August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 942, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 41, 13. Oktober 1888, S. 4 f.]

:: Aus Norddeutschland, 9. Oktober. Julius Kräckers Begräbnis in Breslau gestaltete sich zu einer großartigen Demonstration für den Dahingeschiedenen und die Sozialdemokratie. Die Polizei suchte durch öffentlichen Anschlag eines Verbots auf rotem Plakat mit Hinweis auf das Sozialistengesetz und die Verordnung über das Vereins- und Versammlungswesen jeden öffentlichen Aufzug hintanzuhalten. Sie erreichte zu ihrer eigenen Überraschung das Gegenteil. Unter einer ähnlichen Menschenansammlung wie dieser Vertreter des Proletariats ist noch nie einer der Großen Breslaus beerdigt worden, und „wenn der Kaiser käme,“ hörte ein Ohrenzeuge Unbeteiligte versichern, „diese Menschenmassen wären nicht auf den Beinen“. Und so war es auch. Als der Leichenzug Punkt 4 Uhr von des Verstorbenen Wohnung aus sich in Bewegung setzte, wandelte er zwischen dichten Menschenmauern dem anderthalb stunden entfernten Friedhof zu. Zehntausende und Aberzehntausende hielten die Straßen, die Plätze, die Fenster der Häuser besetzt, und als der Zug endlich auf dem Friedhof anlangte, war das Gedränge so stark, das die Leidtragenden nur mit größter Not das Grab erreichen konnten. Der Zufall wollte, dass der Zug durch den ganzen Wahlkreis (Westkreis Breslau) sich bewegte, den Kräcker im Reichstag vertreten hatte, und das dabei das Polizeipräsidium, dessen Diener ihn so verschiedene Male im Leben drangsaliert und verhaftet hatten, das Landgericht, in dem er so hart verurteilt wurde, und das Gefängnis, aus dem er zuletzt als ein todkranker Mann auf Urlaub entlassen worden war, nacheinander passiert wurden. Reden zu halten war verboten worden; selbst die Kränze, die von allen Seiten aus Deutschland und von zahlreichen Arbeiter-Korporationen Breslaus dem Toten gespendet worden waren, durften nicht einmal mit einigen Worten der Widmung niedergelegt werden. Der Gesang des Liedes: „Unter allen Wipfeln ist Ruh’“, dem nach einer Pause, in welcher der großartige Blumenschmuck am Grabe niedergelegt wurde, das „Die da unten ruh’n in Frieden“ folgte, bildete die ganze Totenfeier, die aber in ihrer Kürze und Einfachheit erst recht ihre Wirkung tat. Heute empfanden die Zehntausende, was es heißt, ein geächteter Sozialdemokrat zu sein; mehr Hass und Zorn als an diesem Tage ist noch nicht in Breslau gesäet worden. Das wird, so hoffen wir, die an Kräckers Stelle zu erfolgende Nachwahl bestätigen.

Auf Julius Kräckers Tod lassen sich mit einer kleinen Variante? die Worte Freiligraths anwenden: „Kein offener Hieb in off’ner Schlacht –

Es fällten die Mucken und Tücken,

Es fällt Dich die schleichende Niedertracht

Der schmutzigen West-Kalmücken !“

Nur zu, Ihr Herren, da oben, Ihr arbeitet so eifrig an Eurem eigenen Untergang, dass die Sozialdemokratie bald die Arbeit einstellen könnte. –

Auch Fürst Bismarck gräbt eifrig weiter an dem Umsturz der Monarchie. Gegen den „Hoch- und Landesverräter“ Dr. Geffken wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorgegangen, um hinter die Motive und die Quellen zu kommen, die ihn zur Veröffentlichung der kaiserlichen Tagebuch-Enthüllungen vermochten. Die Presse ergeht sich unterdes gegenseitig in den heftigsten Anklagen und da werden Beurteilungen allerhöchster Personen laut, die sich von Beschimpfungen nicht mehr unterscheiden lassen, aber von Staatsanwaltswegen ruhig geduldet werden, weil sie einem toten „liberalen“ Kaiser gelten. Die „Kölnische Zeitung“ und die „Dresdner Nachrichten“, zwei Hauptsäulen der monarchischen „Ordnung“ in Deutschland, leisten in solchen Angriffen das Höchste. Wehe den armen Redakteuren, wenn das sozialdemokratische Blätter wären, sie würden von der ganzen „gut gesinnten“ Presse unisono in den tiefsten Pfuhl der Hölle gestoßen, und es wäre eine Freude zu sehen, wie prächtig verschiedene Paragrafen des Strafgesetzbuches auf sie Anwendung fänden.

