Artikel, welche dieselbe in der letzten Zeit brachte. Da man dem Blatte strafrechtlich nicht an den Leib konnte – ein Strafantrag auf Verfolgung des Blattes wegen Beleidigung des Andenkens des verstorbenen Kaisers Wilhelm zu stellen, soll die Witwe desselben, wie die Tochter, die Großherzogin von Baden, abgelehnt haben – musste das Sozialistengesetz herhalten, koste es was es wolle. So verfiel das Blatt seinem Schicksal. Nun geht die ungesetzliche Handlungsweise des Berliner Polizeipräsidiums sogar so weit, jede weitere Fortsetzung von vornherein zu verbieten und zu drohen, behufs dieses das Lokal Tag und Nacht polizeilich besetzt zu halten.

Der Sozialdemokratie konnte kein größerer Gefallen geschehen, wie die Unterdrückung der „Volkszeitung“ in diesem Augenblick – so bedauerlich an und für sich das ungerechte Verbot ist – wo das neue Sozialistengesetz wieder auf der Bildfläche erscheint. Das Verbot hat der gesamten Presse gezeigt, welche Gefahren ihr drohen. Das Geschnatter ist auf einmal groß im kapitolinischen Gänsestall und es scheint, das der Versuch, die Bestimmungen des Sozialistengesetzes erweitert in das Strafrecht und das Presserecht einzuführen, wie das nach einem jetzt dem Bundesrat vorliegenden Gesetzentwurf geschehen soll, keine Aussicht auf Erfolg im Reichstag haben wird. Die große Hure am Rhein, die „Köln. Zeitung“, erhebt bereits einen sehr nachdrücklichen Protest, obgleich die Bundesratsvorlage erst in sehr unbestimmten Umrissen bekannt geworden ist, gegen die Annahme derselben. Und die „Köln. Zeitung“ ist ein guter Barometer für die Stimmung, die selbst tief auf der rechten Seite der National-Liberalen vorhanden ist. Die Herren haben auch alle Ursache sich vorzusehen. Die Stimmung an der entscheidendsten Stelle ist einfach unberechenbar und so wissen sie nicht, wie weit die kautschukartigen Bestimmungen eines Gesetzes gegen sie selbst in Anwendung kommen möchten.

In Deutschland die Ruhe des Friedhofs herzustellen, auf dem höchstens nur noch das byzantinische Geheul der servilsten Kriecher und Schmeichler laut werden darf, ist der höchste Herzenswunsch einflussreicher Kreise. Da wird’s selbst dem mattherzigsten Liberalismus vor der Zukunft bange.

Diese Umstände geben der diesmaligen Beratung der ausnahmegesetzlichen Bestimmungen ein besonderes Gepräge. Die übrigen Parteien sind nunmehr, wo ihre eigene Haut in Gefahr ist, gezwungen, aus der Reserve herauszutreten und eine Oppositions-Stellung einzunehmen. Das Ende wird deshalb doch die Opferung der Sozialdemokratie sein. Musste man der Regierung in einer Anzahl ihrer Herzenswünsche entgegentreten, so wird man sich um so mehr verpflichtet halten, ihr den eigentlichen Sündenbock zu überliefern. Die Verlängerung des gegenwärtigen Sozialistengesetzes ohne Zeitbeschränkung wird der Preis sein, um den sich die Majorität mit der Regierung wieder versöhnt. So wird’s kommen, dass in demselben Augenblick das Sozialistengesetz eine dauernde Reichsinstitution wird, wo es nach den feierlichsten Versicherungen bei Inaugurierung der sogenannten Sozialreform durch die Krönung dieses Werkes mit der Alters- und Invalidenversicherung überflüssig werden und abgeschafft werden sollte. So gründlich haben sich also unsere Staatsweisen verrechnet, dass sie heute mehr denn je zuvor den dauernden Bestand des Sozialistengesetzes für den Ausfluss höchster Staatsräson halten und sich ihren Staat ohne diese ausnahmegesetzliche Verzierung gar nicht mehr denken können. Der Partei, die darunter leiden muss, gereicht diese Tatsache nur zur Ehre. Es wird damit in offiziellster Form zugestanden, dass die Partei den zehnjährigen Kampf mit dem Ausnahmegesetz siegreich bestanden hat, dass alle Hoffnungen auf ihre Schwächung oder ihren Verfall, oder auf die Aussöhnung der Massen mit der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zunichte geworden sind. Die Fortdauer des Sozialistengesetzes ist die offizielle Anerkennung der unverwüstlichen Lebenskraft der Partei, die entschlossen ist, den Kampf zu führen wie sie ihn bisher geführt hat.

