August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 983, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, III. Jahrgang, Nr. 7, 15. Februar 1889, S. 4 f.]

:: Aus Norddeutschland, 12. Februar. Der deutsche Reichstag hat sich bis Mitte März vertagt, nachdem er noch das Budget für 1889/90 erledigt und den Antrag der sozialdemokratischen Abgeordneten wegen Aufhebung der Getreidezölle in erster Lesung beendet hatte. Die Debatte über den letzteren war sehr lebhaft. Der Antrag kam unseren Agrariern äußerst unbequem und sie suchten ihn dadurch als unannehmbar hinzustellen, das sie ein Klagelied über den schlechten Stand der Landwirtschaft anstimmten, wie nie zuvor. Ohne die Getreidezölle sei die Existenz der Landwirtschaft in Frage, sei ihr Ruin nicht aufzuhalten. Dabei widersprachen sich die Herren selbst in der schärfsten Weise. Die Einen bestritten die Wirkung des Zolls auf die Getreide- und Brotpreise, die Andern gaben sie zu, weil ja der Getreidezoll ein Schutzzoll sein solle und ohne Wirkung auf die Preise dies unmöglich sein könnte. seitens der Antragsteller und der Gegner der Getreidezölle wurden alle Argumente, die für die Aufhebung derselben sprachen, ins Feld geführt. Eine vorgetragene Statistik, welche die tatsächlich allerwärts in Deutschland seit der letzten Ernte eingetretene erhebliche Brotverteuerung bewies, wie der Hinweis auf die Begründung der Erhöhung der Zivilliste des Königs von Preußen um 3½ Millionen Mark jährlich, welche mit der Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse gerechtfertigt wurde, waren wohl die schlagendsten Gründe, die angeführt werden konnten, sie waren aber nicht imstande die Reichstagsmehrheit eines Besseren zu belehren. Das Interesse eines sehr großen Teiles unserer reichen Klasse, die direkt oder indirekt mit den Grundbesitzverhältnissen zusammenhängt, wie das Interesse der Reichskasse, die im verflossenen Jahre gegen 74 Millionen Mark aus den Getreidezöllen vereinnahmte, machen den größten Teil der besitzenden Klasse, wie die sämtlichen Regierungen zum Gegner des sozialdemokratischen Antrages.

Das schadet nichts.

Die Debatten haben bei den Massen im Lande, die am besten wissen, wo sie der Zoll drückt, weil sie ihn täglich von ihrem kargen Verdienste bezahlen müssen, den tiefsten Eindruck gemacht, und dieser Eindruck wird bleiben. Auch wird der Antrag auf Aufhebung der Getreidezölle in künftigen Sessionen wiederkehren, er soll als mene tekel unsere Besitzenden in Aufregung erhalten.

Auch die Geffken-Affäre kam letzte Woche in den Verhandlungen des Reichstags vor. Dem Fürsten Bismarck fiel darin die Rolle dess Angeklagten, dem freisinnigen Rechtsanwalt Munkel, die Rolle des Anklägers zu und dieser vollzog seine Aufgabe mit dem Geschick eines gewandten Juristen. Fürst Bismarck zog vor zu Hause zu bleiben und lies sich durch den neu gebackenen Justizminister v. Schelling vertreten, der aus einem der Prozesse gegen Lassalle in Berlin, wo er als Staatsanwalt fungierte, weiteren Kreisen in nicht ruhmreicher Erinnerung bekannt ist. Herr v. Schelling erntete auch diesmal keine Lorbeeren, was nicht Wunder nehmen darf, denn eine faule Sache lässt sich vor denkenden Leuten nicht gut verteidigen.

Ein größerer Teil der deutschen Großindustrie befindet sich eben in einer Periode des Aufschwungs. Namentlich sind fast alle Branchen der Eisenindustrie mit reichlichen Aufträgen auf längere Zeit hinaus versehen, und das wirkt auf den Kohlenbergbau und beides zusammen auf den Güterverkehr der Eisenbahnen günstig ein. Der preußische Eisenbahnminister verzeichnete im letzten Etatjahr Einnahmen, wie er sie noch nicht gehabt und die Aussichten für das neue Etatjahr sind die glänzendsten.

Was verschiedene Teile unserer Großindustrie sehr wesentlich stimuliert, sind große Bestellungen auf Eisenbahnmaterial, für Schiffsbauten für die Marine, für die Armierung der Festungen und Neuanschaffungen an Waffen, so dass alle Waffenfabriken Tag und Nacht beschäftigt sind. Dazu kommen Armee-Ausrüstungsgegenstände aller Art. Nachdem der Reichstag eine erhebliche Vergrößerung der Marine durch den Bau von schweren Schlachtschiffen beschlossen hat, werden die Staats- und Privatwerften sehr bedeutende Vergrößerungen ihrer Anlagen vornehmen müssen, um in den gestellten kurzen Fristen die Schiffe fertig stellen zu können. Der starke Zuzug der Bevölkerung nach den Städten und Industriemittelpunkten fördert das Baugeschäft, das dieses Jahr einen sehr bedeutenden Aufschwung nehmen wird.

Es ist ein sehr beachtenswertes Zeichen der Zeit, dass ein gut Teil dieser Industrieblüte den Rüstungen für den nächsten Weltkrieg zuzuschreiben ist. Ohne diese Aufträge möchte es nichts weniger als glänzend aussehen, denn die Ausfuhrziffern sind keineswegs erfreulich.

