August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 987, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 10, 8. März 1889, S. 4 f.]

:: Aus Norddeutschland, 5. März. Nach den Auslassungen der regierungsseitig inspirierten Zeitungen scheint es sicher zu sein, das eine Neubearbeitung des Sozialistengesetzes im Werke ist, und das der jetzt tagende Reichstag sich noch mit der Erledigung dieser Aufgabe beschäftigen muss. Zweifelhaft erscheint nur, ob ein Spezialgesetz oder eine Ergänzung des Strafrechts aus den Beratungen der Regierungen hervorgeht, angeblich soll das Letztere der Fall sein. Trifft dies zu, dann ist dafür zweifellos die Absicht maßgebend, auch andere oppositionelle Strömungen als bloß die sozialdemokratischen mit dem Gesetz packen zu können. Die Kautschuk-Gesetzgebung feiert alsdann ihre Triumphe und die richterliche Machtvollkommenheit erlebt eine nie gekannte Ausdehnung. Das sind herrliche und erhebende Aussichten für das immer mehr überhand nehmende Strebertum in den Richterkollegien. Partei- und Klassenjustiz werden immer ausgeprägter die Grundlage der Rechtsprechung. Wahrlich, es wird immer schöner in Deutschland. Unser Trost ist, das jeder Schritt der Reaktion nach rückwärts auch ein Fortschritt ist: er zeigt die immer größer werdende Auflösung der alten Gesellschaft an, die nur mit den stärksten Gewaltmitteln zusammengehalten werden kann.

Der vermutlich nächste Woche beginnende zweite Teil der Reichstagssession wird durch die zu erledigenden Aufgaben weit lebhafter werden als es der erste war, und die Dauer desselben dürfte sich bis kurz vor Pfingsten hinziehen. Die Regierungen wollen neben der Peitsche der neuen Ausnahmegesetzgebung auch das Zuckerbrot der Alters- und Invalidenversicherung noch in die Hand bekommen, um so gerüstet in die Wahlen einzutreten, die höchst wahrscheinlich alsdann im Oktober dieses Jahres stattfinden. Vor dem Ausfall derselben herrscht in den oberen Regionen und bei den Majoritätsparteien ein solches Unbehagen, dass man alle Register zu ziehen für nötig hält, um keinen Schiffbruch zu erleiden. Das Regieren ist wirklich heutigen Tages kein Pläsier mir. [sic!]

Parteigenosse Singer hat in seiner Eigenschaft als Berliner Stadtverordneter bei dem. Etatausschuss des Kollegiums folgende Anträge eingereicht: 1. Die Löhne der bei den Kanalisationswerken beschäftigten Heizer und Kanalarbeiter nicht, wie der Magistrat beantragt, von 3 Mark auf 3 Mk. 20 Pfg. pro Tag, sondern auf 3 Mk. 50 Pfg. pro Tag zu erhöhen. 2. Den Lohn der von den städtischen Gasanstalten beschäftigten Laternenanzünder von 57 Mk. auf 75 Mk. pro Monat, wie ihn die Anzünder der städtischen Petroleumlampen beziehen, zu erhöhen. 3. Den Lohn der bei der städtischen Straßenreinigung und Besprengung beschäftigten ständigen Hilfsarbeiter, soweit dieselben einen niedrigeren Lohnsatz erhalten, auf 3 Mk. pro Tag zu erhöhen. 4. Den Lohn der bei der städtischen Straßenreinigung und Besprengung beschäftigten jugendlichen Arbeiter von 1 Mk. 50 Pfg. pro Tag auf 2 Mk. zu erhöhen. 5. Den Lohn der bei der städtischen Park- und Garten-Verwaltung beschäftigten Arbeiter, soweit dieselben einen niedrigeren Lohn erhalten, auf 3 Mk. pro Tag zu erhöhen und die hierzu erforderlichen Mittel zur Einstellung in die betreffenden Etatpositionen zu bewilligen.

Die angebliche Arbeiterfreundlichkeit der deutsch-freisinnigen Majorität des Stadtverordnetenkollegiums wird durch diese Anträge auf eine harte aber beweiskräftige Probe gestellt. Der Ausschuss hat einstweilen dieselben unter den bekannten Gründen, die stets für solche Ablehnungen maßgebend sind, verworfen und wird nunmehr das Plenum Gelegenheit bekommen sich mit denselben zu bekräftigen Es wird sich zeigen, ob die Herren den Deklamationen ihrer Parteivertreter im Reichstag Rechnung tragen, welche noch zuletzt bei der Beratung des Antrags auf Aufhebung der Getreidezölle nachdrücklich hervorhoben, wie die Arbeiter durch die neudeutsche Steuer- und Zollpolitik in ihrem Einkommen aufs Schwerste geschädigt seien und welche später sich für verpflichtet fühlten, der mit Hinweis auf die verteuerten Lebensbedürfnisse geforderten Gehaltserhöhung des Königs von Preußen um 3½ Millionen Mark zuzustimmen.