Schofel und charakterlos benimmt sich die Familie des Doktor Geffken, gegen den der eigene Sohn die Entmündigung wegen Geistesstörung beantragte. Ebenso suchen ihn die Blätter abzuschütteln, die bisher seine Arbeiten als gediegene Leistungen mit Kusshand aufnahmen. So sind diese „noblen“ Herrschaften. Kriecherisch, feig, charakterlos und speichelleckerisch nach oben, brutal nach unten. Eine Hundegesellschaft! Das Pendant dazu liefern die meist jüdischen Inhaber der großen Bankinstitute Berlins, die vorige Woche Herr Dechend, der Präsident der Reichsbank zusammenberief, um sie im „allerhöchsten Auftrag“ zu veranlassen, für die Zwecke der Berliner Stadtmission namhafte Summen zu zeichnen. Nun ist aber der antisemitische Hetzer Hofprediger Stoecker das Haupt dieser Stadtmission Man hätte also glauben sollen, das diese den „besten Gesellschaftskreisen“ angehörenden Finanzgrößen so viel Manneswürde besessen hätten, sich zu weigern, für einen solchen Zweck Geld herzugeben. Aber Keiner hatte diesen Mut; sie unterzeichneten und ließen, darüber angegriffen, hintennach verbreiten, es sei ihnen die Zusage gemacht worden, Stoecker habe mit der Sache nichts mehr zu tun. Das glaubt natürlich kein Mensch Stoecker ist der intime Freund der Kaiserin, der Anreger und Urheber der Stadtmission, mit Hilfe welcher man die bösen Sozialdemokraten glaubt mausetot machen zu können. Und dieses, wie die Kriecherei nach oben, sind die Gründe, warum diese jüdischen Großkapitalisten mit einem ihrer verhasstesten Feinde gemeinsame Sache machen. Der Stoecker lässt mit sich handeln, seine Pflanzen gedeihen ja nur im Miste der kapitalistischen Welt; dagegen ist die wachsende Sozialdemokratie der Untergang dieser kapitalistischen Welt, in welcher der christliche Hofprediger und der jüdische Bankier sich gleich wohl befinden. Der Antisemitismus ist einer der Abzugskanäle für die herrschenden Klassen, mit dessen Hilfe sie der Sozialdemokratie einen Teil des befruchtenden Wassers abzugraben versuchen. Das ist das Geheimnis für Beider Verhalten. Christlicher Pfaff und jüdischer Bankier sind Brüder mit verschiedenen Kappen, die aber an dem gleichen Strange ziehen. –

Mit großer Genugtuung verkündet die offiziöse Presse, das vorige Woche die hunderttausendste Telegrafenstange aus Bismarcks Waldungen für das Reich geliefert worden sei und dieser weltgeschichtliche Moment Veranlassung zu einer großen Festlichkeit gab. Das ist in der Tat ein weltgeschichtlicher Moment, denn er legt die Wurzeln bloß für die Tatsache, das Jeder als Reichsfeind behandelt wird, welcher die Stellung Bismarcks als Reichskanzler angreift. Wer Lieferant der Reichstelegrafenstangen ist, Papierlieferant für die Reichs-Post- und Telegrafenämter, als einer der größten Schnapsbrenner die Branntweinsteuerprämien geniest, als einer der ersten Kornbauern den Vorteil aus dem hohen Getreidezoll zieht, der muss ein in der Wolle gefärbter Reichsfreund sein, das begreifen auch wir. Darum ist auch in der Ordnung, dass Fürst Bismarck, der all‘ das in seiner Person vertritt, Reichskanzler bleiben muss bis ans Ende der Dinge, und wenn er stirbt, sein Sohn an die Reihe kommt, welcher der Erbe all‘ dieser Vorteile aus der politischen Stellung seines Vaters ist und also am besten weiß, was ihm und der Bourgeoisie frommt. Das will diese Kanaille, die Sozialdemokratie, nicht begreifen und daher ihre Opposition gegen diese Vertreter des Reichs. Es ist der reine Neid. –

In Hamburg wurden vorige Woche wieder fünf Sozialisten wegen Geheimbündelei von sechs Wochen bis zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafen wurden durch die viel länger dauernde Untersuchungshaft als verbüßt erachtet. sechs der Angeklagten wurden freigesprochen

In Berlin fanden ebenfalls vorige Woche acht Verhaftungen statt; sechs von den acht Personen waren vor einiger Zeit beim Verlassen eines Bierlokals polizeilich sistiert worden. Man vermutet die Einleitung eines neuen Geheimbundprozesses.

Ein solcher in größeren Dimensionen wird sich in Kürze wieder in Freiburg in Baden abspielen woselbst eine größere Zahl Arbeiter und auch einige Frauen der Geheimbündelei und des Schmuggels verbotener Schriften über die Schweizer Grenze angeklagt sind. Wahrscheinlich werden auch die Ochsenburger Angeklagten in Freiburg prozessiert. –

Die Reichskommission hat drei von den Landespolizeibehörden verbotene Blätter: die „Bremer Volkszeitung“, die „Kölnische Gerichtszeitung“ und den „Neuen Bauhandwerker“, Hamburg, auf erhobene Beschwerde wieder freigegeben. Ein Teil der Presse will in dieser Freigabe eine besondere liberale Gesinnung der Reichsgalgenkommission – wie sie in Sozialistenkreisen scherzhaft genannt wird – erblicken. Das ist ein Irrtum. Die Aufhebung der Verbote beweist nur, auf welch‘ nichtige Gründe hin die Polizeibehörden oft Eigentum und Existenzen vernichten.


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