Diese gesteigerte Tätigkeit in den bezeichneten Industrien wollen die Arbeiter nicht ungenützt vorübergehen lassen. Überall rühren sie sich zum Kampfe, um günstige Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Aber die Unternehmer sind auch nicht müßig. An vielen Orten rüsten sie sich zu Gegenorganisationen, die staatlicherseits durch die Gründung der Unfallversicherungs- und Berufsgenossenschaften die nächstliegendste und feste Grundlage erhielten. Die Gunst der Staatsgewalt kommt ihnen weiter zustatten und so haben die Arbeiter keinen leichten stand.

Augenblicklich spielen große Kämpfe zwischen den Formern und ihren Unternehmern in Stettin, Braunschweig, Flensburg, Hamburg. Die Unternehmer bieten alles auf, um die Arbeiter zu Falle zu bringen, und ziehen Arbeitskräfte von allen Seiten, aus Polen und Böhmen heran. Zur Ehre der Arbeiter sei aber gesagt, dass dieselben fast überall sich auf Seite ihrer feiernden Genossen stellten, so bald sie erfuhren, um was es sich handelt. Das trifft ganz besonders für Hamburg zu, wo die zureisenden Böhmen sofort wieder abreisten, als sie über die Lage aufgeklärt wurden. Die Polizei steht dabei direkt und indirekt auf Seite der Unternehmer. Um die von auswärts herbeigeschafften Arbeiter dem Einflusse der Einheimischen zu entziehen, duldet die Hamburger Polizei, im Widerspruch mit den gesetzlichen Bestimmungen, dass die fremden Arbeiter im Freihafengebiet untergebracht werden. Diese Angelegenheit dürfte im Reichstag bei der ersten passenden Gelegenheit zur Erörterung kommen.

Neben den Maurern rühren sich jetzt auch die Berliner Zimmerer. Dieselben haben an ihre Unternehmer ein Schreiben gerichtet, in welchem sie für den Beginn der Bausaison folgende Forderungen stellen:

1. Festsetzung der Arbeitszeit auf per Tag neun Stunden, und zwar derart, das die Arbeitszeit andauere von Morgens 7 Uhr bis Abends 6 Uhr mit folgenden Unterbrechungen:

½ Stunde Frühstückspause, Vormittags von 8½ bis 9 Uhr;

1 Stunde Mittagspause von 12 bis 1 Uhr;

½ Stunde Vesperpause, Nachmittags von 4 bis 4½ Uhr.

Des Sonnabends (am Lohntage) um 5 Uhr Feierabend. An den letzten Tagen vor den großen Festen Ostern und Pfingsten um 4 Uhr Feierabend. An diesen Tagen, Sonnabend und vor den großen Festen, fällt die Vesperpause fort.

2. Festsetzung des Mindestlohnes von per Arbeitsstunde 60 Pfennige (36 kr.) für den Gesellen. Eine Miteinrechnung, resp. Bezahlung der genannten ausfallenden Stunden, sonnabends und vor den großen Festen.

3. Abschaffung der Sonntags- und Überstunden-Arbeit, außer in Fällen, in denen Gefahr für Leben und Gesundheit sie notwendig macht.

Das feste und klassenbewusste Auftreten der deutschen Arbeiter, das immer mehr und mehr sich bemerklich macht, ist ein erfreuliches Zeichen der Entwicklung der Dinge zum Sozialismus, dessen Herannahen für keinen Denkenden mehr zweifelhaft ist. Die Fachvereinsorganisationen und die Gewerkschaftspresse nehmen immer größere Ausdehnung an. Bereits existieren Dutzende von Fachorganen, die oft einen sehr erheblichen Leserkreis haben, welche die Fachinteressen mehr oder weniger geschickt vertreten und mächtig zur Förderung des Klassenbewusstseins der Arbeiter beitragen. Alle diese Blätter und Vereine sind auf Grund unserer bestehenden Gesetze. genötigt, von der Politik sich fern zu halten, und dennoch kommt diese ganze Bewegung schließlich dem Sozialismus zu Gute, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ein klassenbewusster Arbeiter mit Notwendigkeit ein Sozialist werden muss.

Die Haltung des Reichstags, und namentlich der Regierungen gegen jede weitergehende Arbeiterschutzgesetzgebung kommt ebenfalls der Sozialdemokratie zustatten. Diese erscheint als die eigentliche bewegende Kraft. Eine Ablehnung der von ihr geltend gemachten Forderungen sehen allmählich die Arbeiter als einen gegen sie selbst gerichteten Schlag an, und sie suchen schließlich durch Arbeitseinstellungen das zu erreichen, was man ihnen auf dem Wege der Gesetzgebung verweigerte. Diese Massenkämpfe sind’s aber gerade, was die herrschenden Klassen in ihrem eigenen Interesse vermeiden sollten.

Der preußische Finanzminister hat einen Einkommensteuer- Gesetzentwurf ausgearbeitet, der, obgleich er sehr mäßig in seinen Anforderungen war, ebenso die Unzufriedenheit des Fürsten Bismarck, wie das Missbehagen der Bourgeoisie weckte, namentlich da er scharfe Bestimmungen für die richtige Angabe des Einkommens enthielt. Es verlautet, dass dieser Gesetzentwurf zurückgezogen werden soll. Und das klingt sehr glaublich. Fürst Bismarck zahlt ebenso wenig gerne Steuern, als andere reiche Sterbliche, und namentlich ist ihm die Einkommensteuer verhasst, wenn sie als wirklich große Einnahmequelle für den Staat dienen soll. Dafür ist man ein umso glühenderer Verehrer der indirekten Steuern und der Zölle, der Salz-, Bier-, Kaffee-, Petroleum- und Branntweinsteuer und last not least der Getreidezölle. Das Warum liegt auf der Hand.


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