[Nr. 1005, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 16, 19. April 1889, S. 4 f.]
:: Aus Norddeutschland, den 16. April. Was wir in unserem letzten Briefe bezüglich der „Volkszeitung“ vorausgesagt, ist eingetroffen. Die Reichskommission hat das Verbot des Blattes aufgehoben. Die Motivierung ist aber eine so eigentümliche und bedenkliche, das sie in den weitesten Kreisen. große Verwunderung erregte. Zum ersten Male ist durch die Reichskommission festgestellt, wie auch ein rein bürgerliches Blatt als ein sozialdemokratisches angesehen werden kann, indem es Tendenzen verfolgt, die „auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung in einer den öffentlichen Frieden oder die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise abzielen“. Die Beweisführung ist so einfach wie möglich. Ist ein Blatt schon von Natur, wie wir uns ausdrücken möchten, oppositionell gesinnt, sagt es, wie die „Volkszeitung“, zeitweilig der Monarchie einige bittere Wahrheiten und nimmt es sich dabei weiter heraus, die offizielle Sozialreform als sehr mangelhaft, vielleicht als schwindelhaft anzusehen, so sind nach der Logik der Reichskommission alle die Merkmale vorhanden, welche gestatten, auf Grund des Sozialistengesetzes einem Blatte das Lebenslicht auszublasen, was sonst immer seine Parteistellung sei. Trifft es sich dann noch, wie bei der Redaktion der „Volkszeitung“, dass bei einer Haussuchung bei dem Redakteur Briefe von so berüchtigten Sozialdemokraten vorgefunden werden, wie Bebel, Grillenberger, Liebknecht, Singer sind, auch wenn diese Briefe mit sozialistischen Bestrebungen nicht das Geringste zu tun haben, so ist für die Reichskommission der Beweis geliefert, „das eine gewisse Verständigung zwischen diesen Sozialdemokraten und der Redaktion des betreffenden Blattes über die Richtung des letzteren und die Aufnahme sozialdemokratischen Zwecken dienender Artikel vielfach stattgefunden hat“. Worin diese „Verständigung“ im vorliegenden Falle eigentlich bestand, geht am schlagendsten aus einem Briefe Grillenbergers an den Redakteur Mehring hervor, in welchem er dem Letzteren anzeigte, das er an einem bestimmten Tage in Berlin eintreffen werde, und dann hoffe, ihn (Mehring) im Hofbräu zu einem echten teutschen Trunk zu treffen. Wer unseren Freund Grillenberger kennt, weiß, das er zu einer „solchen „Verständigung“ jeden Abend bereit ist, auch mit weniger schlimmen Leuten als Redakteuren der „Volkszeitung“, vorausgesetzt, das sie „gemütliche Kerle“ sind und ihre Maß mit Anstand vertragen.
Was in den Augen der Reichskommission trotz dieser angeführten Schlüsse die „Volkszeitung“ vor dem wohlverdienten Untergange rettete, war, dass der Polizeipräsident von Berlin die Ungeschicklichkeit beging, auf Grund einer Nummer des Blattes das Verbot auszusprechen, die unglücklicher Weise gar nichts Sozialdemokratisches enthielt; sie enthielt nicht einmal einen Artikel, den man in die angebliche sozialdemokratische Tendenz des Blattes einreihen konnte, und so musste das Verbot aufgehoben werden.
Eins hat die Reichskommission mit musterhaftem Geschick fertig gebracht, sie hat ihrem juristischen Gewissen Rechnung getragen, indem sie das Verbot aufhob, und sie hat zugleich den Wünschen höchster Personen einen Dienst geleistet, indem sie das Blatt als ein solches mit sozialdemokratischer Tendenz stempelte, und dem Berliner Polizeipräsidium den Weg zeigte, wie es bei nächster Gelegenheit dem Blatte den Todesstoß geben könne. Der Artikel braucht an sich nicht die Merkmale zu haben, die an und für sich das Verbot rechtfertigten – die Reichskommission erkennt ausdrücklich an, dass kein einziger der von ihr aus früheren Nummern hervorgehobenen Artikeln für sich das Verbot ermögliche – aber im Zusammenhang mit so und so viel anderen Artikeln ähnlicher Art ergibt sich eine Tendenz, welche die Merkmale der im Sozialistengesetz verbotenen Bestrebungen an sich trägt und das genüge für das Verbot. Mit anderen Worten: Die Reichskommission erklärt: jeder der von ihr beanstandeten Artikel an sich betrachtet ist eine Null, aber die Aneinanderreihung von so und so vielen Nullen gibt eine Zahl, die das ausdrückt, was sozialistengesetzlich getroffen werden soll. Der Widersinn und die Unvernunft einer solchen Logik ist dem jüngsten Sextaner klar, aber sie genügt, um im Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte als Ausbund staatsmännischer Weisheit, mit welcher ein großes Volk regiert werden kann, angesehen zu werden.
