August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 985, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 8, 22. Februar 1889, S. 5]

:: Aus Norddeutschland, 26. Februar. Die Kommission über die Alters- und Invalidenversicherungs-Vorlage hat die erste Lesung des Gesetzentwurfes beendet und eine Reihe von Abänderungen vorgenommen, über deren Tragweite sie jetzt selbst erschrickt. Zunächst setzte sie das Alter für die Inanspruchnahme der Altersversicherung vom vollendeten 70. Lebensjahre auf das 65. herab; ferner führte sie 5 Lohnstufen ein, nach welchen die Beiträge und die Versicherungsentschädigungen geleistet werden sollen. Außerdem wurden mehrfache Erleichterungen für die Arbeiter, welche bei Einführung des Gesetzes das 35. Lebensjahr bereits vollendet haben, beschlossen. Aus diesen Erleichterungen und der Herabsetzung der Altersgrenze berechnet man, dass der Reichszuschuss im ersten Jahre von 3,830.000 M. auf 12,200.000 M., im zweiten von 4,850.000 auf 16,000.000 M., im dritten von 6,700.000 auf 19,600.000 M., im vierten von 8,510.000 auf 22,900.000 M., im fünften von 10,110.000 auf 25,800.000 M., im sechsten von 12,610.000 auf 28,500.000 M. erhöht werden müsse usw. Darnach müssten auch die Beiträge der Arbeiter und der Unternehmer in ähnlicher Weise gesteigert werden. Unserer Bourgeoisie ist über diese Beschlüsse der Schreck in alle Glieder gefahren und man wird nunmehr in der zweiten Lesung Alles aufbieten, um die „Fehler“ der ersten wiedergutzumachen. Das Schicksal der Vorlage ist noch sehr zweifelhaft. Sozialreform möchte man gerne treiben, aber kosten soll sie nichts; man jubelt in allen Börsenblättern über die ungeheure Zunahme des Reichtums in den letzten fünfzehn Jahren in Deutschland, aber für Diejenigen, welche mit ihrer Hände Arbeit die Aufhäufung dieses ungeheuren Reichtums herbeigeführt haben, hält man die Taschen zu. Man macht so viel Aufhebens von den Opfern, welche Kranken- und Unfallversicherung den Unternehmern auferlege, und sieht man näher zu, so betragen diese Opfer nur wenige Prozente des Lohnes und in wie vielen Fällen wurden diese „Opfer“ durch Lohndrückerei wieder voll eingebracht. So wird’s auch mit der Alters- und Invalidenversicherung. Wirken die Steuern hierfür einigermaßen einschneidend, die Unternehmer haben jederzeit die Mittel an der Hand, diese Last indirekt auf die Arbeiter abzuwälzen, ihr Wohlbehagen und ihre Reichtumsanhäufung wird dadurch nicht im Geringsten gestört. Wen sie schwer drückt, das sind die kleinen Unternehmer, welche den Kampf um das Dasein kämpfen und keine Möglichkeit haben, diese Lasten abzuwälzen. Hier wird sich wiederholen, was sich in unserer ganzen Wirtschaftspolitik täglich zeigt, diese Kleinen werden unter all diesen Maßnahmen um so rascher zu Grunde gerichtet, denn es besteht keine Maßregel, die ihnen hilft, und es gibt keine, die ihnen unter dem gegenwärtigen Wirtschaftssysteme helfen könnte.

Die erhebliche Steigerung des Reichszuschusses, welchen die Beschlüsse der genannten Kommission in sich schließen, findet natürlich auch nicht die Zustimmung der Reichsregierung. Die Arbeiter überzahlen zwar in den indirekten Steuern und Zöllen diese Reichsbeiträge ums Vielfache – Branntweinsteuer, Getreidezölle, Tabaksteuer und Tabakzölle belaufen sich allein auf über 240 Millionen Mark im Jahr – aber man hat diese Lasten nicht auferlegt, um sie den Arbeitern in irgend einer Form wieder zu Gute kommen zu lassen, sondern um sie für die ins Maßlose steigenden Militärausgaben und Kriegsrüstungen zu verwenden. Es ist schon heute kein Geheimnis, dass, sobald die Alters- und Invalidenversicherung unter Dach und Fach ist, die Steuerschraube abermals angesetzt werden wird, um den Reichsbeitrag aus dem arbeitenden Volke zu pumpen. Das Reich kann nichts geben, was es nicht erst dem Volk genommen hat, und die Natur unserer herrschenden Klassen und das von ihnen eingeführte Steuersystem sorgen dafür, das vorzugsweise die arbeitenden Klassen bluten.

Über das Wesen dieser „Staatshilfe“ kann man die aufgeklärten Arbeiter nicht täuschen, und diese werden dafür sorgen, das auch den Einfältigen ein Licht aufgesteckt wird.

