Lynn Walsh: Zeitbombe Eurozone

[eigene Übersetzung des englischen Textes in Socialism Today, Nr. 186, März 2015]

Die Eurozone steckt in der Rezession und wird vom Schreckgespenst der Stagnation heimgesucht. Quantitative Lockerung wird keine magische Lösung bieten. Die Wahl einer Syriza-Regierung mit einem Antikürzungsprogramm hat die Möglichkeit eines Showdowns mit den führende Vertreter*innen des deutschen Kapitalismus und ihren Verbündeten heraufbeschworen. Eine Explosion bereitet sich vor, wie lang die Lunte auch sein mag. Lynn Walsh schreibt.

Weder die EU noch die Eurozone können behaupten, große Erfolge zu sein. Nach der „großen Rezession“ von 2007-09 und der anschließenden Rettung zahlungsunfähiger Banken beglückwünschten sich die führenden Vertreter*innen der EU dazu, die Krise überstanden zu haben. Doch im vergangenen Jahr stand die Eurozone vor dem Schreckgespenst einer langgezogenen Stagnation mit einem Wachstum nahe Null. Die Rezession war nicht länger auf die schwächeren südlichen Wirtschaften (Griechenland, Portugal, Spanien usw.) beschränkt, sondern erfasste auch die Kernländer (Frankreich, Italien und sogar Deutschland). Vor allem Deutschland wurde von der Wachstumsverlangsamung in China getroffen, die die Exporte von Deutschlands verarbeitender Industrie dämpfte. Die gemeinsame Währung konnte die Wirtschaften der Eurozone nicht vor einem schleppenden, ungleichmäßigen Wachstum mit hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, bewahren.

Ein wichtiger Faktor für die Verlangsamung der Weltwirtschaft war die Verlangsamung in China, wo das Wachstum zwischen 7-8% pro Jahr lag, verglichen mit einem Wachstum von 9-10% in den Jahren 2008-11. Das Wachstum in den USA und in Großbritannien, das zwischen 2,2-2,4% in den USA und 1,7-2,6% in Großbritannien lag, war teilweise eine Ausnahme. In beiden Ländern gibt es jedoch eine verdeckte Arbeitslosigkeit und die Löhne hinken dem Wachstum weit hinterher. Die Einkommen und Vermögen des obersten einen Prozent sind in die Höhe geschnellt.

Der jüngste Fall der Benzinpreise – 40-50% gegenüber dem vorherigen Höchststand – war ein wichtiger Faktor für die jüngsten Entwicklungen. Deutschland, Japan und anderen Wirtschaften wurde durch den Rückgang der Kraftstoffpreise ein erheblicher Schub gegeben, der den Verbraucher*innenausgaben für Waren und Dienstleistungen außerhalb des Kraftstoffsektors einen Schub gab. Die Kehrseite davon sind jedoch die Auswirkungen auf einige große Erdölproduzent*innen wie den Irak, Venezuela, Russland usw., wo der sinkende Wert der Erdöl- und Erdgasexporte große Auswirkungen auf ihre Finanzen haben wird. Dies wird zu erhöhter politischer Instabilität innerhalb einer Reihe von großen Ölproduzent*innen und zu verschärften geopolitischen Spannungen in einer Reihe von Regionen führen.

Die EZB und Quantitative Lockerung

Im Juli 2012, als die Wirtschaften der Eurozone am Rande einer Rezession schweben, versprach Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), dass er „alles Erforderliche“ tun werde, um die Eurozone zu unterstützen. Sein angedeutetes Versprechen, nach dem Vorbild der quantitativen Lockerung in den USA, Japan und Großbritannien Liquidität in die Wirtschaft zu pumpen, beruhigte die Finanzmärkte, dass er eingreifen würde, um einen neuen Abschwung zu verhindern. Jedoch die deutsche Regierung unter Angela Merkel widersetzte sich weiterhin der quantitativen Lockerung, dem Ankauf von Staatsanleihen der Eurozone durch die EZB. Draghi wich aus, obwohl die Wirtschaft der Eurozone im Jahr 2014 stagnierte (0,8% Wachstum).

Dann, zu Beginn dieses Jahres kündigte Draghi ein massives Quantitative-Lockerung-Programm an, das im März beginnen sollte. Warum diese Änderung? Ein Faktor war die Entscheidung eines wichtigen EU-Gerichts, dass es für die EZB legal sei, Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt (d. h. nicht direkt von diesen Regierungen) zu kaufen. Obendrein ließ der abrupte Rückgang der Preissteigerungsrate zum Jahreswechsel das Gespenst einer regelrechten Deflation aufkommen.

