(eigene Übersetzung des englischen Textes in Militant Nr. 834, 13. Februar 1987, S. 10)
Als Chinas Student*innendemonstrant*innen Plakate mit der Forderung nach Demokratie aufhängten, unterzeichneten sie diese mit Pseudonymen. Sie erinnerten sich daran, dass die letzte große Welle von Student*innen- und Jugendprotesten, die Demokratische Bewegung von 1978-79, unterdrückt wurde und über 200 ihrer führenden Vertreter*innen ins Gefängnis kamen.
Von Lynn Walsh
Aber eine der Lieblingsunterschriften der Demonstrant*innen, „Vulkan“, drückt ihre Zuversicht aus. Sie wurden durch Risse in der Spitze der Bürokratie ermutigt und fühlten zweifellos die Unterstützung von breiten Schichten der Gesellschaft.
Die Student*innenmärsche begannen am 5. Dezember in Hefei, der Provinzhauptstadt von Anhui. Innerhalb von Tage gab es Student*innendemonstrationen in mindestens zehn weiteren Städten, einschließlich Beijing und Shanghai. Die Märsche dauerten bis in den Januar hinein an.
Die Forderungen der Student*innen waren vage: „Demokratie und Freiheit“, insbesondere Rede- und Pressefreiheit. In Hefei forderten sie freie Wahlen zu den lokalen Versammlungen mit dem Recht, eigene Kandidat*innen gegen von der Partei nominierte aufzustellen, und dies wurde auch in anderen Städten aufgegriffen. Student*innen verbrannten die KP-Zeitung aus Protest gegen die feindliche Berichterstattung über ihre Bewegung. Für die Führung ging dies zu weit.
Ein Student sagte zu einem Reporter: „Jede Person hat eine andere Vorstellung davon, was Demokratie ist … Demonstrieren ist ein Mittel. Wir nutzen dies, um Veränderungen anzuregen, weil wir unsere Ideen nicht frei äußern können. Die Zeitungen betonen nicht, was in den Köpfen des Volkes. Sie betonen, was in den Köpfen der Partei ist.“
Recht zu veröffentlichen
Ein anderer sagte: „Wir sollten das Recht haben, private Zeitungen zu veröffentlichen, ohne über eine Parteiorganisation zu gehen.“
Viele der Student*innen kommen aus Familien, die Teil der privilegierten herrschenden Elite sind, und möchten, dass China zu einem fortschrittlicheren, reicheren Land werde. Dies würde unter anderem ihre Ambitionen für eine berufliche Laufbahn erfüllen.
Aber wie die Student*innen im Westen sind sie noch nicht in ihr Berufsleben eingetaucht und beschäftigen sich vorerst nicht in erster Linie mit den praktischen Problemen des täglichen Lebens. Ihre Ideen sind daher tendenziell viel radikaler als die des eigenen liberalen Flügels der Bürokratie.
Einige ihrer Kritiken sind zwar weit davon entfernt, ein ausgearbeitetes Programm der politischen Revolution zu sein, stellen aber dennoch die gesamte Struktur der bürokratischen Herrschaft in Frage.
Wie ein Student sagte: „Man kann sagen, dass die Demokratie das größte Problem ist. Aber ich denke, das wirkliche Problem ist die Reform des Kadersystems.“ Mit „Kadersystem“ meinen sie die Struktur der bürokratischen Ernennungen, die Hierarchie der Beamt*innen, die die Partei, die Wirtschaft und alle anderen Institutionen kontrollieren, die letztlich von der Spitze des Apparates in Beijing gesteuert werden.
„In den letzten Jahren“, fuhr ein anderer Student fort, „hat die Führung einseitig die Wirtschaftsreformen vorangetrieben. Jetzt brauchen wir politische Reform. Das umfasst auch eine Reform des Kadersystems. … Wir wollen, dass die Auswahl von unten nach oben erfolgt und nicht von oben nach unten.“
Ist es überraschend, dass Forderungen wie diese in Beijing die Alarmglocken schrillen lassen? Einige Student*innen sind offensichtlich verwirrt. Einer sagte: „Viele Debatten finden statt. Wir wissen nicht, ob der Kapitalismus oder der Sozialismus das Beste ist. “
Das ist zweifellos das, was die westlichen Korrespondent*innen gerne hören. Aber es ist auch klar, dass viele Student*innen fest von der Idee der Demokratisierung auf der Grundlage des Sozialismus überzeugt sind – und viele ihrer Märsche endeten mit dem begeisterten Singen der Internationale.