Der deutsche Kaiser hat vor wenigen Tagen einigen Komiteemitgliedern für die in Berlin bevorstehende Ausstellung von Unfallverhütungs-Vorrichtungen gegenüber geäußert, er sei überzeugt, das, wenn man den Arbeitern die Überzeugung augenfällig beibringe, das sie in jeder Beziehung allen übrigen Bürgern im Staate gleich geachtet würden, darin das beste Mittel liege, sie den sozialdemokratischen Verführungskünsten zu entziehen. Se. Majestät irren sich ein wenig. Der Arbeiter will nicht bloß gleiche Achtung, sondern auch gleiche Rechte, und zwar politisch und ökonomisch, und so lange er diese nicht besitzt, und sie voll zu gewähren dürfte selbst einem König von Preußen und Kaiser von Deutschland unmöglich sein, werden die Arbeiter immer mehr den „Verführungskünsten“ der Sozialdemokratie verfallen. Die Sozialdemokratie hat gegen alle diese Sirenengesänge von oben für die Arbeiter ein unwiderlegliches Argument: ohne die Sozialdemokratie gäbe es keine Sozialreform, gäbe es kein Bekümmern um die Arbeiter; alles was für die Arbeiter bis jetzt geschehen ist, ist das Werk der Sozialdemokratie, das hat selbst Fürst Bismarck vor versammeltem Reichstag anerkannt. Das fangen auch die deutschen Arbeiter an immer mehr zu begreifen, und deshalb werden die Verführungskünste der Sozialdemokratie immer mehr Einfluss gewinnen, bis sie die Alles beherrschende Partei ist. Dabei bleibt’s und so kommt’s, ob’s Euch past oder nicht, Ihr Herren.

Unseren Getreidezöllnern ist aus ihren eigenen Reihen ein Kronzeuge gegen sie erstanden, dessen Zeugnis ihre freche Behauptung, die Zölle verteuerten nicht das Brot, über den Haufen wirft. Dieser Kronzeuge ist „König“ Stumm, einer der größten Industriellen Deutschlands, der im Saarbrückner Kohlenreviere über mehrere tausend Arbeiter kommandiert und durch sein paschamäßiges Auftreten sich den Namen „König Stumm“ erworben hat. Besagter Herr Stumm erklärte kürzlich in einer öffentlichen Wahlversammlung, die Getreidezölle verteuerten allerdings dem Arbeiter das Brot, und weil er dies anerkennen müsse, habe er seinen Arbeitern eine monatliche Teuerungszulage von 3 Mark bewilligt. Damit aber die Leser nicht glauben, Herr Stumm handle aus Großmut, sei mitgeteilt, das die Bewilligung der Getreidezölle auf einem Vertrag mit den Großindustriellen beruhte, denen man dafür unter anderen die Eisenzölle bewilligte. Herrn Stumm haben diese so viel Millionen schon eingebracht, das er die Teuerungszulage seinen Arbeitern ruhig gewähren kann, er gesteht damit unfreiwillig zu, das die Eisenzölle seinen Arbeitern nichts nützten, sonst hätte er ihnen die Zulage nicht gewährt. Aber Herr Stumm hat noch einen andern Grund für seine Großmut. steigt in Folge der Brotverteuerung der Unwille gegen die Getreidezölle so, dass diese fallen, dann fallen sicher auch die Eisenzölle, und das will Herr Stumm verhindern. O! es geht nichts über die Schlauheit eines Großbourgeois, der dabei seinen aus persönlichem Interesse geübten Taten das Mäntelchen der Großmut und der Humanität umzuhängen weiß.

Die Parteigenossen rüsten sich dadurch überall zur Wahl, das sie Wahlvereine gründen. Berlin, Breslau, München, Dresden, Halberstadt, Crimmitschau, Chemnitz etc. haben solche bereits aufzuweisen und die anderen Städte folgen nach.

Das Provinzial-Schulkollegium der Provinz Brandenburg hat dem sozialdemokratischen Stadtverordneten Kuhnert, Lehrer a. D. in Berlin, das Recht entzogen, den Kindern der freireligiösen Gemeinde Religionsunterricht zu erteilen. Diese Maßregelung ist die Konsequenz eines Beschlusses, den kürzlich die Mehrheit der Berliner Stadtverordneten, ebenfalls gegen Kuhnert, angenommen hatte. Dieser hatte sich durch verschiedene atheistisch gefärbte Reden den Stadtvätern Berlins höchst unbequem gemacht und so verweigerten sie der Gemeinde, deren Kinder Kuhnert unterrichtete, einen städtischen Schulsaal für diesen Zweck, und zwar mit Hinweis auf Kuhnerts Tätigkeit und Ansichten. Diese Ketzerrichterei der Mehrzahl der Berliner Stadtverordneten hat zwar in Berlin viel böses Blut gemacht, sie entspricht aber der Feigheit und Charakterlosigkeit, die auch den sogenannten freisinnigen Teil unseres Bürgertums immer mehr erfasst und nach rechts treibt.

Den Marasmus, dem das Bürgertum verfallen ist, musste kürzlich selbst der Abg. Eugen Richter in einer Versammlung zugeben, er huldigte freilich auch dem Köhlerglauben, das diesem Marasmus das Bürgertum durch guten Willen sich entziehen könne. Hofft und harrt, ihr seid genarrt. Ein faul gewordener Stamm kann keine gesunden Früchte mehr tragen, und eine ins Greisenalter geratene Gesellschaftsschicht kann sich nicht mehr verjüngen.

Auf Anregung des Vorstandes der sozialdemokratischen Reichstags-Fraktion findet in dieser Woche eine Konferenz in [Den] Haag statt, die sich mit dem Zusammentritte des Internationalen Arbeiter-Kongresses in Paris im Laufe dieses Sommers beschäftigen wird. Von deutscher Seite werden Liebknecht und Bebel daran teilnehmen. Außerdem werden Vertreter aus England, Frankreich, der Schweiz, Belgien und Holland erwartet.

– Für die streikenden Drechsler in Hannover sind uns in mehreren kleinen Posten 15 fl. 30 kr. zugekommen, welche ihrer Bestimmung zugeführt wurden.


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