Eine Deflation hätte die Wirkung, die realen, inflationsbereinigten Preise der Schulden zu steigern, eine zusätzliche Belastung der Wirtschaft. Deflation drückt auch die Profite der Großunternehmen zusammen und führt zu einem Rückgang von Investitionen, was wahrscheinlich die Arbeitslosigkeit erhöhen würde. Unter diesen Bedingungen stimmte die deutsche Regierung dem Quantitative-Lockerung-Programm der EZB nur widerwillig zu. Der Plan sieht vor, dass die EZB jeden Monat Staatsanleihen und andere Schuldtitel im Wert von 60 Milliarden Euro kauft, als Mittel, um zusätzliche Liquidität in die Banken zu pumpen. Insgesamt plant Draghi, 1,1 Billionen Euro (820 Mrd. Pfund) auszugeben.

Von einigen als mutiger Schritt begrüßt, kritisierten andere das Quantitative-Lockerung-Paket als „zu wenig, zu spät“. Auf dem Wirtschaftsforum in Davos warnte Lawrence Summers, ehemaliger US-Finanzminister, dass „es ein Fehler ist, anzunehmen, dass Quantitative Lockerung ein Allheilmittel in Europa oder dass es ausreichend sei“. Gleichzeitig erklärte Mark Carney, Gouverneur der Bank of England, dass nicht die Geldpolitik allein „das Risiko einer anhaltenden Stagnation beseitigen“ könne.

Carney argumentiert, dass der Erfolg der Eurozone von einer gemeinsamen Steuer- und Ausgabenpolitik abhänge – und fordert die Länder der Eurozone auf, grenzüberschreitende Transfers von Steuereinnahmen zuzulassen. Deutschland, die Niederlande, Finnland und andere Mitglieder der Eurozone lehnen jedoch die Idee einer „Transferunion“, bei der Mittel von den reicheren in die ärmeren Länder der Eurozone verlagert würden, kompromisslos ab. Carneys Vorschläge sind „logisch“, stoßen aber sofort auf die gegensätzlichen nationalen Interessen der Staaten, die die Eurozone bilden. Die führende Vertreter*innen der Eurozone kritisieren Carney – und die britische Regierung – als „Außenstehende“, die kein Recht hätten, eine extravagante Ausgabenpolitik für die Schlüsselwirtschaften der Eurozone zu befürworten.

Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Quantitativer Lockerung ist jedoch mehr als berechtigt. In den USA, Japan und Großbritannien, die Quantitative Lockerung in großem Umfang durchgeführt haben, wurde ein Großteil der von den Zentralbanken geschaffenen Mittel über die Geschäftsbanken an reiche Spekulant*innen weitergeleitet. Die Mittel wurden für Investitionen in „aufstrebende Märkte“, in die Entwicklung von Luxusimmobilien, den Kauf von Unternehmensanteilen und reine Spekulationen verwendet. Wenig oder nichts davon floss in den sozialen Wohnungsbau, in Bildung, die Erneuerung der Infrastruktur oder in Investitionen in der verarbeitenden Industrie. In der Eurozone wird es dasselbe sein. Das ist Keynesianismus für Banker*innen und Spekulant*innen.

Kürzungspolitik

Unter dem Kürzungsregime der Eurozone, das hauptsächlich von den führenden Vertreter*innen des deutschen Kapitalismus diktiert wurde, „haben sich die rezessionsgeplagten Euro-Krisenländer [statt die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen – LW] nun in eine Depression gespart, was zu Massenarbeitslosigkeit, einem alarmierenden Maß an Armut und wenig Hoffnung führt“. Dies schreibt Joschka Fischer, der ehemalige grüne deutsche Außenminister. Die brutalen Kürzungsmaßnahmen, die Griechenland aufgezwungen wurden, haben das Land in einen tiefen Wirtschaftseinbruch gestürzt. Es gab einen BIP-Rückgang um 28%, wobei der inländische Verbrauch um 40% fiel. Die Arbeitslosigkeit beträgt 26%, die Jugendarbeitslosigkeit verheerende 57%. Viele Bereiche der Gesellschaft brechen zusammen.

