August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 977, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 4, 25. Januar 1889, S. 5 f.]

:: Aus Norddeutschland, 22. Jänner. Das Jahr scheint in seinem weiteren Verlauf halten zu wollen, was es in seinem Anfang versprach Die moralischen Schläge gegen das herrschende System nehmen ihren Fortgang, sonderbarer Weise sind sie von ihm selbst provoziert. Die Geffken-Affäre ist insofern in voriger Woche in ein neues Stadium getreten, als der „Reichsanzeiger“ die Anklageschrift mit all den Stellen, durch welche der Landesverrat begangen sein sollte, wörtlich veröffentlicht. Ein bisher nie dagewesenes und ganz unerhörtes Verfahren, das sich in erster Linie gegen den höchsten Gerichtshof richtet, dessen Ankläger somit die Erhebung der Anklage abgelehnt hatte. Der durch einen solch ungewöhnlichen und nach der bisherigen Praxis unzulässigen Schritt aus der Fassung gebrachte preußische Justizminister hat darauf um seinen Abschied gebeten und diesen auch ohne Zaudern erhalten. Herr Friedberg hätte anständigerweise schon gehen sollen, als die Anklage gegen Geffken erhoben wurde. Als Justizminister musste er sich sagen, das nichts bei derselben herauskommen konnte und so durfte er mit seinem Namen dieselbe nicht decken.

Wer sein Nachfolger wird, ist für uns gleichgültig. Besseres kommt nicht nach und schlechter kann er nicht sein, denn Herr Friedberg, der einstmals in dem Geruche eines „Liberalen“ stand, war jederzeit bereit, der Reaktion Handlangerdienste zu leisten, wie seine Ausarbeitung des Sozialistengesetzes beweist.

Dieser ungeheures und peinliches Aufsehen erregende Schritt der Veröffentlichung der Anklageschrift gegen Geffken, wird noch weiter dadurch verschärft, dass dem Bundesrat die bei Geffken und dem früheren badischen Minister von Roggenbach beschlagnahmten Privatbriefe zur Kenntnisnahme unterbreitet wurden. Dergleichen ist auch noch nie dagewesen. Nach Niederschlagung des Verfahrens gehört es sich, das die Briefe in die Hände ihrer Eigentümer zurückgelangen. statt dessen werden sie der Neugierde von einigen Dutzend unbeteiligter Personen preisgegeben.

Das leitende Regime hat durch diese Handlungen an Achtung und Ansehen nicht gewonnen. Die Entrüstung darüber reicht bis tief in die konservativen Kreise. Das Hauptorgan unserer Mucker und Junker wehklagt gar, dass das Ansehen Deutschlands durch die Vorgänge der letzten Zeit im Auslande sehr gelitten habe und dass es scheine, als sei ein großer Teil der gesamten ausländischen Presse, in den befreundeten wie in den gegnerisch gesinnten Staaten, gegen das Deutsche Reich verschworen. Wer gegen das Cäsarenregiment in Deutschland opponiert, gilt in den Augen der Anhänger dieses Systems als Feind des Reichs und des deutschen Volkes.

Der Opposition im Reichstag geht es darin um kein Haar besser. Bekämpft sie Maßnahmen der Verwaltung oder Vorlagen der Regierung, dann geschieht dies nur aus „antinationalen“, „deutschfeindlichen“ Gründen und die Opposition muss es als besondere Gunst ansehen, wenn sie nicht direkt und wörtlich des Landesverrats geziehen wird. Allmählich ist es so weit gekommen, dass diese Art Angriffe selbst auf die empfindliche Haut unserer Deutschfreisinnigen keine Wirkung mehr ausüben, bei den Sozialdemokraten haben sie niemals verfangen.

Die Verhandlungen des Reichstags gaben den sozialistischen Abgeordneten in der letzten Zeit öfter Gelegenheit zum Eingreifen, wenn es sich auch gerade um keine weltbewegenden Themata handelte. Wahlprüfungen, ein Antrag auf allgemeine Einführung von Gewerbeschiedsgerichten, Erörterungen über die Fabrikinspektoren-Berichte einzelner Etatposten, das waren die Gelegenheiten, die zur Ergreifung des Wortes führten und bald mehr, bald weniger scharfe Auseinandersetzungen mit sich brachten.

Die Kommission über die Alters- und Invaliden-Versicherungsvorlage, in welcher aber kein sozialdemokratischer Abgeordneter Sitz und Stimme hat, hält fleißig Sitzungen und zerbricht sich den Kopf, die Vorlage so zurechtzustutzen, dass sie eine Mehrheit im Reichstag findet. Aber das scheint ihr nicht gelingen zu wollen und wir bedauern es nicht.

Im Laufe dieser Woche wird es noch zu einer größeren Debatte über die Kolonialpolitik der Reichsregierung kommen, welche der verkrachten ostafrikanischen Gesellschaft mit Soldaten und Geld kräftig unter die Arme zu greifen wünscht, Unsere nach neuen Absatzgebieten lüsterne Bourgeoisie will sich um jeden Preis in Ostafrika ein Kolonisationsgebiet erobern, da sie selbst aber die Opfer dazu scheut, soll der große Reichssäckel die Mittel hergeben. Warum auch nicht, ist doch der heutige Staat nichts als eine Schutz- und Versicherungsanstalt für die Reichen gegen die Armen.