Diese Welle von Student*innendemonstrationen scheint weitgehend spontan gewesen zu sein. Es ist eine neue Generation von Student*innen auf dem Marsch, jünger, frischer und (vorerst) vorsichtiger als die Generation, die auf die Kulturrevolution und die Enttäuschung über den Verrat der maoistischen führenden Vertreter*innen an ihren radikalen Forderungen folgte.
Die radikale Tragweite der Forderungen der Student*innen wurde durch die Reaktion der Bürokratie unterstrichen. Zunächst erschien die Führung sehr tolerant. Innerhalb weniger Tage begann sich ihre Haltung jedoch scharf zu ändern. Den Student*innen wurde nun kritisiert, sie würden die „nationale Einheit“ gefährden, und große Polizeikontingente wurden mobilisiert, um die Demonstrationen zu unterbinden.
„ bürgerlicher Liberalismus“
Mitte Januar war klar, dass der Staat zwar auf grobe Repression verzichtete, aber entschlossen war, die Demonstrationen zu beenden. Deng trat gegen die Student*innen auf. Im Zuge der zunehmenden offiziellen Anprangerung von „bürgerlichem Liberalismus“ wurde eine Reihe von prominenten Intellektuellen, die die Student*innen offen unterstützt hatten, von ihren Posten entfernt. Gleichzeitig deutete das Verschwinden des Generalsekretärs der Partei aus offiziellen Funktionen auf eine mögliche Spaltung der Führung hin, die bald darauf durch den erzwungenen Rücktritt Hu Yaobangs bestätigt wurde.
Was löste die Student*innenbewegung aus?
Zu Beginn gab es den Verdacht, dass die Student*innen aus der Parteispitze heraus gesteuert wurden. Deng selbst hatte die Demokratische Bewegung von 1978 ursprünglich ermutigt und sich auf sie gestützt, um seine Position gegenüber den Maoist*innen zu stärken, die immer noch in der Führung verankert waren. Als sie seinem Zweck gedient hatte und noch viel weiter zu gehen drohte, unterdrückte Deng sie.
In den jüngsten Monaten stand Deng wieder einer verstärkten Opposition aus den Reihen der Führung gegenüber. Diesmal sind es nicht radikalen Maoist*innen, sondern der konservativste Teil der Bürokratie.
Die etablierten „Kader“ (Bürokrat*innen) befürchten, dass ihre eigenen Machtbefugnisse und traditionellen Vergünstigungen ausgehöhlt werden, wenn Manager*innen, Wissenschaftler*innen und anderen Spezialist*innen mehr Eigeninitiative eingeräumt wird. Sie fürchten auch die negativen Auswirkungen der Wirtschaftsreformen.
Unter Deng gab es ein schnelles Wachstum. Seit 1979 ist die landwirtschaftliche Produktion um 10 Prozent pro Jahr gestiegen, das Bruttosozialprodukt hat sich mehr als verdoppelt. Aber es gab auch eine Aushöhlung der traditionellen Arbeitsplatzsicherheit und eine für chinesische Verhältnisse extrem hohe Inflation.
Das pilzartige Emporschießen persönlicher Vermögen derjenigen, die direkt von den Reformen profitieren, hat zweifelsohne großen Unmut hervorgerufen.
Furcht vor Lockerung
Vor allem fürchten die Konservativen die wachsenden Forderungen nach politischer Liberalisierung. In ihren Augen stellt jede Lockerung der monopolistischen Kontrolle der Partei über die sozialen Beziehungen und das politische Leben eine Gefahr für die Herrschaft der Bürokratie dar.
Diese Befürchtungen sind gut begründet. Doch die Bürokratie steht einem Widerspruch gegenüber, denn, wie Deng erkennt, kann sie unter modernen Bedingungen nicht auf der alten Grundlage weitermachen.
Dengs Problem ist, Wirtschaftsreformen gegen die konservative Opposition durchzudrücken und gleichzeitig Forderungen nach „Liberalisierung“ abzublocken, die die Stabilität des Regimes gefährden könnten. Dieses Dilemma in China ist nur eine Variante des Widerspruchs, vor dem alle stalinistischen Staaten stehen.