Die Staatsverschuldung hat schwindelerregende 175% des BIP erreicht, was völlig untragbar ist. Mehr als die Hälfte des von Griechenland geliehenen Geldes, das angeblich die Krise lösen sollte, wurden für den Schuldendienst ausgegeben. Von den insgesamt 254,4 Mrd. EUR an Krediten der Troika – EZB, IWF und Europäische Kommission – und den eigenen Finanzmitteln (Steuern usw.) wurden nur 27 Mrd. EUR für den „staatlichen Betriebsbedarf“ ausgegeben. Der ganze Rest wurde für die Rückzahlung von Krediten, Zinsen und die Rekapitalisierung der griechischen Banken ausgegeben.

Die griechische Regierung hat durch brutale Ausgabenkürzungen und erhöhte Steuern einen primären Haushaltsüberschuss (Saldo ohne Schuldendienst) von 1,5% des BIP erzielt – aber nach den Plänen der Troika soll Griechenland bis 2016 einen Primärüberschuss von 4,5% des BIP erreichen. Dies könnte nur durch mehr Kürzungen und Steuererhöhungen erreicht werden – eine massiv erhöhte Belastung der griechischen Arbeiter*innenklasse und immer breiterer Teile der Mittelschicht.

Deutschland und der Grexit

Im Jahr 2012 erwogen Merkel und ihre politischen Verbündeten in der Eurozone einen Austritt Griechenlands, um die Eurozone zu stabilisieren. Sie entschieden sich jedoch gegen einen solchen Kurs und zwangen stattdessen Griechenland ein Rettungspaket auf, das an äußerst strenge Bedingungen geknüpft war. Ihr Kalkül war, dass, wenn Griechenlands austräte und mit einer Abwertung zur Ankurbelung der Exporte zur Drachme zurückkehrte, andere Länder wie Portugal, Spanien usw. folgen könnten. Wenn sie zu ihren eigenen Währungen zurückkehrten, würden sie auf einen Abwertungswettlauf und Handelsmaßnahmen zu Lasten der anderen Länder zurückgreifen. Damit würde das Auseinanderbrechen der Eurozone drohen, möglicherweise mit dem Überleben eines Rumpfblocks Deutschland-Niederlande-Belgien.

Ein brutales Kürzungspaket war der Preis, den das griechische Volk zu zahlen gezwungen war. Für die fortgesetzte Mitgliedschaft in der Eurozone beutete die Troika, die das Paket gesponsert hat, die feige Kapitulation der griechischen Regierung, der Koalition aus Nea Dimokratia und Pasok, aus. Sie zogen auch Nutzen aus der Tatsache, dass eine Mehrheit der Menschen in Griechenland den Verbleib in der Eurozone befürwortete, da der Euro mit Wachstum, Modernisierung usw. der griechischen Gesellschaft in Verbindung gebracht wurde.

Eine ähnliche Lage ist heute gegeben. Deutschland würde es vorziehen, Griechenland in der Eurozone zu halten und die Aussicht auf ein Auseinanderbrechen der Eurozone zu vermeiden. Der große Unterschied zu 2012 ist jedoch, dass das griechische Volk die Folgen einer beispiellosen Kürzungspolitik erlitten hat.

Ein Auseinanderbrechen der Eurozone unter den derzeitigen Bedingungen hätte, wenn überhaupt, noch katastrophalere Auswirkungen als 2012. Die Idee, dass die jüngsten Bankenreformen es den europäischen Banken ermöglichen würden, eine weitere schwere Krise zu überstehen, ist Fantasie. Eine Kernschmelze der Eurozone würde im weltweiten Geldsystem Erschütterungen hervorrufen. Ein Vorgeschmack darauf ist die Aufhebung der Bindung zwischen dem Schweizer Frankens (CHF) und dem Euro. Die Schweizer Behörden wollen nicht, dass der Franken durch den sinkenden Euro nach unten gezogen wird, was ihr Bankgeschäft ernsthaft untergraben würde. Der Wert des Euro ist durch die Einführung von Quantitativer Lockerung stark gesunken, was zwangsläufig den Wechselkurs des Euro untergräbt. Eine unmittelbare Folge: Pol*innen, die ihre Häuser mit CHF-Krediten bei Schweizer Banken gekauft haben, müssen nun ruinöse Rückzahlungen leisten, da der Wert des CHF gegenüber dem Euro steigt. Auch die dänischen Behörden könnten gezwungen sein, die Bindung zwischen der Krone an dem Euro aufzuheben.

