[Nr. 998, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 15, 12. April 1889, S. 5]
:: Aus Norddeutschland, 2. April*). Die öffentliche Aufmerksamkeit, namentlich die der Arbeiterklasse, ist im Augenblick hauptsächlich auf die Verhandlungen des Reichstags über das Alters- und Invalidenversorgung-Gesetz gerichtet, die am Freitag begonnen haben. Zu dem vorliegenden Entwurf der Kommission hat die sozialdemokratische Fraktion eine große Zahl von Verbesserungsanträgen gestellt, die aber alle dass gemeinsame Schicksal teilen werden, keine Annahme zu finden. Die Regierung und die Mehrheit der Kommission haben sich auf Grund dess Kommissionsentwurfs verständigt und die Mehrheit des Reichstags wird, von kleinen Verbesserungen abgesehen, diese Verständigung respektieren. Zunächst beantragten unsere Gesinnungsgenossen im Reichstag, unter das Gesetz auch die selbstständigen Handwerker und alle Unternehmer mit einem Jahresverdienst oder Einkommen bis zu 2000 Mk, zu stellen, da diese zum großen Teil finanziell in keiner besseren Lage seien, als die Arbeiter, und zu den Lasten der indirekten Steuern, aus welchen das Reich für jeden Kopf eines Alters- oder Invalidenrentners 50 Mark per Jahr beisteuern soll, ebenso gut beitrügen als die Arbeiter. Dieser Antrag wurde nach verschiedenen Komplimenten vom Regierungstisch, von wo aus man seine Berechtigung anerkennt, aber mit Rücksicht auf seine „nicht näher zu übersehende Tragweite“ entschieden abriet ihm beizustimmen, am Sonnabend, nach zweitägiger Debatte abgelehnt. Weiter beantragten unsere Gesinnungsgenossen, die Altersgrenze für den Bezug der Altersrente vom 70. auf das 60. Jahr zu ermäßigen. Der Antrag wurde mit Hinweis auf die große Sterblichkeit der Arbeiter im früheren Lebensalter begründet und dafür ein ausgiebiges statistisches Material beigebracht, aus dem hervorging, das selbst bei dem Beginn der Altersrente mit dem 60. Lebensjahr von hundert Arbeitern nur höchstens vier diese Grenze erreichten. Von konservativer und von liberaler Seite lagen drei Anträge vor, die Altersrentengrenze auf 65 Jahre herabzusetzen. Man konnte sich auch dort nicht verhehlen, das die 70 Jahre festhalten heiße, die Altersversorgung zur „reinen Dekoration“ zu machen, wie ein konservativer Abgeordneter in der heutigen Sitzung selbst hervorhob. Trotz alledem fiel schließlich nicht bloß der Antrag unserer Genossen, sondern auch jener auf 65 Jahre.
Die weiter gestellten Anträge bewegen sich in der gleichen Richtung. So verlangt die Fraktion die Aufhebung der Karenzzeit für den Bezug der Invalidenrente, welche sofort gewährt werden soll, sobald Invalidität eintritt. Die Wartezeit für die Altersrente soll von 30 auf 20 Beitragsjahre herabgesetzt werden. Ebenso soll die Zahl der Wochen für ein Beitragsjahr in Rücksicht auf die großen Arbeitspausen, denen ein sehr großer Teil der Arbeiter fast aller Branchen ausgesetzt ist, statt 47 nur 40 Wochen betragen. Die vier Lohnklassen der Kommission (bis zu 350 Mk. einschließlich, von 350-550 Mk., von 550-850 Mk. und von 850 Mk. und darüber) beantragt die Fraktion in fünf Lohnklassen umzuwandeln, und zwar in der Weise, das von 550 Mk. an aufwärts folgende Klassen gesetzt werden: von 550-750 Mk., von 750-1000 Mk. und über 1000 Mk. Dementsprechend sollen auch die Sätze für die Alters- und Invalidenrente entsprechend erhöht werden; sie sollen im Minimum 30 Hundertstel des wirklichen durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes betragen und soll die Invalidenrente allmählich bis zu 60 Hundertstel steigen. Die Annahme dieser Anträge vorausgesetzt, soll auch das Reich einen entsprechenden Mehrbetrag, und zwar statt 50 Mk. jährlich 90 Mk. per Kopf des Alters- oder Invalidenrentners beitragen.
Endlich wird verlangt, an Stelle der vielen einzelnen Versicherungsanstalten, welche nach dem Entwurf durch die Landesregierungen gegründet werden sollen, eine einzige Reichsversicherungsanstalt ins Leben zu rufen, deren Verwaltung und Organisation einfacher, rascher, bequemer und sehr bedeutend billiger funktionieren würde, als die vielen selbstständigen kleinen Landes- und Provinzkalkassen. Obgleich die Vorteile einer solchen zentralisierten Reichskassenverwaltung dem simpelsten Verstande greifbar auf der Hand liegen, wird dieselbe doch nicht angenommen werden. Der Partikularismus ist in den Kreisen der einzelstaatlichen Regierungen noch mächtig, und das Bestreben möglichst viel selbst zu regieren, steht ihnen höher als das Gemeininteresse. Der Reichstag brauchte zwar auf diese partikularistischen Gelüste nicht einzugehen, aber für die Majorität sind die Wünsche der Regierungen Befehl. Auch wird das Zentrum, das der eigentliche Träger des Partikularismus im Reichstag ist, für die Regierungswünsche eintreten.