In Berlin kursieren allerlei Gerüchte über den Empfang einer Universitäts-Deputation durch den Kaiser, an deren Spitze der aus dem Mackenziestreit bekannte Prof. Dr. Gerhardt stand, ein Empfang, der in seinem Verlauf nicht minder interessant ist, wie der berühmte Empfang der Brunnendeputation des Berliner Magistrats durch den Kaiser nach seiner Rückkehr aus Italien. Besagte Deputation beabsichtigte, dem Kaiser zu Weihnachten ihre Huldigung darzubringen. Die Herren mussten zunächst Fünfviertelstunden warten und zwar unglücklicherweise in einem Zimmer ohne Stühle, ehe der Kaiser Zeit hatte sie, zu empfangen. Alsdann trat dieser aus seinem Kabinett und blieb in größerer Entfernung vor den Herren stehen. In dem Augenblicke aber, wo Prof. Gerhardt das Wort nehmen wollte, fiel der Kaiser ihm mit dem Bemerken in die Rede: Lassen sie das, ich liebe nicht das viele Reden. Sorgen sie nur dafür, das unter den Studenten Zucht und fromme Sitte sich verbreitet und ich bin zufrieden. Sprach’s, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Die Herren waren entlassen. Es wird versichert, die Gesichter derselben sollen noch etwas länger gewesen sein als jene der Berliner Ratsdeputation. Der Studentenschaft ist die sonst übliche Mitteilung am schwarzen Brett über den Empfang bei dem Kaiser bis heute nicht bekannt gemacht worden.

Abermals spielte sich wieder ein Geheimbundsprozess und zwar diesmal vor dem Landgericht zu Kiel ab und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, obgleich die Verteidiger dagegen protestierten. Das Endresultat war, dass von den Angeklagten einer freigesprochen, drei auf Nebenpunkte im Ganzen zu 25 Tagen Gefängnis verurteilt wurden. Die Angeklagten hatten aber zusammen 209 Tage in Untersuchungshaft zugebracht und bekommen die sehr bedeutenden Gerichtskosten zum größten Teile aufgebürdet. Ruiniert und existenzlos gemacht, stehen sie jetzt da und sind auf die Unterstützung ihrer Freunde angewiesen, und das heißt Gerechtigkeitspflege.

Auch aus Dresden ist ein über alle Maßen hartes Urteil zu melden. Wegen Verbreitung eines Flugblattes wurde der Drucker und Verleger, weil das Gericht in dem Inhalt des Flugblattes ein sonst weder für Laien noch für Juristenaugen erkennbares Vergehen wider die öffentliche Ordnung erblickte, zu je acht Monaten Gefängnis verurteilt. Schon die Tatsache, dass beide ihre Namen unter das Flugblatt gesetzt und damit die Verantwortung für dasselbe übernommen hatten, hätte sie vor der Verurteilung schützen sollen, „wider besseres Wissen“ Staatseinrichtungen verächtlich gemacht zu haben. Aber der Klassenkampf, in dem wir leben, vernichtet alle Objektivität. Beiläufig bemerkt, es wurde auch in Dresden die Öffentlichkeit der Verhandlung ausgeschlossen, wodurch das Vertrauen in die Rechtsprechung sicher nicht gefördert wird. Das Urteil hat eine große Erbitterung in den Parteikreisen erzeugt. Legen wir’s zu dem Übrigen.

Die engere Wahl in Breslau ist auf Sonntag den 25. d. M. angesetzt. Die unterlegenen Kartellparteien fordern ihre Anhänger zur Stimmabgabe für den freisinnigen Kandidaten auf, die Parole müsse sein: „Breslau dürfe durch keinen Sozialdemokraten im Reichstag vertreten sein“. Dieses Verhalten der Gegner ist ganz korrekt, was es nützt, wird der Freitag zeigen. Für die engere Wahl in Offenburg (Baden) hat unsere Partei strikte Wahlenthaltung empfohlen. Dies ist auch korrekt. Die beiden in Frage kommenden Kandidaten sind von dem Schlage, wo erst dreizehn ein Dutzend bilden.

Berlin, 16. Jänner. Werte Freunde! Wie Ihr schon in Zeitungen gelesen haben werdet, sind wir Berliner Steinmetze von den Meistern ausgesperrt worden, weil wir nicht gewillt sind, aus dem Fachvereine auszutreten, und wir gezwungen waren, am 7. Jänner 1889 den Streik zu proklamieren. Freunde und Kollegen! Es ist kein örtlicher Kampf, sondern ein allgemeiner, denn wenn uns unser Fachverein genommen werden sollte, so haben wir keinen Anhaltspunkt mehr, und es könnte in allen Städten dasselbe nachgeahmt werden wie hier, und wir Arbeiter hätten keine freie Organisation mehr. Also, Arbeiter, unterstützt uns mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und agitiert für unsere gerechte Sache. Haltet Zuzug nach hier strengstens fern, denn unser Sieg ist auch der Sieg aller Gewerkschaften Deutschlands. Mit Gruß. Die Steinmetzen Berlins.


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