[eigene Übersetzung des englischen Textes in Militant Nr. 477, 2. November 1979, S. 8 und 9]
Einhundert Jahre nach seiner Geburt feiert Militant einen großen Revolutionär
Leo Trotzki: 1879-1979
Warum muss man den 100. Jahrestag der Geburt Leo Trotzkis feiern?
Der der Geschichte unter seinem Pseudonym bekannte Trotzki wurde am 26. Oktober 1879 als Lew Dawidowitsch Bronstein in der Ukraine geboren (nach dem alten russischen Kalender, am 8. November nach dem westlichen Kalender, der in Russland erst 1918 eingeführt wurde).
Auf den Tag genau achtunddreißig Jahre später führte Trotzki den Aufstand an, der die Oktoberrevolution sicherstellte.
In der Revolution von 1905, Russlands „Generalprobe“ für 1917, wurde Trotzki zum Vorsitzen des Petrograder Sowjets gewählt. Schon vor 1905 vertrat Trotzki seine Theorie der permanenten Revolution und sagte voraus, dass die russische Arbeiter*innenklasse nicht nur die Aufgaben der liberal-kapitalistischen Revolution übernehmen, sondern auch die der sozialistischen Revolution beginnen müsse – in Verbindung mit der internationalen Entwicklung der sozialistischen Revolution.
Seine Theorie wurde durch die Ereignisse von 1917/18 glänzend bestätigt.
Zusammen mit Lenin war er anerkannter Mitanführer der ersten sozialistischen Revolution überhaupt, des größten Ereignisses in der Weltgeschichte. Trotzki war Kommissar für auswärtige Angelegenheiten in der ersten Sowjetregierung, Gründer der Roten Armee und Kriegskommissar von 1918 bis 1925.
Trotzki war außerdem zusammen mit Lenin Mitbegründer der Dritten oder Kommunistischen Internationale und verfasste die Manifeste und viele der wichtigsten Dokumente für deren erste fünf Kongresse.
Von 1918 bis 1927 war Trotzki Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Dann wurde er ausgeschlossen und ins Exil geschickt, weil die zunehmend bürokratische Stalin-Clique ihn zu Recht als ihren größten Gegner betrachtete.
Trotz seiner unübertroffenen Leistungen bis zu Lenins Tod im Jahr 1924 war Trotzkis späterer Beitrag nicht weniger wichtig. In der Tat ist Trotzkis wertvollstes Vermächtnis für die heutigen Marxist*innen die Tatsache, dass er in der Zeit der Isolation und Degeneration der russischen Revolution unbeirrt an den wahren Ideen Lenins und der bolschewistischen Partei festhielt und hartnäckig für die Verteidigung der wirklichen Traditionen des Oktobers kämpfte.
Trotzkis persönlicher Kampf gegen den Stalinismus endete am 19. [20.] August 1940, als er von Stalins Attentäter ermordet wurde. Aber nichts kann die Erinnerung an einen solchen Revolutionär begraben oder die Ideen auslöschen, die er während seines langen aktiven Lebens vertrat.
Selbst die führenden Vertreter*innen der westeuropäischen Kommunistischen Parteien, ehemals skrupellose Apologet*innen der Verbrechen Stalins, die jahrzehntelang die Rolle Trotzkis verunglimpften und verfälschten, sahen sich endlich gezwungen, die Verantwortung Stalins für die Ermordung Trotzkis einzugestehen und zu versprechen, seine „Rehabilitierung“ zu fordern.
Sie müssen jedoch noch Trotzkis marxistische Analyse des Stalinismus und die sich daraus ergebenden wichtigen politischen Schlussfolgerungen akzeptieren.
Doch die historische Persönlichkeit Trotzkis hat bei den „liberalen“, „demokratischen“ Gegner*innen des Marxismus kaum ein besseres Schicksal gehabt.
Trotz der Tatsache, dass Trotzki, viele seiner Familienangehörigen und Zehntausende der Internationalen Linken Opposition ihren Widerstand gegen den Stalinismus mit dem Leben bezahlten, gab es viele Versuche, Trotzki mit der totalitären Diktatur in Verbindung zu bringen.
Trotzki wurde als „Erzbürokrat“, „Militarist“ und Möchtegern-Diktator dargestellt. Alternativ wird behauptet, dass Trotzki zwar eine Opposition gegen Stalin organisierte, aber wie Lenin Ideen vertrat, die unweigerlich zu einer totalitären Diktatur führten.
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein! Nur die Furcht vor den echten, revolutionären Ideen Trotzkis, die die Abneigung der Liberalen gegen den Stalinismus bei weitem überwiegt – der sich immerhin dazu nutzen lässt, die Idee des Sozialismus zu diskreditieren –, macht solche Verzerrungen möglich.