In der Presse wurde behauptet, dem Reichskanzler liege an dem Zustandekommen des Gesetzes nichts. Das veranlasste ihn, selbst im Reichstag zu erscheinen und das Gegenteil feierlichst zu erklären. Auch hier soll ein höherer Wille maßgebend sein, der darauf brennt, sich bei den Arbeitern populär zu machen und den Lindwurm Sozialdemokratie zu töten. Sichtbar trat dieser naive Glaube hervor in den Äußerungen des Staatssekretärs des Innern, welcher die Opposition unserer Genossen gegen dass Gesetz und ihre Amendierung desselben als Akte der Verlegenheit bezeichnete, in welcher sie sich befänden. sie müssten fürchten, den Boden unter den Arbeitern durch die Annahme des Gesetzes zu verlieren. Darauf wurde ihm erwidert, das dies eine starke Täuschung sei. Die ganze sogenannte Sozialreform sei, das wisse heute so ziemlich jeder deutsche Arbeiter, nur der Sozialdemokratie geschuldet; ohne diese keine Sozialreform, und so wenig Krankenversicherung und Unfallgesetz dem Wachstum der Sozialdemokratie Einhalt getan hätten, so wenig werde dies die Alters- und Invalidenversicherung erreichen. Wohl aber werde das Gegenteil eintreten. Der Staatssekretär fand es für gut, auf diese Einwürfe nicht zu antworten.
Trotz der reichskanzlerischen Erklärungen, mit welchen er seine Zustimmung zu dem Zustandekommen des Gesetzes ausdrückte, gibt es im Reichstag Viele, die das Gegenteil glauben. Der ungeheure Verwaltungsapparat, der mit dem Gesetz ins Leben gerufen wird, die heute noch gar nicht zu übersehenden finanziellen Lasten, die es namentlich auch vom Reich fordert, das so viel für Soldaten und Kriegszwecke fordert und immer mehr brauchen wird, endlich der unleugbare Druck, den das Gesetz in seiner Wirksamkeit auf die kleinen Unternehmer, diese Parias der Unternehmerklasse, ausüben wird, erwecken in den Majoritätsparteien heimliches Grauen. Sie sind nicht die Eiferer für das Gesetz, als welche sie sich ausgeben, sie wären froh, wenn es an der mangelnden Zustimmung von oben scheiterte, sie selbst wagen aber nicht diesen Gedanken auszusprechen. So befindet sich die deutsche Volksvertretung unter dem Druck der Massen von unten, die mit dem Gesetz keineswegs zufrieden sind und Besseres verlangen, und zwischen dem Wunsch von oben, das Gesetz gegen unbequeme Gegner als Waffe zu benutzen, in einer fatalen Lage, aus der sie zunächst keinen Ausweg sieht. Ein Hauptgrund auch, warum man das Gesetz nicht abzulehnen wagt, ist der Ausblick auf die nächsten Wahlen. Wie will man vor die Massen treten, nachdem man ihnen in den letzten Jahren nur immer neue schwere Lasten aufgebürdet und nicht ein Gesetz geschaffen hat, das ihre Lage verbessert. Da, heißt’s: Der Eine muss. Und da bildet man sich ein, die Sozialdemokratie zu schädigen, wo Alles nur aus Angst vor ihr geschieht.
Die von den im Düsseldorfer Geheimbundsprozess Verurteilten beim Reichsgericht eingereichte Revision ist am Donnerstag verworfen worden. Das war zu erwarten. Bisher hat das Reichsgericht nur solche Revisionen in Bezug auf Geheimbündelei anerkannt, bei denen ihm Gelegenheit gegeben wurde, eine neue noch verschärfte Auslegung der Gesetze herbeizuführen. Unsere Genossen müssen froh sein, wenn eine solche Revisionsprodur verläuft, ohne das es zur Aufstellung neuer, bisher nicht gekannter und nicht für möglich gehaltener Rechtsgrundsätze kam. Deutschland steht unter dem Zeichen des Krebses.
Die neue Vorlage des Ausnahmegesetzes soll angeblich Ende dieser Woche dem Reichstag zugehen. Noch herrschen über ihren Inhalt die widersprechendsten Gerüchte, doch da wir nicht lieben leeres Stroh zu dreschen, gehen wir nicht näher auf dieselben ein. Die Vorlage wird eine Gestalt bekommen, das allen Reaktionären vor Freude das Herz im Leibe lacht. „In Deutschland war’s nie so schön als heute, behüt‘ es Gott,“ festrednerte kürzlich in Dresden ein Reichstagsabgeordneter, der seines Zeichens Staatsanwalt ist. Der Mann hat von seinem Standpunkt aus vollkommen recht. Polizei und Staatsanwälte und solche, die es werden wollen, führen heute das Regiment in Deutschland und behandeln die „Nation von Denkern“ wie eine Nation von Eunuchen. Ohne die opponierende Arbeiterklasse und ihre Vertreter wäre Deutschland ein politisches Totenhaus.
*) Verspätet.
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