Es begreift sich, das da unsere Gegner von einer Art Melancholie befallen werden, denn nichts ist für den Menschen wie für ganze Parteien niederdrückender als zu sehen, das alle Anstrengungen, die sie für ein gewisses Ziel unternommen hatten, mit eben so vielen Niederlagen endigten. Kämpfen müssen mit der Überzeugung, dass schließlich aller Kampf nutzlos ist und der Sieg des verhassten Gegners nur eine Frage der Zeit ist, das wirkt lähmend und erschlaffend auf die stärkste Kraft und den besten Willen.

Über den Inhalt der neuen ausnahmesgesetzlichen Vorlage wollen wir’s uns heute noch nicht auslassen. Was über sie verlautet. charakterisiert sie zwar als ein echtes Kind ihrer Väter – wovon von vornherein kein Zweifel bestand – die Nachrichten über ihre Fassung sind aber noch zu unbestimmt, auch soll der Justizausschuss des Bundesrats das Kindlein noch unter seine Besichtigung nehmen und da wollen wir abwarten, welche Gestalt dieser dem Wechselbalg gibt. –

Aus den Ostprovinzen, wo in Folge der Massenausweisung der russisch-polnischen und österreichisch-polnischen Arbeiterschaft vor drei Jahren, und in Folge der Massenauswanderung der eingeborenen Arbeiterbevölkerung, Arbeiternot herrscht, kommt der Vorschlag, chinesische Kulis einzuführen. Dieser Vorschlag hat die gesamte deutsche Arbeiterschaft alarmiert, und sollte der Plan Verwirklichung finden, dann würde ein gewaltiger Entrüstungssturm durch ganz Deutschland brausen. Dem ersten Versuch müsste mit aller Macht seitens der deutschen Arbeiter entgegengetreten werden. Von dem Osten würden sich die Kulis sehr rasch nach dem Westen in die Zuckerfabriken und auf die großen Güter und schließlich auch in die Städte verbreiten, und die Lohnkämpfe nähmen eine bisher nicht gekannte Gestalt an. Das eigene Interesse gebietet den herrschenden Klassen es mit der Konkurrenz der gelben Asiaten nicht zu versuchen, die Sozialdemokratie würde die Landbevölkerung im Sturm erobern.

In der Partei werden die Wahlvorbereitungen mit einem Eifer betrieben, als stünden die Wahlen morgen vor der Türe. Die Wahlvereine wachsen wie Pilze aus dem Boden und überall geht man an die Aufstellung der Kandidaten. Dieser Eifer beunruhigt die Gegner, welche die Nachricht verbreiten, die Wahlen seien dieses Jahr nicht zu erwarten. Das ist offiziöser Schwindel. Für die Wahrscheinlichkeit der Wahlen im Herbst sprechen die Aufgaben, die man noch durch diesen Reichstag erledigen lässt, dafür spricht ferner die höchst ungünstige Zeit für die Wahlen im Februar, wo sämtliche Landtage zu tagen gezwungen sind.

Die Lohnbewegung unter den verschiedenen Arbeiterbranchen ist so lebhaft, das es schwer fällt, den Vorgängen im Einzelnen zu folgen. Die Arbeiter gehen überall mit großer Besonnenheit vor; sie erwägen genau, was sie zu erreichen imstande sind, ehe sie zur Arbeitseinstellung schreiten. Auch sind bis jetzt nirgends Dinge vorgekommen, die behördliches Eingreifen ermöglichten, obgleich die Polizei zur Wahrung der Unternehmerinteressen überall auf der Lauer steht.

Endlich hat auch der geplante Monster-Sozialisten-Geheimbundsprozess in Wuppertal greifbare Gestalt gewonnen. Den 128 Angeklagten ist die gedruckte Anklageschrift, die 125 Folioseiten umfasst, zugestellt worden. 403 Personen sind als Zeugen geladen. Der Prozess dürfte 6–8 Wochen in Anspruch nehmen und die Kosten werden so kolossale sein, dass die Verurteilten nur ruhig ihren Bankrott ankündigen können. Das Resultat des Prozesses dürfte mit den Folgen im ärgsten Widerspruch stehen und auch den begeistertsten Anhängern des Sozialistengesetzes die Absurdität desselben klar machen. Es werden Handlungen als Geheimbündelei bestraft, die in ihren Zielen durchaus gesetzlicher Natur sind, aber durch die Handhabung des Sozialistengesetzes unter die Oberfläche getrieben wurden.


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