August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 945, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 43, 27. Oktober 1888, S. 4 f.]

:: Aus Norddeutschland, 23. Oktober. Aus allen Teilen Deutschlands treffen Berichte ein, woraus hervorgeht, das die Gesinnungsgenossen die zehnjährige Feier der Verhängung des Sozialistengesetzes in ihrer Art gefeiert haben. Namentlich wurde mit dem Aushängen von roten Fahnen mit entsprechenden Inschriften demonstriert. Die Berliner Genossen hatten unter anderem als sehr geeigneten Ort für das Aufhängen einer solchen Fahne den Telefondraht vor einem – Polizeibüro ausersehen. Die Feuerwehr konnte nur mit vieler Mühe das sozial-republikanische Emblem entfernen. An vielen Orten hatten die Parteigenossen auch festliche Zusammenkünfte veranstaltet; wir wohnten selbst einer solchen bei und können versichern, die Gesichter der zahlreich Anwesenden machten nicht den Eindruck als handle es sich um eine Trauerfeier. Die Gesichter strahlten vor Stolz und Vergnügen, so sehen die Sieger und nicht die Besiegten aus.

Auch die Arbeiterpresse und nicht minder die Presse der politischen Oppositionsparteien nahm fast allgemein in Leitartikeln von dem Tage Akt und besprach das Ereignis in Formen und Ausdrücken, welche den Machern des Gesetzes sicher nicht wie Musik geklungen haben. Deutlicher aber kann die furchtbare moralische Niederlage, welche die Macher und Anhänger des Gesetzes an diesem zehnjährigen Geburtstage des Schandgesetzes erreichte, nicht hervortreten, als durch das gänzliche Schweigen ihrer eigenen Presse. Man schämte sich des glänzenden Fiaskos, das man gemacht, und in der Tat, vernichtender ist noch nie das Urteil über ein Gesetz, das man einstmals als große „legislatorische Leistung“ pries, ausgefallen.

In den oberen Regionen Preußens scheint das Bedürfnis vorhanden zu sein ein klein wenig einzulenken. Der Minister des Innern, Herfurth, hat eine Weisung an sämtliche Polizeibehörden ergehen lassen, worin er mit Hinweis auf die häufigen nicht begründeten Auflösungen sozialdemokratischer Versammlungen, den Polizeiorganen größere Vorsicht und die Auswahl brauchbarer und erfahrener Beamten für die Überwachung derselben anempfiehlt. Diese Weisung könnte freilich mit eben so viel Recht an die sächsischen, bayerischen und übrigen einzelstaatlichen Polizeiorgane gerichtet sein, wo der gerügte Unfug mindestens so stark ist wie in Preußen. Wie willkürlich dabei verfahren wird, zeigt z. B. Sachsen Dort wird dem Reichstags-Abgeordneten Singer überall im Lande das Redenhalten polizeilich untersagt, wohingegen man es dem Reichstags-Abgeordneten Bebel gestattet. Wir müssten uns sehr irren, wenn sich nicht die Kritik über die Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über verschiedene Bezirke zu einer Kritik der Handhabung des Sozialistengesetzes überhaupt gestaltete. Material ist in Menge vorhanden.

In Preußen stehen Ende dieses Monats die Urwählerwahlen zu den Landtagswahlen bevor. Eine Berliner Volksversammlung, in welcher Schriftsteller Schippel eine vernichtende Kritik an dem „elendsten aller Wahlgesetze“, wie es Bismarck 1867 im Norddeutschen Reichstag selbst nannte, dem preußischen Dreiklassenwahlsystem, vornahm, und welche sich gegen jede Wahlbeteiligung der Arbeiter an den Landtagswahlen aussprechen sollte, verfiel der Auflösung. Die Stellung der sozialdemokratischen Arbeiter in Preußen zu den Landtagswahlen ist überall dieselbe, sie fordert Stimmenenthaltung Diesem Beispiel dürfte die große Masse der Wähler folgen, welche in dieser Wahlhandlung mit ihren künstlichen Klassenabstufungen und ihrer öffentlichen Stimmabgabe nur einen großen Humbug erblickt.

