[Nr. 948, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 45, 10. November 1888, S. 4 f.]
:: Aus Norddeutschland, 6. November. Der seltsame Empfang, den die Deputation des Berliner Magistrats und der Stadtverordneten bei dem aus Italien zurückgekehrten Kaiser fanden, über den in unserer letzten Korrespondenz berichtet wurde, hat noch ein interessantes Nachspiel gehabt. Die deutsch-freisinnige Presse hatte behauptet, das nicht sie, sondern die Kartellpresse die Familienangelegenheiten der Hohenzollern in der dem Kaiser unangenehmen Weise kritisiert habe. Darauf erklärt der „Reichsanzeiger“, das sei falsch, das kaiserliche Missfallen richte sich ausschließlich gegen die freisinnige Presse und der Kaiser habe verlangt, das auf diese die Stadtvertretung ihren Einfluss für Abstellung dieses Ärgernisses geltend made.
Nun hat aber die Berliner Gemeindevertretung auf die Berliner Presse ebenso wenig Einfluss als die Wiener Stadtvertretung auf die dortige Presse. Besteht der Berliner Magistrat aus Männern und nicht aus Memmen, so macht er nunmehr dies dem Kaiser klar und lehnt eine Tätigkeit ab, zu der er weder gesetzlich noch gesellschaftlich berechtigt oder verpflichtet ist. Ob die Berliner Stadtvertretung diesen Mut besitzt, muss angesichts der erbärmlichen Haltung der freisinnigen Presse bezweifelt werden. Letztere ergeht sich mit Ausnahme der einzigen „Volkszeitung“, die aber kaum zur freisinnigen Presse gerechnet werden kann und in diesem ganzen Streit eine ebenso tapfere als geschickte Haltung angenommen hat, in den elendsten Schweifwedeleien und in den charakterlosesten Versicherungen ihrer Treue und Ergebenheit.
Die Stimmung der großen Mehrheit der Berliner Bürgerschaft ist eine ganz andere, diese wird weit mehr von der „Volkszeitung“ wiedergegeben, deren Haltung allgemeine Anerkennung findet. Seltsam ist es und zu eigentümlichen Urteilen führt es, dass der Kaiser gerade auf die freisinnige Presse so schlecht zu sprechen ist, die seinen Vater und seine Mutter gegen die Verunglimpfungen der Kartellpresse in Schutz nahm. Als letztere seinen Vater als einen „politischen Parsifal“, als einen „Schwärmer“ und „Ideologen“ hinstellte, dem man kein Staatsgeheimnis anvertrauen könnte ohne Gefahr, es „an den von französischen Sympathien erfüllten englischen Hof“ verraten zu sehen; und die seine Mutter als „Ausländerin“ behandelte, die „keinen Funken nationalen Gefühls“ besitze, hätte man allerdings glauben sollen, der Kaiser würde über diese Beschimpfungen seiner Eltern empört sein und seinen Unwillen hiergegen gerichtet haben. Allein die Erklärung des „Reichsanzeigers’“ enttäuscht diese Erwartungen; die Erklärung spricht diese Missbilligung wenigstens nicht aus und so ergeht sich der von tiefem Familiensinn erfüllte gutmütige Deutsche in gar merkwürdige Betrachtungen über die Verhältnisse in der Familie seines Reichsoberhauptes.
Wir von unserem radikal-demokratischen Standpunkte würden diesen Vorgängen gar keine besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn sie nicht bezeichnend und geeignet wären, bei dem gut monarchisch gesinnten großen Haufen die Milch der frommen Denkungsart in bedenkliche Gärung zu bringen.
In einer allgemeinen Auflösung und Zersetzung, wie die unsrige es unzweifelhaft ist, muss jede Ursache, die diesen Zersetzungs- und Auflösungsprozess beschleunigt, aufmerksam verfolgt werden, und dahin gehören unbedingt die Vorgänge, die seit einem halben Jahre in Deutschland sich abspielen. seit zwei Jahrzehnten in steter Steigerung begriffen, ist der Rausch für das deutsche Kaisertum nunmehr in erhebliche Ebbe getreten, daran können alle schönfärberischen Berichte der Presse über den Jubel bei den Kaiserreisen nichts ändern.