Vor wenigen Tagen empfing der deutsche Kaiser den Zentral-Innungs-Aussschuss, um von den Herren eine Ergebenheitsadresse in Empfang zu nehmen. In der Antwort auf diese erwiderte der Kaiser unter Anderem: Er freue sich, die Vorkämpfer des Handwerks kennen zu lernen. Eine Zentralstelle für diese Bestrebungen halte er für notwendig. Der Handwerkerstand müsse christlich, geschichtlich und zu der Blüte wie vor dem 30jährigen Kriege wieder erstehen. seine Leistungen seit den letzten 14 Jahren gäben eine Gewähr für die Erreichung dieses Zieles. Die Verantwortung, solch ungeheuerliches Zeug dem deutschen Kaiser in den Mund zu legen, mögen die betreffenden Berichterstatter übernehmen. Ein Mann von gesunden Sinnen und einiger Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse kann dergleichen nicht gesagt haben. Es ist ein Nonsens sondergleichen glauben zu machen, irgend eine Macht der Welt könne am Ende des 19. Jahrhunderts die Zustände des 16. Jahrhunderts wieder zurückkehren lassen. Die Taten des deutschen Handwerks in den letzten 14 Jahren haben jedem Kenner der Verhältnisse nur bewiesen, dass trotz aller Mühe und Anstrengungen der Handwerkerstand der immer mehr um sich greifenden Großproduktion gegenüber unterliegt, dass er an Zahl und Bedeutung in Bezug auf die Zunahme der Bevölkerung wie die Warenerzeugung im Rückgang begriffen ist. Das lehrt schon ein Blick in die Fabrikinspektorenberichte. Es müssen eigentümliche Quellen sein, die den deutschen Kaiser ganz entgegengesetzt zu belehren suchen.

Wir erleben überhaupt merkwürdige Dinge, wie sie sonst in keinem Kulturstaat der Welt vorkommen. Oder haben sie schon gehört, dass hohe und höchste Staatsbeamte, die zum Teil längst über die militärischen Dienstalter hinaus sind, aus ehemals inne gehabten subalternen militärischen Stellungen avancieren, ganz so als gehörten sie noch einem Militärverbande an? So erlebt der preußische Finanzminister, das er, der einstmals als Militär simpler Vizefeldwebel war,- jetzt in der höchsten Staatsstellung bei einem Alter von 55 Jahren zum Secondelieutenant avanciert. Es soll Leute gegeben haben, welche die erste Nachricht von einem solchen Avancement, und dazu soll der Beglückte selbst gehört haben, als einen schlechten Witz auffassten, bis die offizielle Anzeige sie von dem ganzen „Ernst“ der Tatsache überzeugte. Und da spottet man bei uns über die Chinesen!

Der Aufschwung, der namentlich in der Eisenindustrie sich bemerklich macht und auf vielen Werken eine Vergrößerung der Produktionsanlagen herbeiführt, veranlasst vorsichtige Leute einen nachdrücklichen Warnruf auszustoßen. Eine solche Vergrößerung der Anlagen müsse den Zeitpunkt, wo die Überproduktion an alle Türen klopfe, nur beschleunigen. Die Warnung findet aber nur taube Ohren. Die Konjunktur ist so verlockend, das unsere Eisenindustriellen nicht nur Hals über Kopf die Erweiterung der Werke beschleunigen, sondern auch alle Augenblicke mit Preiserhöhungen vorgehen, und so wird der Krach nicht allzu lange auf sich warten lassen. Mit welch‘ horrenden Gewinnen manche Geschäfte arbeiten, zeigt die Metallgesellschaft in Frankfurt a. M., welche bei einem Aktienkapital von 5 Millionen einen Reingewinn von 2,113.500 Mark einheimste und in der Lage ist, ihren Aktionären 31 Prozent „Entbehrungslohn“ auszuzahlen.

In Magdeburg ist neuerdings wieder ein Geheimbundprozess zu Ende gegangen. Drei der Angeklagten wurden zu je 3 Monaten, einer zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Redakteur des Leipziger „Wähler“ erhielt wegen Bismarckbeleidigung 3 Monate Gefängnis.


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