Am 18.d. M. fand die Prozessverhandlung in Offenburg i. B. gegen die Angeklagten A. und B. Geck und Genossen statt und endete mit kostenloser Freisprechung sämtlicher Angeklagten wegen mangelnden Tatbestandes. Und bei diesem gänzlichen Mangel an Tatbestand brachten es Staatsanwalt und Gericht, im flagranten Widerspruch mit den klaren Bestimmungen der Strafprozessordnung, fertig, die Angeklagten 6–8 Wochen in Untersuchungshaft zu nehmen, und wies das Oberlandgericht zu Karlsruhe die hiergegen erhobene Beschwerde trotz des „mangelnden Tatbestandes“ für die Untersuchungshaft als ungerechtfertigt zurück Staatsanwalt und Gericht werden begreifen, wenn diese ganze Prozedur dem unparteiischen Laien als ein Racheakt gegen die politisch verhassten Persönlichkeiten der Angeklagten erscheint. Dieser Eindruck soll unter der Offenburger Bevölkerung, wo man die Angeklagten als angesehene Bürger genau kennt, der Allgemeine sein und er wird außerhalb Offenburgs weit und breit geteilt.

Freitag, den 26. d. M. beginnt auch in München gegen Auer und Genossen ein Geheimbundprozess, in dem die Abgeordneten Bebel und Singer als Entlastungszeugen erscheinen werden. Über den Ausgang dieses, auf sehr magerem Beweismaterial beruhenden Prozesses ist man allgemein gespannt.

Kürzlich haben der Magistrat und die Stadtverordneten von Berlin unter Widerspruch der sozialistischen Stadtverordneten 500.000 Mark zu einer Kaiser-Friedrich-Stiftung bewilligt. Damit aber die überwiegend aus Deutsch-Freisinnigen bestehende Stadtvertretung dadurch nicht in den Geruch zu oppositioneller Stellung gegen den regierenden Kaiser komme, hat sie sich beeilt auch diesem zu Ehren eine spende aus dem Stadtbeutel zu bewilligen, indem sie die Errichtung eines monumentalen Brunnens nach einem bereits vom Staat angekauften Begasschen Modell beschloss Bürgerstolz vor Königsthronen. Wie sehr unser gesamtes Bürgertum in Bezug auf Charakter und Mannesstolz auf den Hund gekommen ist, das muss man täglich sehen, beschreiben lässt sich das nicht.

Verflossene Woche sprach der Abgeordnete Bebel in einer Dresdener Volksversammlung über die geplante Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. Auf seinen Antrag wurde schließlich eine Resolution angenommen, welche in der Hauptsache wohl die Einwände und Forderungen, die seitens des sozialistischen Abgeordneten im Reichstag geltend gemacht werden dürften, enthält, weshalb wir diese hier zur Veröffentlichung bringen. Diese Resolution lautet:

„Die Versammlung erklärt: Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, entspricht in keiner Weise den berechtigten Forderungen der deutschen Arbeiter. Der Entwurf ist in seiner jetzigen Gestalt unannehmbar, weil die Höhe der Renten ungenügend, die Dauer der Wartezeit zu lang, die Altersgrenze für den Empfang der Altersrente viel zu hoch, die Anzahl der für ein Beitragsjahr in Ansatz gebrachten Wochenbeiträge zu groß, dass geplante Quittungsbuch unannehmbar ist Ferner ist die Zulässigkeit der Gewährung von Naturalien in dreiviertel der Höhe der Rente (§8) zu verwerfen. Der Verlust der eingezahlten Beiträge für Diejenigen, welche, durch die Umstände gezwungen, aus der Versicherung scheiden, ist eine Ungerechtigkeit; auch enthält die Beschränkung des Reichsversicherungsamts auf eine bloße Revisionsinstanz eine schwere Schädigung der Interessen der Versicherten. Endlich erachtet die Versammlung die Organisation der Kassen für verfehlt, weil schwerfällig und kostspielig. Sie verlangt die Gründung einer einzigen Reichs-Alters- und Invaliden-Versicherungskasse für für das ganze Reich, mit dem Recht für die Unternehmer, soweit ihr Jahreseinkommen nicht über 2000 M. beträgt, dieser Kasse als Versicherte beitreten zu können. Die Versammlung verlangt ferner die Abstufung der Renten und der Beiträge nach der Höhe des Verdienstes und die Übernahme der Versicherungsbeiträge für die Versicherten durch das Reich, insofern ihr Jahreseinkommen 750 M. nicht übersteigt.“


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