[Nr. 947, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 44, 3. November 1888, S. 4 f.]
:: Aus Norddeutschland. Noch immer bringen die Zeitungen Meldungen über die demonstrative Feier des 21. Oktober durch die Sozialdemokratie. Die Gegner sind über diese so einmütig in ganz Deutschland begangene Feier des zehnjährigen Bestandes des Sozialistengesetzes ganz verblüfft. Das hatten sie nicht erwartet. Um die Herunterholung der ominösen roten Fahnen möglichst zu erschweren, sind die Aufhisser derselben auf zum Teil ganz ingeniöse Mittel verfallen. So war in Brandenburg der Stamm eines hohen Baumes, auf dessen Spitze die rote Fahne lustig wehte, mit Teer, in Elberfeld mit Seife bestrichen worden. In den meisten Städten hatte man die Fahnen auf den Telefondrähten befestigt, so das sie zum Teil nur durch Zerschneiden der Drähte heruntergeholt werden konnten. Es ist sicher zum ersten Male in der Geschichte der Fall dagewesen und ward hier das bekannte Wort Ben Akibas zuschanden, dass Diejenigen den Jahrestag eines Gesetzes feiern, zu deren Unterdrückung und Vernichtung es erlassen wurde. das ist ein memento mori, das unsere Herrschenden beachten sollten
Eine sensationelle Nachricht durchlief dieser Tage die gesamte Presse, ohne dass bis jetzt eine genügende Aufklärung erfolgte. Die „Frkfrt. Zeit.“ brachte die unglaublich klingende Mitteilung, der wegen Hoch- und Landesverrat steckbrieflich verfolgte Hauptmann v. Ehrenberg lebe unter falschem Namen unverfolgt in Wiesbaden. Die Vergleiche zwischen der Ehrenberg widerfahrenen Behandlung und derjenigen gegen Geffken, dem Veröffentlicher von des verstorbenen Kaiser Friedrich Tagebuch, lagen nahe und sind von zahlreichen Blättern gemacht worden. Nicht minder nahe aber liegt der Vergleich mit den so häufig und wegen geringer Vergehen in Untersuchungshaft genommenen Sozialdemokraten. Diese Vergleiche sind ganz geeignet, Hass und Verachtung gegen die bestehende Staatsordnung hervorzurufen und den Glauben an Recht und Gerechtigkeit gründlich zu untergraben. Ob die von der „Frkf. Zeit.“ gebrachte Nachricht, bezüglich Ehrenbergs, wahr ist, weiß man nicht, widerlegt wurde sie nirgends Der Abg. Bebel, den diese Nachricht als Belastungszeuge gegen Ehrenberg sehr nahe angeht, empfing vom Oberauditor des 14. Armeekorps zu Karlsruhe die Mitteilung, das man sich wegen der Nachricht der „Frkfrt. Zeit.“ sofort an die Wiesbadener Polizei gewendet habe.
Wie dieser Vorgang mit Ehrenberg sehr tief blicken lässt, so häufen sich auch die Vorkommnisse, welche als Zeichen der allgemeinen Zersetzung und der Auflösung der herrschenden Gesellschaft gelten müssen, und zwar ist namentlich der geistige Verfall in den höchsten Kreisen augenscheinlich. Da ist die Katastrophe in Baiern, wo ein wahnsinniger König, nach dem er im Leben die unglaublichsten Dinge getrieben, seinen Tod in den Wellen sucht und ein anderer wahnsinniger König sein Nachfolger wird. Da sind die Vorgänge von San Remo mit dem Kronprinzen des Deutschen Reichs; die Vorkommnisse während seiner hunderttägigen Regierung; der mit den niedrigsten Waffen gekämpfte Kampf der Ärzte des Kaisers mit seinem hochpolitischen Hintergrund, die Tagebuchaffäre, der tiefgehende Zwist in der Hohenzoller Familie. Und noch hat sich die erstaunte Welt von all‘ diesen unglaublichen und noch vor nicht langer Zeit für unmöglich gehaltenen Dingen nicht erholt, so macht die Nachricht durch die Presse die Runde, das der Inhaber des württembergischen Königsthrones sich geistig und körperlich in einem Zustande befindet, der hart an den des verstorbenen Bayernkönigs erinnert und seine Regierungsfähigkeit in das zweifelhafteste Licht stellt.
So fällt Schlag auf Schlag, wodurch die loyalen Gefühle der an Hundetreue gewöhnten „Untertanen“ in rebellische Gärung versetzt werden.
Den schönsten Lohn für seine loyale Gesinnung hat dieser Tage der Berliner Magistrat davongetragen, der, als er dem heimgekehrten jungen Kaiser das Geschenk der Stadt Berlin (den in unserer letzten Korrespondenz gemeldeten Begasschen Brunnen) vermeldete, einen Empfang erhielt, wie er in den letzten Jahrzehnten in Deutschland nicht vorgekommen ist. Der junge Kaiser lies unzweideutig merken, das eine neue Kirche ihm lieber gewesen wäre als der Begassche Brunnen und dass er auf den Bau solcher aus städtischen Mitteln künftig rechne. Dann aber erging er sich in fulminanten Anklagen gegen die Presse, welche während seiner Abwesenheit sich in ungehöriger Weise in seine Familien-Angelegenheiten gemischt und diese in einer für ihn höchst ärgerlicher Weise besprochen habe. Solle er Berliner bleiben, so möchten die Herren dafür sorgen, das solches nicht mehr vorkomme. Sprach’s und entließ mit stummem Kopfnicken die Herren der Deputation, ohne dem Oberbürgermeister den üblichen Händedruck zu geben und ohne sich die übrigen Herren vorstellen zu lassen.