Die Logik der gegenwärtigen Lage könnte unabhängig von den unmittelbaren Absichten der führenden politischen Vertreter*innen auf beiden Seiten zu einem Auseinanderbrechen führen. Die Schulden Griechenlands sind objektiv nicht rückzahlbar. Als Ergebnis des durch die Kürzungsmaßnahmen verursachten Wirtschaftseinbruchs steigen die Schulden im Verhältnis zum BIP sogar noch an. Viele kapitalistische Kommentator*innen argumentieren, dass ein großer Teil der griechischen Schulden unweigerlich abgeschrieben werden müsse und es besser wäre, rechtzeitig zu handeln. Reza Maghardan, ein ehemaliger IWF-Beamter, argumentiert beispielsweise für das Abschreiben der Hälfte der griechischen Schulden.

An einem bestimmten Punkt könnten die griechischen Kapitalist*innen entscheiden, dass ein größerer Schuldenerlass praktikabler wäre als eine andauernde, durch Kürzungsmaßnahmen verursachte Stagnation. Aber auf kapitalistischer Basis würden Grexit und Zahlungsausfall der griechischen Arbeiter*innenklasse eine schreckliche Last der „Erholung“ auferlegen, wie in Argentinien in den Jahren 2000-03. Für die Arbeiter*innenklasse erfordert der Aufschwung das Eigentum an und die Kontrolle über die Banken und große Teile der Wirtschaft sowie einen demokratischen Plan für Produktion und Handel.

Viele führende Vertreter*innen der Eurozone sind entsetzt über die Aussicht auf soziale Unruhen in Griechenland: in Wirklichkeit steht ihnen das Gespenst der Revolution gegenüber. Eine Explosion in Griechenland würde ähnliche Explosionen in Spanien, Italien, Frankreich, etc. auslösen. Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble vertreten jedoch weiterhin eine starre, harte Linie bei Griechenlands „Verpflichtungen“. Sie prangern weiterhin die „ verantwortungslose Kreditaufnahme“ und die „fiskalische Verschwendungssucht“ Griechenlands an. Doch die verantwortungslose Kreditaufnahme stützte sich auf einer verantwortungslose Kreditvergabe, bei der deutsche Banken eine Vorreiterrolle spielten. Die extravaganten öffentlichen Ausgaben wurden zudem von korrupten Regierungen und Staatsbediensteten gefördert. Wohlhabende Griech*innen zahlten wenig oder keine Steuern und plünderten den Finanzsektor und den Staat. Die Schulden wurden nicht von der griechischen Arbeiter*innenklasse aufgehäuft.

Gleichzeitig zog der deutsche Kapitalismus aus seiner Position in der Eurozone Gewinn. Die Teilnahme von schwächeren Wirtschaften wie Griechenland hielt den Wert des Euro an den Devisenmärkten niedrig. Dies gab Deutschland einen Preisvorteil auf den Exportmärkten. Ohne die Eurozone wäre eine deutsche nationale Währung viel stärker gewesen, was es für Deutschland schwieriger gemacht hätte, seine Produkte in den Rest der Welt zu exportieren. Jahr für Jahr hatte Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss (angekurbelt durch Exporte auf Kosten der Binnennachfrage). Dies machte es für schwächere Wirtschaften wie Griechenland schwierig, Waren auf den deutschen Markt zu exportieren, während Deutschland viele Möglichkeiten hatte, seine Waren auf südeuropäische Märkte zu exportieren.

Deutschland war eine Schlüsselkraft bei der Entwicklung der Eurozone. Aber Merkel sieht die Eurozone als Finanzpolizei, die Haushaltsdefizite und Staatsschulden begrenzt. Die deutsche Regierung hat die EZB daran gehindert, als Bank der letzten Instanz für die Regierungen der Eurozone zu fungieren. Deutschland hat dem Quantitative-Lockerung-Programm der EZB nur wegen dem Drohen eines allgemeinen Wirtschaftseinbruchs in der Eurozone zugestimmt. In den letzten Jahren haben Merkel und ihre Verbündeten auf eine koordiniertere, institutionalisierte Führung für die Eurozone gedrängt – allerdings nur, um deren Polizeirolle zu stärken. Das Ergebnis der drastischen Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben war eine Periode der Stagnation, bei der der deutsche Kapitalismus selbst im Jahr 2014 in eine Rezession geriet. Die Unterschiede im BIP-Wachstum und im Lebensstandard zwischen den reicheren und den ärmeren Mitgliedern der Eurozone vergrößerten sich in den letzten Jahren scharf.