Natürlich war Trotzki, wie Lenin, ein kompromissloser Verfechter der Diktatur des Proletariats. Aber ebenfalls wie Lenin vertrat auch er die marxistische Auffassung, dass die Diktatur des Proletariats auf „proletarischer oder sowjetischer Demokratie“ beruhen müsse, nicht auf persönlicher Diktatur und totalitärer Herrschaft, wie in der späteren stalinistischen Karikatur.
Ein Kampf auf Leben und Tod zwischen dem echten Bolschewismus und seinen Usurpator*innen
Der Zweck eines Arbeiter*innenstaates ist es, die Errungenschaften der Revolution zu konsolidieren, den Widerstand der alten besitzenden Klassen zu unterdrücken und die soziale und politische Vorherrschaft der Arbeiter*innenklasse zu garantieren. Dies kann nicht erreicht werden, wenn nicht die Arbeiter*innen, die armen Bäuer*innen und die anderen ausgebeuteten Schichten volle Meinungs- und Vereinigungsfreiheit genießen.
In der Tat war die Sowjetregierung, die den Bäuer*innen das Land gab und die Industrie in die Hände der Arbeiter*innen legte, die umfassendste und freieste Demokratie, die jemals in der Geschichte errichtet wurde.
Die verschiedenen Sowjet- und lokalen Komitees berieten frei und brachten oft scharfe Differenzen zum Ausdruck. Die Maßnahmen der führenden Bolschewiki beruhten auf ständigen Appellen an die Massen und stützten sich ganz auf deren Unterstützung und Initiative.
In den ersten fünf Jahren konnte die „Diktatur des Proletariats“, die die Herrschaft der Arbeiter*innenklasse über die Umgestaltung der Gesellschaft bedeutete, nicht weiter von einer Diktatur im Sinne einer repressiven, totalitären Herrschaft entfernt sein.
Während des Bürgerkriegs jedoch, als Großbritannien, Frankreich und andere kapitalistische Mächte die bewaffneten konterrevolutionären Kampagnen der weißen Generäle unterstützten, wurde die politische Freiheit zwangsläufig stark eingeschränkt. Anfang der 1920er Jahre, als der junge Arbeiter*innenstaat von Vernichtung bedroht war, sah sich die bolschewistische Regierung gezwungen, ein Verbot der Oppositionsparteien auszusprechen.
Für Trotzki wie für Lenin war die Beschneidung der politischen Freiheit eine vorübergehende Notmaßnahme, die durch den Bürgerkrieg notwendig geworden war. Als er jedoch befürchtete, dass die Isolierung der Revolution das Wachstum einer Bürokratie in der Partei, in den Sowjets, in der Armee und anderswo zur Folge hatte, die sich mehr und mehr um ihre eigenen Interessen kümmerte, war Trotzki der erste, der Alarm schlug.
Bereits 1923 begann Trotzki in einer Reihe von Artikeln, die später unter dem Titel „Der neue Kurs“ erschienen, vor den Gefahren einer postrevolutionären Reaktion und dem beginnenden Wachstum der Bürokratie in der bolschewistischen Partei und den Sowjets zu warnen. Er begann, gegen die Vorherrschaft und das willkürliche Verhalten der Parteibürokratie zu protestieren.
Bevor er 1924 starb, einigte sich Lenin mit Trotzki auf einen Block in der Partei um die Bürokratie zu bekämpfen.
Als Trotzki und eine Gruppe linker Oppositioneller einen Kampf für die „Wiederbelebung der proletarischen Demokratie“ begannen, musste das Politbüro versprechen, die Meinungs- und Kritikfreiheit in der Kommunistischen Partei wiederherzustellen. Doch Stalin und seine Mitarbeiter*innen sorgten dafür, dass dies ein toter Buchstabe blieb.
Der Kampf auf Leben und Tod zwischen dem echten Bolschewismus und seinen bürokratischen Usurpator*innen hatte begonnen.
Zunächst warnte er vor den Gefahren einer bonapartistischen Reaktion. Trotzki zeigte, dass die Ereignisse, die zu seinem erzwungenen Exil im Ausland im Jahr 1928 führten, dies zu einer vollendeten Tatsache machten.
Es waren nur Trotzki und die Internationale Linke Opposition, die eine klare marxistische Analyse der Entwicklung des Stalinismus lieferten
Bis 1934/35 befürwortete Trotzki weiterhin Reformen in der Sowjetunion, die auf die Wiederbelebung der sowjetischen Demokratie abzielten. Danach folgerte er, dass die bürokratische Diktatur, die die Oktoberdemokratie abgewürgt hatte, nur durch eine politische Revolution beseitigt werden konnte.
