[Nr. 898, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 5, 4. Februar 1888, S. 9 f.]
:: Aus Norddeutschland, 25. Jänner.*) Der Sturm in der Presse über die neue Sozialistengesetzvorlage ist in der Hauptsache vorüber. Die Blätter der verschiedenen Parteien, die ihre Meinung ausgesprochen, haben sich überwiegend ungünstig über den Entwurf geäußert. Mit vereinzelten Ausnahmen ist namentlich die Expatriierung von der gesamten Presse als im schreiendsten Widerspruch stehend mit unserem Zeitalter und der ganzen modernen Auffassung vom Staate bekämpft worden. Am Allerunangenehmsten aber dürften den Urhebern des Entwurfes die Urteile in den Ohren geklungen haben, die das Ausland über sie fällte : Hier hat Herr von Puttkamer endlich das langersehnte Denkmal „dauernder als Erz“ gefunden.
So anerkennenswert nun im Ganzen die Haltung der Presse gegenüber dem Entwurf ist, die meisten Presseorgane sind dabei in einen großen Fehler verfallen, sie haben sich von der Förderung der Expatriierung so ausschließlich in Anspruch nehmen lassen, das sie die andern nicht minder ungeheuerlichen Bestimmungen des Entwurfes, z. B. die Bestrafung der Verbreitung einer verbotenen Druckschrift mit mindestens zwei Jahren Gefängnis, wenn der Verbreiter sich die Tätigkeit für die durch das Gesetz getroffenen Bestrebungen „zum Geschäft“ mache, fast unberücksichtigt gelassen hat. Auch ist die Strafe der Aufenthalts-Beschränkung im Inland (Internierung) viel zu wenig in ihrer Bedeutung berücksichtigt worden. Die Tragweite auch der andern geforderten Verschärfungen gründlich darzulegen und die Konsequenzen nachzuweisen, wohin sie, wenn angenommen, führen müssten, wird Sache der sozialdemokratischen Redner bei Beratung des Gesetzes sein. Erleichtert wird ihnen diese Aufgabe einigermaßen werden durch die Denkschrift, welche die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sämtlichen Mitgliedern des Reichstags und der Presse zugehen ließ und in der sie an einer Reihe von Fällen zeigt, was alles schon jetzt unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes in Bezug auf Ausweisung, Zuweisung und Heimatlosmachung möglich ist.
Hierbei möchte ich eine irrige Auffassung berichtigen, die sich in einer früheren Nummer Ihres Blattes in dem Artikel mit der Spitzmarke: „Herunter mit der Maske“, in Bezug auf die Bedeutung des deutschen Sozialistengesetzes eingeschlichen hat. Der Verfasser scheint zu glauben, dass in Deutschland die Verbreitung eines verbotenen Blattes nur auf Grund des Verbreitungsverbots straffällig sei. Das ist ein Irrtum. Neben der Strafe auf das Verbot der Verbreitung kann der Verbreiter auch wegen des Inhalts belangt und bestraft werden, vorausgesetzt, das der Inhalt ein straffälliger ist. Das Charakteristische aber an den Verboten auf Grund des Sozialistengesetzes ist, das wenigstens 95 Prozent der verbotenen Flugblätter-Zeitungen und Broschüren in ihrem Inhalt durchaus nichts straffälliges enthalten, sondern nur wegen ihrer Tendenz, welche die Polizei für „staatsgefährlich“ erachtet, verboten werden. Wird nun eine solche auf Grund des gemeinen Rechts nicht belangbare verbotene Schrift verbreitet, so verfällt der Verbreiter in eine Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten. Da ist wahrhaftig Strafe genug für eine Übertretung rein polizeilicher Maßnahmen. Enthält die Schrift hingegen auch noch eins oder mehrere von den zahlreichen Vergehen, welche unser Strafrecht statuiert, und denen zu entrinnen dem geübtesten Schriftsteller, wenn er Sozialdemokrat ist, fast unmöglich ist, so braucht der Staatsanwalt nur anzunehmen, das der Verbreiter den Inhalt kannte, und der Gerichtshof sich dieser Annahme anzuschließen, und der Verbreiter kann nun, je nach Umständen, eben so viele Jahre als sonst Monate Gefängnis einheimsen. Ebenso können die Strafen in einer Mehrzahl von Verbreitungsfällen kumuliert werden und ist es eine ganze falsche Behauptung in den Motiven zu dem Entwurf, das die Richter der Ansicht seien, über das Höchstmaß der für den Einzelfall angedrohten Strafe nicht hinausgehen zu können. Eine ganze Reihe von Verurteilungen beweisen das Gegenteil.
Die preußische Regierung, die so fleißig die Einführung neuer indirekter Steuern im Reich mit dem größten Erfolg betrieb, fühlt, nachdem sie jetzt die Ernte einzuheimsen beginnt, so etwas wie Gewissensbisse sie schlägt dem Landtag vor, 20 Millionen Mark den Gemeinden aus der Staatskasse zu überweisen mit der Bedingung, dass das Schulgeld in den Volksschulen aufgehoben und damit eine alte Zusage der Verfassung, die seit 37 Jahren unerfüllt blieb, verwirklicht werde. Der Betrag, der dem preußischen Staatsschatz allein aus der erhöhten Branntweinsteuer zufließt, beläuft sich auf 70 Millionen, es ist also nur ein sehr kleiner Teil der der arbeitenden Klasse auferlegten harten Opfer, der ihr zurückvergütet wird.
Das Vorgehen Preußens wird die andern Staaten zur Nachahmung zwingen, und da dürfte in etwas eigentümliche Position der sächsische Kultusminister kommen, der vor zwei Jahren einen Antrag der sozialistischen Abgeordneten im Landtag auf Aufhebung des Schulgeldes in der heftigsten Weise als eine „sozialistische“ Forderung bekämpfte und erklärte, nie auf diese Forderung eingehen zu wollen. Damals wurde ihm sofort von einem der sozialistischen Abgeordneten entgegnet, das trotz alledem die Zeit kommen werde, wo er, der Kultusminister selbst, genötigt sein dürfte, von der Ministerbank aus den Antrag zu stellen, und dieser Zeitpunkt rückt nunmehr allerdings heran. Bei der bevorstehenden Beratung des Kultusetats im sächsischen Landtag wird Herrn von Gerber die Hölle ein wenig eingeheizt werden.
*) Leider verspätet.
Schreibe einen Kommentar