August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 998, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 15, 12. April 1889, S. 5 f.]

[:: Aus Norddeutschland,] – 9. April. Die Verhandlungen über die Alters- und Invalidenversorgung der Arbeiter ziehen sich in ganz ungewöhnlicher Weise in die Länge. An die Anfangs gehegte Hoffnung, das Gesetz noch vor den Osterferien erledigen zu können, denkt heute kein Mensch mehr, man ist froh, wenn die zweite Lesung erledigt wird und das ist kaum ohne Zuhilfenahme von Abendsitzungen möglich, die heute beginnen sollen. Nach zehntägigen langen Sitzungen ist man glücklich bis zum § 30 des Gesetzes gelangt und 150 Paragrafen zählt dasselbe. sind mit den 30 Paragrafen auch die Hauptpunkte im Gesetz entschieden, so gibt es immer noch eine ganze Masse Anstände in den übrigen Paragrafen, wie die Menge der vorliegenden Anträge beweist.

Diese bisher nie dagewesene Verzögerung bei der Beratung eines in der Kommission sorgfältig vorbereiteten Gesetzes erklärt sich aus der Materie desselben Mit der Durchberatung jedes neuen Paragrafen wurden die Bedenken gegen das Gesetz bei den eigenen Anhängern desselben immer größer, und wenn man dem Drucke von unten und oben folgend schließlich das Gesetz doch fertig stellt, so steht fest, das unter den Jasagern nicht Einer ist, der auf dasselbe mit Befriedigung zurückblickt und nicht schwere Sorge hätte, wie dasselbe in der Praxis funktionieren wird. Unter eigentümlichen Verhältnissen und unter so starkem inneren Widerstreben derjenigen, welche schließlich Ja und Amen sagen, ist noch nie ein Gesetz zustande gekommen, so lange der deutsche Reichstag besteht. Auch sorgen unsere Parteigenossen dafür, durch lebhafte Beteiligung an den Debatten die Mängel des Gesetzes nah allen Seiten hervorzuheben und den Majoritätsparteien klar zu machen, dass ihr Glaube, damit den letzten Stein im sozialen Reform-Gebäude einzusetzen, ein Irrglaube ist.

Über die Endabstimmung, die erst nach beendigter dritter Lesung über das ganze Gesetz stattzufinden hat, lässt sich im Voraus nichts sagen. Groß wird diese Majorität nicht sein, da selbst Redner der Rechten erklärten, gegen das Gesetz stimmen zu wollen. Auch in den Kreisen der Bourgeoisie außerhalb des Reichstags regt sich eine sehr lebhafte Opposition gegen das Zustandekommen des Gesetzes, die sich in Petitionen an den Reichstag Geltung zu verschaffen sucht. Gar mancher der edlen Volksvertreter dürfte, wenn er in den Osterferien zu Muttern heimkommt, dort einem Sturm seiner Freunde und Klassengenossen begegnen, dem er schwer zu widerstehen vermag.

Das Eine steht schon heute fest, dass, wenn dieses Gesetz der industriellen und agrarischen Bourgeoisie aus den verschiedensten Gründen zu weit geht.und sie seine Einführung fürchtet, es den bescheidensten Ansprüchen der Arbeiter nicht genügt und dort statt Befriedigung nur Enttäuschung und Schlimmeres hervorrufen wird. Die Hoffnung der herrschenden Klassen, mit diesem Gesetz der Sozialdemokratie den Boden abzugraben, die Arbeiter von den sozialdemokratischen Bestrebungen abzuziehen und mit der bestehenden Gesellschaftsordnung auszusöhnen, diese Hoffnungen sind auf Flugsand gebaut. Das ist den Herren seitens unserer Redner im Laufe der Debatten mehr als einmal gesagt und wohl auch bewiesen worden. Die Erfahrung wird diese Auffassung bestätigen.