Es waren nur Trotzki und die Internationale Linke Opposition, die eine klare marxistische Analyse der Entwicklung des Stalinismus lieferten – und in der Lage waren, eine konsequente, marxistische Opposition aufrechtzuerhalten.
In einem Strom von Artikeln und vor allem in seinem brillanten Buch „Die verratene Revolution“ (1936) legte Trotzki die Grundlagen der Stalinschen Diktatur offen.
Stalin, so machte Trotzki klar, repräsentierte die neuen privilegierten bürokratischen Schichten, die sich durch eine blutige politische Konterrevolution die Früchte der Revolution angeeignet und die Arbeiter*innenklasse ihrer politischen Kontrolle beraubt hatten.
Dennoch bewahrte die Bürokratie die wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften der Revolution als Grundlage ihrer Macht.
Trotz der Bürokratie zeigen die Verstaatlichung der Produktion und die Planwirtschaft ihre immensen Errungenschaften, wenn auch zu weitaus höheren Kosten als unter der Arbeiter*innendemokratie. Die internationale Isolation erzeugte jedoch heftige Widersprüchen in der immer noch rückständigen russischen Wirtschaft. Das geringe Volkseinkommen, der Mangel an lebensnotwendigen Gütern und Konsumgütern sowie Konflikte um ihre Verteilung führten unweigerlich zu neuen sozialen Spaltungen, bei denen die herrschende Schicht unter Stalin ihre eigenen Privilegien und ihre Macht förderte.
Aufgrund der sozialisierten Eigentumsverhältnisse auf der einen Seite und der Herrschaft einer despotischen Bürokratie auf der anderen Seite charakterisierte Trotzki Russland als einen deformierten Arbeiter*innenstaat. Er definierte Stalins Regime als ein Regime des proletarischen Bonapartismus.
Das nachrevolutionäre Russland war eine Übergangsgesellschaft, die aus der Abschaffung von Großgrundbesitz und Kapitalismus hervorging, aber keineswegs eine sozialistische Gesellschaft, die die bewusste, demokratische Herrschaft der Arbeiter*innenklasse voraussetzen würde.
Indem Trotzki den „Stalin-Kult“ durchtrennte erklärte er die Degeneration der Sowjetunion nicht als Ergebnis von Stalins persönlichem Kampf um die Macht, sondern als Resultat eines tief verwurzelten Prozesses der Bürokratisierung, der aus der Isolation der Revolution resultierte.
Stalins „Theorie“ des „Sozialismus in einem Land“ war in erster Linie eine Rationalisierung der konservativen Rolle der Bürokratie. Später verstärkten die Politik und die Ideologie Stalins selbst die Isolation und Bürokratisierung und spielten in der Weltarena eine immer offenere konterrevolutionäre Rolle.
Obwohl Trotzki die Möglichkeit einer Restauration des Kapitalismus in Russland angesichts der massiven Niederlagen der Arbeiter*innenklasse auf internationaler Ebene nicht ausschloss, trat er für eine ergänzende politische Revolution zur Wiederherstellung der durch die Oktoberrevolution eingeführten Arbeiter*innendemokratie ein. Ihr Programm war das Programm Lenins:
* Freie und demokratische Wahlen mit dem Recht auf Abberufung aller Funktionär*innen in Partei, Staat und Industrie;
* Keine Funktionär*innen dürfen besser als Facharbeiter*innen bezahlt werden: Schluss mit bürokratischen Privilegien und Korruption;
* Abschaffung des stehenden Heeres und dessen Ersetzung durch demokratische Arbeiter*innenmilizen;
* Für eine demokratische Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung in der Industrie und eine Rückkehr zur demokratischen Herrschaft der Arbeiter*innen- und Bäuer*innenräte, die durch die Oktoberrevolution geschaffen wurden.
Trotzki hat ein unzerstörbares Vermächtnis hinterlassen
Dies ist die einzige Analyse und das einzige Oppositionsprogramm gegen den Stalinismus, das den Test der Zeit überstanden hat. In den 1930er Jahren lehnten Intellektuelle, die zuvor Trotzkis Position unterstützt hatten, angesichts des schrecklichen Ausmaßes von Stalins Terror einerseits und des Aufstiegs seines faschistischen „Zwillings“ in Italien, Deutschland und Spanien andererseits die Idee ab, dass die Sowjetunion ein „deformierter Arbeiter*innenstaat“ sei.