Die „Volkszeitung“ ist überhaupt berufen, die norddeutsche Logik, die heute Regierungslogik ist, gründlich durchzukosten. Wie schon früher gemeldet, wurde ihre Nummer vom 9. März wegen eines Artikels über Charakter und Taten des verstorbenen Kaisers Wilhelm I. konfisziert. Die Staatsanwaltschaft sah in dem Artikel eine Beleidigung des verstorbenen Kaisers. Da aber ein Verstorbener unmöglich beleidigt werden kann, so konnten nur die nächsten Hinterbliebenen des Verstorbenen sich beleidigt fühlen, und diese müssen nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches hierauf einen Antrag stellen. Dessen weigerte sich aber, zu ihrer Ehre sei es gesagt, sowohl die Kaiserin-Witwe, wie das einzige noch lebende Kind des Verstorbenen, die Großherzogin von Baden. Der jetzige Kaiser als Enkel konnte keinen Strafantrag stellen. So musste das Verfahren eingestellt werden. Plötzlich wird dasselbe wieder aufgenommen, und zwar weil jetzt der Staatsanwaltschaft der geniale Gedanke kam – wer ihn ihr eingeblasen hat, weiß man nicht, es wäre aber sehr interessant es zu wissen – dass, weil der jetzige Kaiser das Regierungsprogramm seines Großvaters akzeptiert habe, er durch die Angriffe auf diesen beleidigt sei. Genialität kann man dieser Entdeckung nicht absprechen, sie stellt eben alle Gesetze, alle Logik und alle Erfahrung auf den Kopf und stabiliert die absoluteste Rechtsunsicherheit als Grundlage des Staates. Wahrhaftig, die Elemente, „die auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung“ mit aller Macht hinarbeiten, sitzen ganz woanders als in den Reihen der Sozialdemokratie.
Für die offizielle Vertreterin der letzteren, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, fällt auch ein Brocken von dieser neudeutschen Rechtsauffassung ab. Die Staatsanwaltschaft des Elberfelder Landgerichts, die bekanntlich den Monster-Geheimbundsprozess ins Leben setzte, hat die kühne Idee, auch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion als die öffentlich anerkannte Leitung der über ganz Deutschland verbreiteten geheimen Verbindung, welche die erwähnte Staatsanwaltschaft endlich entdeckt haben will, anzuklagen. Die Staatsanwaltschaft hat diese Idee schon in der gedruckten Anklageschrift gegen die 128 der Geheimbündelei Beschuldigten ausgesprochen, und dieser Gedanke ist dieser Tage durch einen offiziösen Berichterstatter des „Hamburger Korrespondent“ in die Öffentlichkeit gedrungen. Dem erwähnten Berichterstatter scheint der Plan vorläufig selbst noch ein wenig bedenklich zu sein, denn er schließt seine Auslassungen mit dem Satz: „Die ganze Parteivertretung wäre damit in die Luft gestellt (wenn die Elberfelder Staatsanwaltschaft Recht behielte), und es würde sich nur fragen, ob damit betreffs der weiteren sozialdemokratischen Bewegung ein Gewinn im staatserhaltenden Sinne erzielt sein würde.“
Dies zu erwägen, überlassen wir unseren Staatsgelehrten. Die Fraktion sieht der Prozedur sehr kaltblütig entgegen. Die Nürnberger hängen keinen, bevor sie ihn haben, und so wird’s auch in Elberfeld sein. Um die Fraktion als das gesetzlich zu treffen, als was sie der Elberfelder Staatsanwalt ansieht, müssten die §§ 128 und 129 des Strafgesetzes abermals eine andere und viel weitere Auslegung erfahren, als sie bisher schon erfahren haben. Das mag ja bei unseren Juristen kein Ding der Unmöglichkeit sein – denn wir haben das früher für unmöglich Gehaltene schon so und so viel Mal erlebt – aber eine Grenze hat doch auch die juristische Interpretationskunst und sollte sie solche auch erst an der Auflehnung des öffentlichen Gewissens finden. Kommt der Prozess, so dürfte er das öffentliche Interesse wie keiner seiner Vorgänger in Anspruch nehmen, und wie immer derselbe ausfällt, es wären nicht die Angeklagten, welche die moralische Niederlage trifft.