Trotz Spekulationen, dass Deng die Student*innen ermutigt hätte, war zum Jahreswechsel klar, dass er alles tat, was er konnte, um die Bewegung unter Kontrolle zu bringen. Dabei stieß Deng mit einigen seiner reformistischen Verbündeten zusammen, die die Student*innenmärsche unterstützt hatten.
Im reformistischen Flügel der Bürokratie trat eine Spaltung auf, die durch die Entlassung vieler prominenter Gestalten im Partei- und akademischen Establishment im vergangenen Monat enthüllt wurde.
So trat im reformistischen Flügel der Bürokratie eine Spaltung auf, die durch die Entlassung zahlreicher prominenter Gestalten im Partei- und akademischen Establishment im vergangenen Monat öffentlich enthüllt wurde.
Diese gesäuberten führenden Vertreter*innen stellen eine reformistische Opposition innerhalb der Bürokratie selbst dar. Sie argumentieren, dass die wirtschaftlichen Reformen, wenn sie wirksam sein sollen, von einer politischen Liberalisierung begleitet werden müssen.
Ihre Position ist vergleichbar mit der der Reformbewegung innerhalb der Bürokratie in der Tschechoslowakei unter Dubček in der Periode, die zum August 1968 führte. In China fordern die Reformer*innen in ähnlicher Weise, Spielraum für Wissenschaftler*innen, Ökonom*innen, Manager*innen und andere Fachleute, ohne ständige Bezugnahme auf die „Parteikader“ Entscheidungen treffen zu können. Sie drängen auch auf die Freiheit, die Politik öffentlich zu diskutieren und die Parteiführung zu hinterfragen und zu kritisieren.
Ohne eine solche Freiheit, so argumentieren die Reformist*innen, werden die von Deng propagierten „vier Modernisierungen“ (der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft und Technologie und der Verteidigung) nicht erfolgreich durchgeführt werden können.
Weil sie die absolute Kontrolle der Partei in Frage stellen, werden sie nun von den Hardliner*innen als „bürgerliche Liberale“ denunziert. Die meisten Reformer*innen haben jedoch eine völlig empirische Herangehensweise. Sie wollen die Modernisierung Chinas haben. Begierig wollen sie westliche Wissenschaft und Technologie einführen und sie sind bereit, sich in viel stärkerem Maße auf ausländisches Kapital und Marktmethoden zu stützen.
Deng war die treibende Kraft hinter den Wirtschaftsreformen. Sein Dilemma ist folgendes: Anders als seine konservativen Gegner*innen, die einen veralteten Apparat intakt halten wollen, will Deng die Maschinerie überholen, um sie an die Erfordernisse der wirtschaftlichen Entwicklung und Modernisierung anzupassen. Dies ist notwendig, um die Basis des Regimes zu erhalten, indem es an die heutigen Bedingungen angepasst wird.
Den Manager*innen und Expert*innen mehr Spielraum zu geben, verstärkt nichtsdestotrotz unweigerlich die Forderung nach weiterem Spielraum für ihre eigenen Initiativen und freien Debatten. Dies stellt unausweichlich die entscheidende Kontrolle der Bürokratie über Wirtschaft und Staat in Frage.
Die Reformer*innen innerhalb der Bürokratie stellen selbst keine Bedrohung für das System dar. Aber wenn man ihnen erlaubt, die Führung in Frage zu stellen und Spaltungen zu verursachen, könnten sie in der Gesellschaft Kräfte auslösen, die den Sturz der Bürokratie bedeuten würden.
Dies gilt umso mehr, als die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums im letzten Jahrzehnt die Stellung des Industrieproletariats in China enorm gestärkt hat. Es ist weitaus besser ausgebildet als in der Vergangenheit und viel offener gegenüber äußeren Entwicklungen. Wir können sicher sein, dass die bewusstesten Arbeiter*innen bereits die Rolle der Bürokratie in Frage stellen und beginnen, Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.
Auch in China sind die Student*innen wie ein empfindliches Messinstrument, ein Seismograf, der schwache Erschütterungen registriert – frühe Warnungen vor kommenden Eruptionen.
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