Sie vertraten die Auffassung, dass die in Russland herrschende Bürokratie eine neue und unabhängige soziale Klasse sei, eine „Managerklasse“ (laut James Burnham) oder eine „bürokratisch-kollektivistische Klasse“ (laut Max Shachtman).
Dies führte zu der Idee, dass Russland unter dem Stalinismus nicht einmal ein degenerierter Arbeiter*innenstaat war, sondern lediglich eine neue Variante des Kapitalismus, sogenannter „Staatskapitalismus“. Mit anderen Worten, diesen Kritiker*innen Trotzkis zufolge war von der Oktoberrevolution nichts übrig geblieben und die grundlegenden Aufgaben der sozialen Revolution müssten noch erfüllt werden.
Die Entwicklungen selbst hat diese Vorstellungen eindeutig widerlegt. Die ehemaligen Verfechter*innen der Theorie des „Staatskapitalismus“ sind heute auffallend still.
Sicherlich gibt es in den stalinistischen Staaten akute ökonomische Probleme und wachsende politische Konflikte: aber sie sind von grundsätzlich anderem Charakter als in den kapitalistischen Ländern. Es hat keine „Konvergenz“ von totalitärem Monopolkapitalismus und totalitärem „Staatskapitalismus“ gegeben, wie von Burnham, Shachtman und anderen postuliert.
Ironischerweise wurden Trotzkis Ideen in der Nachkriegszeit von einem völlig entgegengesetzten Standpunkt aus in Frage gestellt. Quasi-Marxist*innen wie Trotzkis Biograf Isaac Deutscher vertraten nach Stalins Tod die Ansicht, dass es mit Chruschtschows „Liberalisierung“ einen Prozess der „Entstalinisierung“ und allmählichen Wiederherstellung der Demokratie geben würde.
Mit anderen Worten sei die von Trotzki befürwortete politische Revolution nicht mehr notwendig; die Bürokratie würde weg reformiert werden …
Die Ereignisse selbst haben gezeigt, wie falsch diese Idee war. Der ungarische Arbeiter*innenaufstand von 1956 war – und bleibt – ein untrüglicher Vorbote der von Trotzki vorhergesagten politischen Revolution. Die innerhalb weniger Tage von den ungarischen Arbeiter*innen gegründeten Sowjets kehrten praktisch Punkt für Punkt zu dem von Trotzki vorgetragenen Programm der politischen Revolution zurück.
Nach 1956 versuchte die Bürokratie in Russland und Osteuropa zweifellos, einige der repressiveren Merkmale der Stalinschen Herrschaft zu beseitigen und die wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter*innen teilweise zu erfüllen, um den politischen Widerstand zu dämpfen.
Aber haben nicht die Ereignisse in Polen, der Tschechoslowakei und die Oppositionsbewegungen in anderen stalinistischen Staaten Trotzkis Perspektiven bestätigt? Unter den dissidenten Intellektuellen haben sich einige, wie die Brüder Medwedew, zweifellos von Trotzkis Schriften beeinflussen lassen und sich auf verworrene Weise seinen revolutionären Schlussfolgerungen genähert.
Aber überall dort, wo es eine Bewegung der Arbeiter*innen gab, wie in Polen, sind sie klar für die Verteidigung aller sozialen Errungenschaften, die unter dem Stalinismus, wenn auch in grotesk verzerrter Form, erreicht wurden, bekannt, und sie haben genau die gleichen Forderungen zur Errichtung der Arbeiter*innendemokratie erhoben, die ursprünglich von der Linken Opposition vorgebracht wurden.
Am hundertsten Jahrestag von Trotzkis Geburt – und neununddreißig Jahre nach seiner Ermordung – blicken die Kreml-Bürokrat*innen immer noch mit Furcht und Schrecken auf die weitere Verbreitung von Trotzkis Ideen, die zweifellos in den oppositionellen Untergrundkreisen, die unter den fortgeschrittenen Arbeiter*innen Russlands und Osteuropas zweifellos existieren, eine Wiedergeburt erlebt haben.
Trotzkis Ideen rücken wieder in den Vordergrund, denn die relativ fortschrittliche Rolle, die die Bürokratie gespielt hat, während die verstaatlichte Planwirtschaft Russland noch entwickeln konnte, ist nun völlig aufgebraucht. Die Bürokratie ist heute ein absolutes Hemmnis für weiteren Fortschritt.
Die große, hochgebildete und hochkultivierte Arbeiter*innenklasse, die sich auch unter dem Stalinismus entwickelt hat, zerrt an ihren Ketten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Arbeiter*innen sich bewegen, um die parasitäre Bürokratie von ihrem Rücken abzuwerfen.