Merkel und ihre Vasall*innen haben die Idee einer Fiskalunion nach dem Vorbild von Bundesstaaten wie Kanada, den Vereinigten Staaten usw. beständig abgelehnt. In Bundesstaaten gibt es eine gewisse Umverteilung der Einnahmen, die regionale Unterschiede teilweise ausgleicht und die schwächeren Staaten in der Rezession abfedert. Deutschland hat derartige Vorschläge stets als „Transferunion“ abgelehnt, bei der es um Zuteilungen des „sparsamen“ Deutschland an die „verschwenderischen“ Länder im Süden gehe.

Vorläufige Vorschläge

Nach angespannten Verhandlungen einigten sich die führende Vertreter*innen der Syriza-Regierung am 20. Februar mit den „Institutionen“, die früher als Troika bekannt waren, vorläufig. Dies wird eine weitere Kredittranche freigeben, die einen Zahlungsausfall Ende Februar abwenden wird, wenn einige der laufenden Kredite auslaufen.

Alexis Tsipras, Syriza-Chef und Ministerpräsident und Yanis Varoufakis, Finanzminister, behaupteten, sie hätten „einen wichtigen Verhandlungssieg“ erzielt. In Wirklichkeit haben die führenden Syriza-Vertreter*innen einen Purzelbaum geschlagen. Einige kosmetische Änderungen wurden vereinbart: Die verhasste Troika wurde zu den „Institutionen“, die „Memoranden“ – das Kürzungspaket – werden nicht mehr erwähnt. Die Substanz bleibt jedoch. Tsipras-Varoufakis gingen mit der Aussage in die Gespräche, dass sie die Fortsetzung des bestehenden Kürzungspakets in keiner Form akzeptieren würden. Sie forderten eine neue Vereinbarung, die die katastrophalen Kürzungsmaßnahmen, die der griechischen Arbeiter*innenklasse aufgezwungen wurden, aufhebt.

Schließlich akzeptierten sie das bestehende Paket, wobei sie bestenfalls einen gewissen „Spielraum“ beim primären Haushaltsüberschuss (vor Schuldenrückzahlungen) erhielten. Gegenwärtig soll dieser 3% des BIP im Jahr 2015 und 4,5% im Jahr 2016 betragen. Varoufakis argumentiert, dass der Primärüberschuss 1,5% des BIP sein sollte. Dies würde bedeuten, dass die Rückzahlung der Schulden viel langsamer erfolgen würde als derzeit gefordert, was einen weiteren „Schuldenschnitt“ (Schuldenerlass) für Griechenlands Gläubiger*innen bedeuten würde. Es gibt keine Anzeichen, dass die deutsche Führung bereit sei, einen solchen Schuldenschnitt zu akzeptieren.

Im Gegenteil, Schäuble hat wiederholt gefordert, dass Griechenland an seiner ursprünglichen Vereinbarung festhalte. Wie andere führende neoliberale Vertreter*innen sieht er nicht, dass die Schulden Griechenlands objektiv nicht rückzahlbar sind. Schäuble und Co. sind entschlossen, den führenden Syriza-Vertreter*innen eine schwere, demoralisierende Niederlage beizubringen, als Abschreckung für Podemos und andere Antikürzungskräfte in Europa. Sie scheinen sich nicht um die sozialen Folgen ständiger Kürzungsmaßnahmen zu kümmern, die früher oder später explosiven politischen Umwälzungen von noch nie dagewesenem Ausmaß provozieren werden.

Varoufakis behauptet, es gebe eine „konstruktive Unklarheit“ darüber, wie streng das Kürzungspaket sein solle. Die griechische Führung wird eine geänderte Version vorlegen, die die Betonung auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Schmuggel und Korruption legen wird. Aber sie muss von den Institutionen genehmigt werden, und Schäuble hat deutlich gemacht, dass sie „Details“ sehen wollen – Zahlen für Kürzungen – und keine vagen politischen Versprechen. Obendrein wird das Kürzungsprogramm weiterhin von den Institutionen überwacht werden.

Die Brüsseler Gespräche haben bestätigt, dass Deutschland, die dominierende europäische Macht, die Politik der Eurozone diktiert. Unterstützt wird Deutschland von den Niederlanden und Finnland, die zusammen einen von Deutschland geführten Block bilden. Aber Schäuble wird auch von den neoliberalen Regierungen in Portugal, Spanien und Irland unterstützt, die selbst rigorose Kürzungsprogramme durchgeführt haben – und eine politische Gegenreaktion fürchten, wenn Griechenland jetzt Zugeständnisse gemacht würden.

