[Nr. 950, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 47, 24. November 1888, S. 6 f.]
:: Aus Norddeutschland, 20. November. Die in den letzten Monaten stattgehabten Reichstags-Ergänzungswahlen zeigen eine so ausgesprochene oppositionelle Tendenz, das es der gegenwärtigen Reichstagsmehrheit um ihre Plätze Angst und Bange werden muss. schon bei den allgemeinen Wahlen im Februar 1887 hatten die verschiedenen Oppositionsparteien zusammen mehr Stimmen, als die Kartellparteien, letztere hatten aber das Glück, mit weniger Stimmen mehr Mandate zu erobern, wie das bei dem gegenwärtigen Wahlsystem nicht selten vorkommt. Das dürfte das nächste Mal anders werden. Eine glänzende Bestätigung von dem „Zug nach links“, der heute dass Volk erfasst hat, gab die Nachwahl im 18. Hannoverschen Wahlkreis, wo der zum Oberpräsidenten avancierte Führer der Nationalliberalen, Herr von Bennigsen, sich einer Nachwahl unterziehen musste. Im Februar 1887 hatte Bennigsen 8791 Stimmen erhalten, der sozialdemokratische Kandidat Molkenbuhr 1620 Stimmen. Diesmal erhielt Bennigsen nur 5367 stimmen, der Sozialdemokrat 2045 Stimmen. Auch der deutschfreisinnige und welfische Kandidat erhielt weniger stimmen als 1887. Das Resultat ist für die Sozialdemokratie um so glänzender, da mit Ausnahme weniger kleiner Städte der ganze Wahlkreis nur Landbevölkerung aufweist.
Allen Anzeichen nach zu schließen, kann die Partei getrosten Mutes den nächsten allgemeinen Wahlen entgegengehen, sie dürfte dann mit einer vollen Million Stimmen gegen 763.000 im Jahre 1887 auf dem Kampfplatz erscheinen. Allem Vermuten nach wird der Zusammentritt des Reichstages der sozialdemokratischen Fraktion Gelegenheit geben, mit einer öffentlichen Aufforderung an die Partei, sich zum nächsten Wahlkampfe zu rüsten, hervorzutreten. In Breslau, wo an Stelle des verstorbenen Kräcker in Bälde eine Nachwahl stattfinden muss, wird sozialistischerseits Schneidermeister Aug. Kühn in Langenbielau im schlesischen Eulengebirge als Kandidat aufgestellt werden. Einstweilen haben die „Reichstreuen“ bei der kürzlichen Anwesenheit des deutschen Kaisers in Breslau damit die Wahlagitation begonnen, das sie dem Kaiser seitens der „reichstreuen“ Arbeiter Schlesiens einen großen Fackelzug bringen ließen, an dem angeblich sich 10-12.000 Arbeiter beteiligten. Da in Breslau allein mehrere tausend königliche Eisenbahnarbeiter sind, die bei einer solchen Demonstration nicht fern bleiben dürfen ohne Gefahr für ihre Stellung, erklärt sich die Beteiligung sehr leicht. In einer großen Anzahl anderer Fabriken und Werkstätten wurde ebenfalls mit Hochdruck für die Beteiligung der Arbeiter gewirkt. Die Kosten schienen die reichstreuen Unternehmer hergeben zu wollen, jetzt machen aber die christlichen Arbeitervereine Breslaus bekannt, das diese noch nicht gedeckt seien und sie dieselben unmöglich tragen könnten. Geschieht den Leuten recht, die Lehre wird gute Früchte tragen. Der Kaiser geruhte eine Deputation der Arbeiter gnädigst zu empfangen und gewährte dem Arbeiterführer das allgemeine Ehrenzeichen, dem Macher von Seiten der Bourgeoisie den roten Adlerorden vierter, d. h. letzter Klasse. Auch bekam jedes Mitglied der Arbeiterdeputation einen kaiserlichen Händedruck. Es wird sich zeigen, ob die Breslauer Arbeiter so billig zu gewinnen sind.
