[Nr. 943, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 42, 20. Oktober 1888, S. 5]
:: Aus Norddeutschland, 16. Oktober. Nachträglich wird noch bekannt, das Julius Kräcker, als er bereits auf dem Totenbette lag, eine Vorladung vor das Gericht erhielt. Er sollte abermals als Angeklagter in einem neuen Geheimbundprozess, den die Staatsanwaltschaft in Breslau anzustrengen versucht, vernommen werden. Dem hat er sich schnöde durch seinen Tod entzogen. Auch die Familie hat nachträglich das Wohlwollen der Gerichtsbehörden empfunden. Der Gerichtsvollzieher hat sich bereits bei ihnen eingefunden, um die Prozesskosten einzuziehen.
Die Presse beschäftigt sich viel mit den umfassenden Vorsichtsmaßregeln, die auf den Reisen dess deutschen Kaisers zu dessen Schutze getroffen wurden. Unglücklicherweise treffen aber von allen Seiten Nachrichten ein, dass alle diese Maßregeln nur auf Verlangen der preußischen Geheimpolizei getroffen wurden, welche den Kaiser in Scharen begleitete und sich an verschiedenen Orten durch ihr aufdringliches Wesen bemerkbar machte. Der Versuch, den Anarchisten oder Sozialisten Attentatspläne unterzuschieben, ist kläglich misslungen. Die Kritik dieser Schandmanöver wird im deutschen Reichstag gründlich besorgt und dieses widerliche gemeingefährliche Treiben der Nichtgentlemen an den Pranger genagelt werden.
Gegen Herrn Geffken geht der Prozess weiter; was die Zeitungen darüber veröffentlichen, ist wohl zumindestens drei Viertel Erfindung. Dagegen veröffentlicht die großen H … am Rhein, die „Kölnische Zeit.“, ein Urteil Geffkens über Bismarck, dessen Wiedergabe sich rechtfertigt, weil es auch mit dem Urteil anderer Leute über den Charakter des Reichskanzlers sich deckt. Geffken soll gelegentlich eines Privatgesprächs in Barmen, woselbst er vor Jahren einen Vortrag hielt, sich mehreren Verehrern des Reichskanzlers also gegenüber ausgelassen haben: „Können sie mir irgend einen edlen Charakterzug bei Bismarck nachweisen? Niemals hat er sich edelmütig erwiesen.“ Und er fügte weiter hinzu: In Bismarcks Leben fehle jeder auf ein tieferes Gemütsleben deutende, freundliche Zug; die Opfer seines Hasses verfolge er mit kalter Grausamkeit, bis er sie vernichtet habe. Wir begreifen nur nicht, wie sich die reichs- und bismarckfreundliche „Kölnische Zeit.“ zur Verbreitung eines solchen Urteils hergeben konnte, das sehr Viele außer Geffken für durchaus richtig halten und dessen Bekanntwerden doch unmöglich dem Reichskanzler angenehm sein kann Der Letztere mag auch hier rufen: Der Himmel bewahre mich vor meinen Freunden!
Vorige Woche wurden eine Anzahl Berliner Arbeiter zu Gefängnisstrafen von zwei Monaten abwärts verurteilt, weil sie die an den Berliner Plakatsäulen angeschlagene Thronrede des deutschen Kaisers mit roten Zetteln beklebt hatten, welche die Worte enthielten : Antwort! „Es lebe die Sozialdemokratie!“ Der Staatsanwalt wollte in diesem Akt eine Majestätsbeleidigung erblicken, der Gerichtshof schloss sich aber dieser Auffassung nicht an.
Mit dem Rufe: „Hoch lebe die Sozialdemokratie!“ schloss auch ein Flugblatt, das am Sonntag in Dresden in 45.000 Exemplaren verbreitet wurde. Das Sozialistengesetzliche Verbot des Verbreitens desselben ist bereits erfolgt, es verfehlt aber natürlich nachträglich seine Wirkung.
Die Bourgeoisiepresse faselt in Artikeln, die aufs Gruseligmachen berechnet sind, von der Gründung einer neuen Internationalen Arbeiter-Assoziation als einer geheimen Gesellschaft. Gleichzeitig bemüht sich die „Kreuzzeit.“ in mehreren Leitartikeln nachzuweisen, welche Gefahr in den Nachbarstaaten die Sozialdemokratie für das Deutsche Reich bilde und das dort überall der Einfluss der deutschen sozialdemokratischen Führer der maßgebende sei. Aber diese Hetzereien haben nur den Zweck, die öffentliche Meinung gegen die Partei aufzuregen und die Fortdauer unter Verschärfung der Ausnahmemaßregeln zu begründen. Zehn Jahre nach der Schaffung des Sozialistengesetzes ist die Furcht vor der verfolgten Partei größer als je vorher.
Die Mitglieder des Kommunistenbundes aus den Vierziger und Fünfziger Jahren haben an einigen ihrer Genossen interessante Wandlungen erlebt. Wallau wurde Oberbürgermeister von Mainz und starb in den siebziger Jahren als gemäßigter bürgerlicher Demokrat. H. Becker, der rote Becker genannt, ward Oberbürgermeister von Köln und Mitglied des preußischen Herrenhauses und starb in dieser Stellung Herr Miquel endlich hat es von allen Dreien am weitesten gebracht. Er war nicht nur Oberbürgermeister von Osnabrück, dann Direktor der Diskontogesellschaft, bei welcher das „Teilen“ ihm Millionen einbrachte, sondern er ist jetzt auch Oberbürgermeister von Frankfurt a. M. und Mitglied des preußischen Herrenhauses und wurde dieser Tage Ritter des roten Adlerordens II. Klasse. Das nennt man Karriere machen.
Seitens der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion wird gegenwärtig ernstlich an der Einberufung eines internationalen Arbeiter-Kongresses nach einem Orte der Schweiz gearbeitet, der im Herbst 1889 stattfinden soll. Es sollen Aufforderungen zur gemeinsamen Einladung an die bekannten Führer der Arbeiter aller Länder erlassen werden.
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