Die preußischen Landtagswahlen sind ausgefallen wie zu erwarten war. Das „elendeste“ aller Wahlgesetze mit seiner indirekten Dreiklassenwahl und seiner offenen Abstimmung ist kein Wahlrecht für die Massen, wohl aber befördert es die Interessen der herrschenden Cliquen und Klassen. Alle abhängigen Existenzen, die nur gezwungen zur Wahlurne schreiten, sind auch gezwungen, ihre Stimmen im Sinne der herrschenden Gewalten abzugeben. Die ganze Wahlhandlung wird zur Farce, die so gewählte „Volksvertretung“ ist nur eine Scheinvertretung Die Wahlbeteiligung, die selbst zur Zeit des preußischen Verfassungskonfliktes von 1861-1866, als die politische Erregung eine große war, kaum 33 Prozent erreichte, ist bei der letzten Wahl auf durchschnittlich 12 Prozent gesunken.
So gibt der gesunde Sinn des Volkes seine Gleichgültigkeit und Verachtung gegen dieses erbärmlichste aller Wahlsysteme kund, auf Grund dessen die besitzenden Klassen sich die Vertretung der Massen anmaßen. Nach dem Ausfall der Urwahlen zu urteilen, wird die freisinnige Partei abermals geschwächt in das neue Abgeordnetenhaus eintreten. Von den Arbeitern missachtet und im Stich gelassen, von der Bourgeoisie ob ihres „Radikalismus“ gefürchtet, wird sie allmählich wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben.
Der Ausgang des Münchener Geheimbundprozesses hat in den Kreisen der Parteigenossen große Befriedigung erregt. Die Münchener Polizei hat eine Niederlage erlitten, die ihr die Lust, alsbald wieder einen Geheimbundsprozess einzufädeln, gründlich versalzen haben dürfte. Wird Herr Michel Gehret, der geistige Urheber der Anklage, nach der traurigen Rolle, die er im Prozess gespielt, noch im Amte bleiben? Das ist die nächste Frage, die sich Jedem der den Gerichtsverhandlungen folgte, von selbst aufdrängte. Wenn Recht und Gerechtigkeit und die Liebe zur Wahrheit das Ruder im Staate führten, wäre seine Entlassung cum infamia selbstverständlich, aber die heutige Staatsräson geht bekanntlich von ganz anderen Anschauungen aus.
Der Donnerstag den 8. November beginnende Düsseldorfer Geheimbundprozess, wird sicher drei Tage dauern. Geladen sind von der Anklage 67 Zeugen, darunter der Reichstags-Abgeordnete Frohme und der Buchdruckereibesitzer Ernst in München. seitens der Verteidigung ist als einziger Zeuge der Abgeordnete Bebel zitiert.
In Leipzig hat kürzlich eine Verhaftung von zwölf Sozialisten auf offener Straße stattgefunden. Über den Grund der Verhaftung verlauten verschiedene Gerüchte. Wir glauben kaum, dass die Verhaftung gesetzlich gerechtfertigt ist, aber gerade in Leipzig ist seit geraumer Zeit vieles möglich, was früher für unmöglich gehalten wurde.
Die Berliner Maurer sind weitsichtige und vorsehende Leute. Letzte Woche haben sie in einer von 39000 Mann besuchten Versammlung beschlossen, nächstes Frühjahr die Forderung neunstündiger täglicher Arbeitszeit und eines Stundenlohnes von 60 Pf. zu stellen. Die Bauherren sind also nunmehr unterrichtet und können auf diese Forderungen hin, die neuen Bauverträge abschließen. Die Berliner Maurer sind vorzüglich organisiert und von lebhaftem Korpsgeiste beseelt, so das zu erwarten ist, sie werden die gestellten Forderungen auch durchsetzen. Motiviert werden die Forderungen der neunstündigen Arbeitszeit unter anderem mit der stetig sich steigernden Einführung der Maschinenarbeit im Bauwesen, welche Arbeiter überflüssig machen. Gehen diese Forderungen durch, so wird die weitere Wirkung eine beschleunigtere Einführung der Maschinen sein, was für die Arbeiter selbstverständlich kein Grund ist, ihre Forderungen nicht zu stellen.
In diesem Kampf zwischen Arbeit und Kapital muss eben die Entwicklung auf die höchste Spitze getrieben werden, bis der große Umschlag kommt und die Maschinen statt in den Dienst des Kapitals zur Arbeiterunterdrückung, in den Dienst der Arbeit zur Arbeiterbefreiung gestellt werden.
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