Unsere Liberalen sind ganz unglücklich, dass der Kaiser bei dem Empfange in Breslau offen seine Freude aussprach über den Ausfall der dortigen Landtagswahlen, die zu Gunsten der Kartellbrüder ausfielen. Diese Parteinahme widerspricht allerdings ganz und gar der konstitutionellen Fiktion, wonach der Fürst über den Parteien steht und den Parteikämpfen fernbleibt. Die Hohenzollern haben aber bisher verflucht wenig von der konstitutionellen Fiktion gehalten, mit Ausnahme des einzigen Friedrich III., der aber nach 100tägiger Regierung schon starb, also kaum zählt und auch in mancher anderen Beziehung ein Unikum war und daher als aus der Art geschlagen galt. Uns kann’s nur recht sein, wenn die liberalen Seifenblasen eine nach der andern platzen. Klarheit tut uns not und diese schafft das jetzige Regiment in herzerfreuendem Maße.
„Hunde sind wir ja doch,“ sagte vor Jahren einmal Herr Bamberger im deutschen Reichstage, womit er die Stellung der deutschen Bourgeoisie zum Fürsten Bismarck charakterisieren wollte. Das Wort fiel uns wieder ein, als wir dieser Tage lasen, dass die Halberstädter Bourgeoisie in hellen Haufen sich zum freiwilligen Treiberdienst bei den kaiserlichen Jagden am Harz hergegeben habe, weil sie sonst den Anblick der hohen Herren von Angesicht zu Angesicht hätte entbehren müssen. Der Kaiser hatte zuvor alle und jede Empfangsfeier abgelehnt. Wie groß muss die Menschenverachtung unserer Regierenden werden, wenn sie die freiwillige Erniedrigung der „besitzenden und gebildeten“ Klasse zu den elendsten Knechtsdiensten täglich vor Augen haben. Ja! Hunde seid Ihr und die Peitsche verdient Ihr.
Der Beschluss des internationalen Arbeiterkongresses in London, nächstes Jahr abermals einen internationalen Arbeiterkongress abzuhalten und zwar in Paris, wird seitens der deutschen Sozialisten die entsprechende Würdigung finden. In erster Linie handelt es sich darum, dass die französischen Sozialisten sich verständigen und gemeinsam vorgehen, damit die Welt nicht das traurige Schauspiel erlebt, dass die Arbeiter eines Landes in zwei Parteien gespalten sind, wovon jede zur Einberufung eines internationalen Kongresses auf eigene Faust vorgeht. Seitens der deutschen Sozialisten wird wahrscheinlich auf die Einberufung eines selbstständigen Kongresses verzichtet, wenn die französischen Arbeiter sich verständigen.
Der Freiburger Geheimbundsprozess hat nach viertägiger Verhandlung gestern sein Ende erreicht. Wie eine Depesche meldet, ist der Hauptangeklagte Adolf Geck aus Offenburg zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden. Die Übrigen erhielten von drei Monaten bis zu einem halben Monat. Zwei der Angeklagten wurden freigesprochen. Vermutlich ist die lange Untersuchungshaft teilweise den Verurteilten angerechnet worden, wodurch für einen Teil derselben die Strafe verbüßt wäre. Eine weitere Nachricht meldet, das heute Vormittags bei den Reichstags-Abgeordneten Singer und Bebel in Dresden, bzw. Plauen bei Dresden, eine Haussuchung stattfand und zwar auf Requisition dess Elberfelder Landgerichtes. Gefunden wurde nichts von irgend welchem Belang. Diese Haussuchung ist um so auffälliger, da beide in der in Elberfeld schwebenden Untersuchungssache als Zeugen vernommen wurden, Bebel vor ungefähr sechs Monaten, Singer erst vor wenig Wochen.
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