August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 984, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 8, 22. Februar 1889, S. 7 f.]

:: Aus Norddeutschland, 19. Februar. Die Nachricht, die Reichsregierung habe bei den Bundesregierungen Umfrage gehalten, ob und in welcher Weise das Sozialistengesetz in seinen wesentlichsten Bestimmungen in das gemeine Recht aufgenommen werden könnte, es finde sich dafür aber kein gangbarer Weg, verursacht unseren National-Liberalen einiges Alpdrücken. Bei der letzten Verlängerung des Gesetzes hatten die Herren ziemlich unverblümt erklärt, das sei die letzte, welcher sie zustimmten; es sei nunmehr Aufgabe der Regierungen einen Ausweg zu finden, wenn nicht anders so auf dem Wege eines Spezialgesetzes, um diesen immer wiederkehrenden aufregenden Diskussionen über die Verlängerung des Gesetzes aus dem Wege zu gehen. Letzteres ist den Anhängern desselben das Allerunangenehmste. Das Gesetz ließen sie sich schon gefallen, aber die beständigen Debatten über seine Dauer, das ist, was sie fürchten und sie beunruhigt. Der Sozialdemokratie kann es vollkommen gleich sein, ob sie auf dem Wege des Ausnahmegesetzes geschmort oder auf dem Wege eines Spezialgesetzes, das doch auch ein Ausnahmegesetz ist und bleibt – auch wenn es im Rahmen des gemeinen Rechtes seinen Platz fände – gebraten wird. Der künftigen Diskussion dieser Ausnahmebestimmungen sind die Anhänger derselben auf keinen Fall überhoben.

An dem Tage wo das Ausnahmegesetz in irgend welcher Form eine dauernde Institution wird, erwächst für die sozialdemokratische Vertretung im Reichstag die Pflicht – und sie wird diese Pflicht erfüllen – in jeder Session des Reichstags den Antrag auf Aufhebung der Ausnahmebestimmungen zu stellen. Damit wird die Diskussion aufs Neue eröffnet, wird die umfänglichste Kritik der Gesetzesbestimmungen und ihrer Handhabung möglich und zwar unter Bedingungen, die für die Anhänger des Gesetzes noch ungünstiger sind als gegenwärtig. Aber wenn auch, wie wahrscheinlich, das Ausnahmegesetz in seiner jetzigen Gestalt abermals verlängert wird, so tritt auch künftig die Frage an die sozialdemokratische Fraktion heran, ob sie die Diskussion über die Aufhebung des Gesetzes durch einen bezüglichen Antrag nicht alljährlich erneuern will. Sie hat gar keine Verpflichtung zu warten bis der Endtermin herankommt. Die Furcht der Reichstagsmehrheit vor solchen Diskussionen und der Widerwille der Massen gegen die Ausnahmegesetze muss ausgenützt werden. Die Fraktion muss aggressiv vorgehen, je aggressiver, um so besser.

Im Berliner „Volksblatt“ veröffentlicht Parteigenosse Auer eine Anzahl Aktenstücke in Sachen eines Blaufärbers Wichmann in Altona, aus welchen hervorgeht, dass dieser Wichmann, nach seinem eigenen Eingeständnis, seit langen Jahren im Dienste der Geheimpolizei in Altona stand und unter Anderem von dem Polizeikommissar Engel in Altona den Auftrag erhielt, in der Mostschen „Freiheit“ Auer zu beschuldigen, das er 1000 Mark Parteigelder unterschlagen habe. Wichmann hat sich auch wirklich zur Ausführung dieses Bubenstreichs hergegeben und die „Freiheit“ veröffentlichte im Jahre 1880 diese infame Lüge. Der betreffende Brief war ihm vom Polizeikommissar Engel diktiert worden.

Wichmann kündigte weiter in diesen Briefen, die er an Auer schrieb, an, das er eine Broschüre veröffentlichen wolle, betitelt: „Welche Beftrebungen jsind die gemeinsten und staatsgefährlichsten, die der Sozialdemokratie oder gewisser Polizeibeamten?“ Diese Broschüre hätte sehr interessant werden können – wenn sie veröffentlicht wurde. Wichmann gesteht weiter: Er habe durch Arbeiter und Reisen in den verschiedensten Ländern Europas und Amerikas Sachen und Menschen kennen gelernt, aber als Geheimpolizist einen Einblick, respektive Begriff vom – deutschen – Polizeigeschäft bekommen, das man erschrecken müsse, gerade in diesem Berufe die unsaubersten Elemente zu finden, welchen Gott, Gewissen und Meineid weiter nichts als „Blödsinn“ sei. Er danke seinem Schöpfer, das der abscheuliche Beruf ein Ende habe. (?)