Die ungebrochene Furcht der Bürokratie vor Trotzkis Ideen und die instinktive Art und Weise, in der die aktiven Gegner*innen des Stalinismus danach streben, sie wiederzuentdecken und zu begreifen, sind die schönste Ehrung, die die Geschichte Trotzki erweisen konnte.
Für die heutigen Marxist*innen sind Trotzkis Bücher und Artikel aus den 1930er Jahren und von 1940, Schriften, die nur aus seiner Beteiligung an den Kämpfen jener Jahre resultieren konnten, ein unverzichtbarer Leitfaden für das heutige Verständnis und Handeln.
Trotzkis Analyse des Stalinismus hat auch heute noch ihre volle Gültigkeit. Die Theorie des „proletarischen Bonapartismus“ liefert zusammen mit der Theorie der „permanenten Revolution“ den einzigen Schlüssel zum Verständnis der stalinistischen Staaten Osteuropas, Chinas, Kubas und einer Reihe anderer Länder.
Und Trotzkis Schriften über die Strategie und Taktik der sozialistischen Revolution, die er in seinen letzten Lebensjahren verfasste, bleiben eine Goldgrube für Marxist*innen.
Trotzkis Kritiker*innen haben häufig verächtlich darauf hingewiesen, dass sich seine Prognosen für den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen nicht bewahrheitet haben. Auf den Krieg, so sagte er voraus, würden revolutionäre Umwälzungen folgen, die über das Schicksal des Stalinismus und des Kapitalismus entscheiden würden, entweder mit einer erfolgreichen sozialen Revolution im Westen und einer politischen Revolution in Russland – oder mit einer barbarischen kapitalistischen Konterrevolution in Ost und West.
Trotzki hatte insofern gar nicht so Unrecht, als auf den Krieg massive revolutionäre Umwälzungen folgten. Was er nicht voraussah – und auch nicht voraussagen konnte – war die relative Stärkung des Stalinismus.
Die führenden stalinistischen und reformistischen Vertreter*innen der Arbeiter*innenbewegung brachten gemeinsam die Nachkriegsbewegungen zum Entgleisen und übergaben die zerrütteten Staaten und Volkswirtschaften Italiens, Frankreichs, Griechenlands und anderer Länder auf dem Silbertablett an die kapitalistischen Mächte zurück – und legten damit die politische Grundlage für eine neue Periode eines anhaltenden kapitalistischen Aufschwungs und relativer Stabilität.
Doch die weltweite Rezession von 1974/75 signalisierte das Ende des langen Nachkriegsbooms. Die Arbeiter*innenklasse der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, die Trotzki stets als Schlüssel zur sozialistischen Revolution betrachtete, tritt erneut gegen den Kapitalismus in Aktion, insbesondere in Spanien, Portugal, Italien und Großbritannien. Morgen werden es Frankreich, Deutschland – und Amerika sein.
Inzwischen nehmen die Kämpfe der unterdrückten Völker der ex kolonialen Welt, die trotz des Nachkriegsbooms anhielten, eine noch größere Intensität an. Und diese Bewegungen werden mit den kommenden Umwälzungen in Russland und Osteuropa einhergehen und mit ihnen interagieren.
Wer wird jetzt sagen, dass Trotzkis Optimismus, auch wenn er in einer Zeit der schwärzesten Reaktion zum Ausdruck kam, nur eine „tragische Illusion“ war?
„Die Erfahrung meines Lebens“, sagte Trotzki vor der Dewey-Kommission, die eingesetzt wurde, um Stalins monströse Säuberungsprozesse zu widerlegen, „in denen es weder an Erfolg noch an Misserfolg gefehlt hat, hat meinen Glauben an die klare, strahlende Zukunft der Menschheit nicht nur nicht zerstört, sondern ihm im Gegenteil eine unzerstörbare Stählung verliehen. Diesen Glauben an die Vernunft, an die Wahrheit, an die menschliche Solidarität, den ich mit achtzehn Jahren in die Arbeiter*innenviertel der russischen Provinzstadt Nikolajew mitgenommen habe, habe ich mir voll und ganz bewahrt. Er ist reifer geworden, aber nicht weniger glühend.“
Später, als Stalins Attentäter sich bereits anschickte, seinem Gegner den Schädel einzuschlagen, schrieb Trotzki sein Testament, in dem er seinen revolutionären Optimismus bekräftigte.
„Wie immer auch die Umstände meines Todes sein werden, ich werde sterben im unerschütterlichen Glauben an die Zukunft des Kommunismus. Dieser Glaube an den Menschen und an seine Zukunft gibt mir eben jetzt eine Widerstandskraft, die mir keine Religion geben könnte. … Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.“
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