In der Fraktion war man schon seit mehreren Wochen von dem Plane unterrichtet, man erörterte auch die Frage, ob man nicht der Elberfelder Staatsanwaltschaft anzeigen solle, das die Fraktion auf die Geltendmachung ihrer Immunität während der Dauer des Reichstages verzichte, damit die Staatsanwaltschaft sofort mit der Anklage vorgehen könne, schließlich hielt man aber für richtiger, den jetzigen Angeklagten die Möglichkeit zu gewähren, Fraktionsmitglieder als Entlastungszeugen laden zu können. So stand man von dem Vorschlage ab.
Der Reichstag ist am 12. d. M. in die Ferien gegangen, ohne dass er die zweite Lesung des Alters- und Invalidenversicherungsgesetzes erledigen konnte. Nicht zwei Drittel des Gesetzes wurden durchberaten und an einem der wichtigsten Paragrafen, an demjenigen, welcher die Höhe der Alters- und Invalidenrente nach den Beitragsjahren regelt, und der einstweilen zurückgestellt worden war, blieb die Beratung hängen. Alles Drängen und Treiben, das Gesetz wenigstens in zweiter Lesung durchzudrücken, war vergeblich, der gute Wille der Majorität erlahmte an den Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellten. Die Überhastung, womit man trotzdem bei den wichtigsten Fragen zu Werke ging, zeigte sich am deutlichsten bei der Berechnung der Rentensätze. Man musste sogar vom Bundesratstisch zugeben, dass man die Sätze aufgestellt, ohne vollkommen brauchbare Unterlagen dafür zu besitzen, und weiter wurde von der Opposition sogar nachgewiesen, dass man in der gedruckten Vorlage an den Reichstag die günstigeren Rentensätze, welche durch die zweite Lesung in der Kommission angenommen worden waren, nicht zum Abdruck gebracht habe und so ein ganz falsches Bild als das Resultat der verschiedenen Beratungen dem Reichstag vorlegte. Das ist sicher das Stärkste was man einer Parlamentsmehrheit vorwerfen kann.
Für die Sozialdemokratie ist die Stellung gegeben, sie wird gegen das Gesetz stimmen, weil es in keiner Weise dem entspricht, was die Arbeiter von ihm erwarten müssen.
Die Ferien des Reichstags dauern bis zum 7. Mai, dann wird sich zeigen, mit welcher Stimmung die schweren Herzens in die Ferien gegangene Majorität zurückkehrt.
Eine neue welterschütternde Reform steht Deutschland bevor, welche die beteiligten Kreise lebhaft beschäftigt. Am kaiserlichen Hof soll eine neue Hofkleiderordnung eingeführt werden, welche vorschreibt, das Besuche an jener heiligen Stätte nur noch in kurzen Hosen, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen stattfinden dürfen. So würde die Mode des ancien régime im Jahre der hundertjährigen Jubelfeier der französischen Revolution glücklich wieder eingeführt. Moden repräsentieren Anschauungen und Gesinnungen und so bleibt, kein Zweifel, wohin man von oben abzielt, wenn die Zeit es ermöglicht. Vorerst sind unsere Gummiwarenfabrikanten in Aufregung, die sich rüsten, die Fabrikation falscher Männerwaden sofort in Angriff zu nehmen, sobald die von ihnen sehnlichst erwartete Kleiderverordnung erlassen wird. Das Volk der Denker kommt immer mehr auf den Hund.
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