Die führenden Syriza-Vertreter*innen haben es bisher versäumt, die deutsche neoliberale Politik herauszufordern. Dies kann nicht durch Verhandlungen im Rahmen der offiziellen Institutionen von EU/Eurozone, EZB und IWF erreicht werden. Der Bruch mit der Kürzungspolitik und die Wiederherstellung des Lebensstandards des griechischen Volkes erfordern die Massenmobilisierung der Arbeiter*innenklasse und ein alternatives sozialistisches Programm um die Kontrolle über die Wirtschaft zu übernehmen. Dies würde ein Programm für ein sozialistisches Europa erfordern.

Eine vorübergehende Lösung

Bei Redaktionsschluss (24. Februar) berichtet BBC News, dass die Finanzminister*innen der Eurozone die von Griechenland vorgelegten Reformvorschläge als Bedingung für eine Verlängerung des Rettungspakets bis Juni gebilligt hätten. Die Regierung Tsipras schlägt unter anderem vor, Steuerhinterziehung und Korruption zu bekämpfen. Sie verpflichtet sich, bereits eingeführte Privatisierungen nicht rückgängig zu machen, aber noch nicht umgesetzte Privatisierungen zu überprüfen. Sie würde Tarifverhandlungen einführen, aber keine sofortige Erhöhung des Mindestlohns anstreben. Sie würde die „humanitäre Krise“ Griechenlands mit Wohnungsgarantien und kostenloser medizinischer Versorgung für nicht versicherte Arbeitslose angehen, aber ohne allgemeine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben. Sie würde die Löhne im öffentlichen Dienst reformieren, um weitere Lohnkürzungen zu vermeiden, ohne die Gesamtlohnsumme zu erhöhen, und die Verwaltung der Renten reformieren, ohne die Zahlungen zu kürzen. Sie würde die Zahl der Ministerien von sechzehn auf zehn reduzierten, Sonderberater und Nebenleistungen für Beamte würden gekürzt.

Diese Formeln spiegeln ein Abwiegeln in entscheidenden Fragen wider. Die Institutionen haben sich vor einem direkten Zusammenstoß mit der Syriza-Regierung gedrückt. Syriza wurde erlaubt, dem überarbeiteten Rettungsprogramm seinen Stempel aufzudrücken. Doch die führenden Vertreter*innen der Eurozone bereiten sich eindeutig auf einen Kampf vor. Sowohl die Europäische Kommission als auch die EZB erklärten, die griechischen Vorschläge seien ein „stichhaltiger Ausgangspunkt“. Sie hätten „eine unmittelbare Krise abgewendet“, sagte EU-Kommissar Pierre Moscovici. Aber „das bedeutet nicht, dass wir diese Reformen billigen“: Sie seien die Grundlage für weitere Diskussionen.

Die schärfste Kritik kam von Christine Lagarde, der Chefin des IWF. Den Syriza-Vorschlägen fehle es an „klaren Zusicherungen“ in Schlüsselbereichen, sagte sie: „In einer ganzen Reihe von Bereichen … einschließlich der vielleicht wichtigsten, vermittelt der Brief [der griechischen Regierung] keine klaren Zusicherungen, dass die Regierung beabsichtigt, die geplanten Reformen durchzuführen“. Draghi sagte, es sei notwendig zu prüfen, ob die von Griechenland abgelehnten Maßnahmen „durch Maßnahmen gleicher oder besserer Qualität ersetzt werden“. Mit anderen Worten: Kürzungen müssen durch Kürzungen oder noch stärkere Kürzungen ersetzt werden.

Dies ist ein Patt, das nicht unbegrenzt andauern wird. Im Juni oder vielleicht sogar schon früher werden die gleichen Fragen wieder auftauchen – und die Arbeiter*innen in Griechenland, aber auch in Spanien, Portugal, Irland und anderswo werden noch ungeduldiger darauf warten, die Kürzungspolitik zu überwinden und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Institutionen werden die Schrauben in Griechenland anziehen. Die führende Syriza-Vertreter*innen mögen argumentieren, dass sie Zeit gewonnen hätten. Aber das wird nur dann von Nutzen sein, wenn sie dringend Massenkräfte für eine Machtprobe mit den kapitalistischen Mächten mobilisieren, die Europa beherrschen.


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