Diese Abfertigung hat in den weitesten Kreisen des bisher sehr loyalen Bürgertums das größte Unbehagen und einen Sturm der Entrüstung erregt. In den demokratisch gesinnten Kreisen ist man entzückt und gönnt dem schweifwedelnden Magistrat die Züchtigung vom Herzen. Diese Wirkung der kaiserlichen Rede ist aber nicht unbemerkt geblieben. Wie schon so oft in den wenigen Monaten der Regierung des jetzigen Kaisers veröffentlicht auch jetzt, nach mehr als fünf Tagen, der „Reichsanzeiger“ den angeblichen Wortlaut der kaiserlichen Rede, der gegenüber den ersten Meldungen sehr abgeschwächt ist. Unglücklicherweise glaubt das Publikum diesen ewigen Berichtigungen des „Reichsanzeiger“ eben so wenig mehr, als seiner Zeit die Franzosen noch an die Siegesbulletins Napoleons I. nach dessen großen Niederlagen glaubten. Wohl aber fordern diese immerwährenden Berichtigungen den Spott heraus, der nicht ausbleibt.
Eine ebenfalls mit sehr geteilten Gefühlen aufgenommene Nachricht ist, das das Reich dem jetzigen Kaiser eine Krondotation, beziehentlich eine Zivilliste, man weiß noch nicht von wie vielen Millionen, gewähren soll. Während die dotationsfreundlichen Mathematiker nachweisen, das der Kaiser mit seinen 12 Millionen Zivilliste und den verschiedenen Millionen aus den sonstigen Einkünften des preußischen Königshauses, allen übrigen großen Potentaten Europas gegenüber zu schlecht bezahlt sei, berechnen die gegnerischen Mathematiker, dass kein Volk der Erde seine Herrscher so gut lohne, als das fürstengesegnete Deutschland. Kommt die Angelegenheit im Reichstag zur Sprache, dann dürfte es an interessanten Erörterungen nicht fehlen. Eine andere Frage ist, ob das Königtum daran profitiert.
Einführung einer kaiserlichen Zivilliste; Brot- und Kartoffelverteuerung; bedenklicher Notstand in verschiedenen großen Industrien; bevorstehender Gründungskrach; kolossale Vermehrung der Marine-Ausgaben nach vorausgegangener kolossaler Vermehrung der Ausgaben für das stehende Heer; Gründung einer Garde bei der Marine und von Bersaglieri-Bataillonen nach italienischem Muster bei der Armee, dies und noch verschiedenes Andere ist ein bisschen viel auf einmal und bringt auch die langmütigste Geduld ins Wanken. Und wir schreiben 1888. –
Am 25. und 26. d. M. spielte sich abermals ein Geheimbundprozess in Hamburg ab, in dem 19 Angeklagte erschienen. 17 wurden freigesprochen, zwei wurden zu einem, beziehentlich zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Der Staatsanwalt hatte bis zu acht Monaten Gefängnis beantragt.
Am 26. d. M. begann auch der Geheimbundsprozess gegen Auer und Genossen in München und endete am 27. spät Abends. Das Urteil wird am 2. November verkündet Ein größerer Skandalprozess ist in neuester Zeit in Deutschland noch nicht dagewesen. So rasch macht die Münchener Polizei keinen Geheimbundsprozess mehr, diesmal hat sie ein Haar darin gefunden.
Am 8. November steht abermals ein großer Geheimbundsprozess in Aussicht und zwar in Düsseldorf. Angeklagt sind 18 Personen Die Anklageschrift umfasst nicht weniger als 57 große Druckseiten; geladen sind 67 Belastungszeugen. Es gibt kein schöneres Land in der Welt als Deutschland.
Aus Dresden wird dem Berl. Volksblatt geschrieben: Unsere gute, nichts Böses ahnende Stadt wurde gestern Vormittag durch zahlreiche von Haus zu Haus, von Etage zu Etage eilende Boten mit einem Platzregen von sozialistischen Flugblättern bedacht. Binnen kurzer Zeit waren 45.000 Stück verteilt. In dem Flugblatte werden die Ereignisse der letzten 10 Jahre unter der Ära des Sozialistengesetzes einer scharfen Kritik unterzogen. Es wird den Lesern zu Gemüte geführt, wie alle gegen die Sozialdemokratie angewandten Mittel der Verhetzung, der Unterdrückung und Ruinierung zahlreicher Existenzen das Wachstum der Sozialdemokratie, die seit dem Jahre 1881 ihre Stimmen fast verdoppelt, nicht aufgehalten habe. Anderseits habe auch der ökonomische Zersetzungsprozess gewaltige Fortschritte gemacht und so der Sozialdemokratie den Boden zur weiteren Ausbreitung geschaffen. Das Blatt schließt mit einem „Hoch lebe die Sozialdemokratie“ . seitens der Polizei wurden einige 20 der Verbreiter sistiert und nach Feststellung ihrer Namen entlassen. Das Verbot auf Grund des Sozialistengesetzes wird wohl nicht auf sich warten lassen.
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