Ein ganz wunderbares und ebenfalls unerwartetes Schicksal hat bis jetzt die geplante Strafgesetznovelle erlitten, welche das Ausnahmegesetz gegen unsere Partei durch verschärfte Strafgesetzbestimmungen versetzen soll, mit Hilfe welchen man jede Opposition, von welcher Seite sie immer käme, treffen könnte. Die Novelle, die schon Ende voriger Woche an den Reichstag kommen sollte, hat bis heute nicht einmal den Bundesratsausschuss, welcher zu ihrer Vorberatung niedergesetzt wurde, passiert. Die Vertreter der Regierungen sind sich untereinander in die Haare geraten. Während Bayern und Württemberg lebhafte Opposition machen, sucht Sachsen, dieses Musterland der Reaktion, die preußischen Forderungen zu unterstützen.so wogt der Kampf im Bundesratsausschuss hin und her, ohne dass es bis heute zu einer Verständigung gekommen wäre. Voraussichtlich wird der Reichstag die bezügliche Vorlage erst nach den Osterferien erhalten, was eigentlich recht schade ist, weil für den Fall, das sie vorher verteilt würde, Alle Zeit und Gelegenheiten hätten, sich während der Ferien auf den Kampf im Reichstag vorzubereiten. Letzterer wird jedenfalls erhebliche Dimensionen annehmen und so lebhaft werden, wie ihn in den letzten 10 Jahren, unter der Ära des Ausnahmegesetzes, der Reichstag noch nicht erlebte. Handelt es sich diesmal doch mit um der Herren eigene Haut, und da sind sie ungleich empfindlicher, als wenn es sich bloß darum handelt, fremder Leute Haut dem Gerber zu überliefern.

In Folge dieser Verzögerungen wird die Reichstagssession vor Ende Mai nicht geschlossen werden können.

Mit heutigem Tage soll endlich auch die Reichskommission, welche die Rekursinstanz für die Beschwerden über verbotene Druckschriften bildet, den Fall der Berliner „Volkszeitung“ entscheiden. Wie unter der Hand verlautet, seien die bestellten Referenten für Aufhebung des Verbots, was eigentlich sich von selbst verstünde. Ein großer Teil der liberalen Zeitungen ist empört über die lange Verzögerung der Entscheidung – es sind seit dem Verbot etwas mehr als drei Wochen vergangen – und sprechen von Vermögens-Konfiskation, Missachtung des Eigentums u. dergl., die durch diese Hinhaltung an den Eigentümern des Blattes verübt werde. Das ist vollkommen richtig. Aber dieselben Blätter hatten kein Wort des Tadels, wenn von Sozialdemokraten redigierte Arbeiterblätter auf Grund des Ausnahmegesetzes mir nichts, dir nichts totgeschlagen wurden und in einigen Fällen das Verbot erst nah drei- und mehrmonatlicher Frist wieder aufgehoben wurde. In den allermeisten Fällen wurde das Verbot bestätigt, aber wo es nach langer Frist ausnahmsweise aufgehoben wurde, und das kam ungefähr dreimal vor, waren die Blätter so gut wie ruiniert, weil ihr Leserkreis sich verlaufen hatte.

Von den rechtlichen und moralischen Grundsätzen, welche die herrschenden Gewalten politischen Gegnern gegenüber beseelen, hat dieser Tage wieder die offiziöse „Nordd. Allg. Zeitung“ eine recht hübsche Probe abgelegt. In einer Besprechung des Gefffkenprozesses bemerkte sie ganz unverfroren, dass man denselben höheren Orts sicher nicht angestrengt haben würde, wenn man gewusst, das Geffken auf eigene Faust die Veröffentlichungen aus dem Tagebuch des verstorbenen Kaiser Friedrich vorgenommen hätte. Man habe auf einflussreiche Hintermänner reflektiert. Um diese also zu entdecken, denn bestrafen konnte man sie nach der Natur des Falles nicht, das mussten die Urheber des Prozesses wissen und wussten es auch, musste Geffken sich volle drei Monate in Untersuchungshaft setzen lassen und wurde jener moralische Entrüstungssturm ins Werk gesetzt, der glauben machen sollte, als liege hier eine Verschwörung gegen das deutsche Reich vor.

Im Grunde waren es nur gewisse einflussreiche Persönlichkeiten, die sich durch die Veröffentlichungen Geffkens schwer getroffen fühlten und Rache dafür nehmen wollten. Und dieselben Leute schreien: „Fiat justitia, pereat mundus“, Hoch die Gerechtigkeit, auch wenn die Welt zu Grunde ginge. Welcher Humbug.

In Freiburg in Baden ist vorige Woche wieder einer der üblichen Geheimbundsprozesse zu Ende geführt worden, selbstverständlich unter Verurteilung der Angeklagten. In Berlin steht ein neuer Geheimbundsprozess in Aussicht. Unter dem Ausnahmegesetz gehören diese Prozesse zum täglichen Brot, man ist so daran gewöhnt, das man über dieselben gar nicht mehr spricht, geschweige, das man sich darüber aufregte.


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