So urteilt ein geheimer Polizeiagent über das System, das unsere „sittliche Weltordnung“ repräsentiert und Religion, Eigentum, Ehe und Familie vor der Zerstörung durch die ††† Sozialdemokratie schützt. Die nächstens im Reichstag stattfindende Debatte über die Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über Berlin, Hamburg-Altona, Frankfurt, Offenbach-Hanau, Stettin und Leipzig mit ihren Umgebungen, wird Gelegenheit zur Würdigung des Falles Wichmann und ähnlicher Fälle geben. Wenn der Deckel von diesem Topfe abgehoben wird, wird der Duft wieder einmal zum Himmel stinken, dass die „Engel im Himmel“ sich die Nasen zuhalten. Eine schöne christliche Staats- und Gesellschaftsordnung, die nur mit solchen Mitteln noch notdürftig gehalten werden kann.

Es verlautet, das Haupt unserer Antisemiten, der Hofprediger Stoecker, solle seines Amtes verlustig gehen. Das Bürschchen hat’s ein wenig zu toll getrieben. schon vor Jahren wurde ihm nachgewiesen, einen Meineid geleistet zu haben. Er hatte beschworen, eine bestimmte Person nicht zu kennen und nie Umgang mit ihr gepflogen zu haben, und das Gegenteil war wahr. Er blieb zum allgemeinen Erstaunen von jeder gerichtlichen Verfolgung befreit. Seitdem ist er in seiner öffentlichen Tätigkeit öfter auf Aussagen ertappt worden, von denen seine Gegner behaupteten, sie erfolgten wider besseres Wissen. Neuerdings wurde aber ein Briefwechsel zwischen ihm und einem seiner Amtsbrüder veröffentlicht, aus dem hervorging, dass er es versucht hatte, sich mit dem betreffenden Amtsbruder über eine zeugeneidlich zu machende Aussage vor Gericht zu „verständigen“. Ist eine solche Handlung schon unter gewöhnlichen Verhältnissen bedenklich und gesetzlich verboten, so doppelt schlimm, wenn sie von einem „Diener der christlichen Kirche“ ausgeht, der zudem bei dem Kaiser und namentlich bei der Kaiserin eine Vertrauensstellung einnimmt. Fällt Stoecker, so fällt in ihm der größte Demagoge, den Deutschland besitzt, und das System bekommt einen neuen Stoß.

Einer von Stoeckers Gönnern, der Chef des preußischen Generalstabes, Graf Waldersee, von dem man munkelt, dass er auf den Sturz, Bismarcks arbeite und möglicherweise dessen Erbe sei, machte in diesen Tagen besonders von sich reden. Bei seinem Eintritte ins Herrenhaus fügte er dem von ihm geleisteten Treueid noch die Worte hinzu: „Durch Jesum Christum zur Seligkeit Amen.“ Junkerei und Muckerei sind innig verschwistert, es fehlt nur noch, dass sie offen und unverhüllt in Deutschland ans Ruder kommen, um dem Fasse den Boden auszuschlagen.

Zu Berlin ist das Agitationskomitee der Töpfer wegen Verstoßes gegen das preußische Vereinsgesetz zu geringen Strafen verurteilt worden, gleichzeitig aber sprach das Gericht – und das ist der härteste Punkt des Urteils – die Schließung sämtlicher Töpfervereine in Preußen aus. Wo das Sozialistengesetz nicht reicht, greift man zu Landesgesetzen über Vereine und Versammlungen, und umgekehrt. Hier die Skylla, dort die Charybdis, in einen dieser Strudel stürzen die Arbeiterorganisationen stets, so bald sie sich rühren. Welch‘ weitherziger Rücksichtnahme erfreuen sich dagegen die Organisationen der Unternehmer. Ja, Bauer, das ist was anderes.

In Flensburg ist der Streik der Former zu Ende. Die Arbeiter verzichteten auf die Forderung eines Minimallohnes, dagegen wurde die zehnstündige Arbeitszeit und eine allgemeine Lohnerhöhung bewilligt.

Unser ostafrikanisches Kolonialabenteuer scheint sich zu einem kleinen Tonkin auswachsen zu wollen. Im Reichstag konnte man nicht rasch genug die Bewilligung der zwei Millionen erhalten, die Abreise des Reichskommissars verzögerte sich aber von Woche zu Woche, es gab noch viel zu überlegen. Endlich ist er weg und es verlautet, dass man als Schutztruppen gegen die vereinigten Araber und Neger Somalis, d.h. Eingeborene, die mit den Aufständischen die gleichen Gesinnungen und Interessen haben, engagieren wolle. Man glaubt also den Teufel durch Beelzebub austreiben zu können Wohl bekomm’s.

Das preußische Abgeordnetenhaus hat die Erhöhung der Zivilliste des Königs um 3½ Millionen Mark gegen die Stimmen von acht Mitgliedern der Fortschrittspartei angenommen. Die übrigen Mitglieder dieser Partei stimmten dafür. Damit hat die Partei aufs Neue ihrem Ansehen tüchtig geschadet. Die Preußen haben jetzt das Vergnügen, die verhältnismäßig höchste Zivilliste Europas zu bezahlen, d.h. wenn man von den deutschen Kleinstaaten absieht, die noch opferwilliger als die Preußen für ihre angestammten Monarchen sind.


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