Leo Trotzki: Brief an Alexander Dawidowitsch Kaun
[21. September 1932, eigene Übersetzung des russischen Textes. Korrekturen von russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen]
Lieber Alexander Dawidowitsch!
Ich danke Ihnen für Ihre Nachricht. Die Aussicht, dass ich in die Tschechoslowakei gehe, hat sich, wie Sie aus den Zeitungen wissen, zerschlagen. Ich habe nicht den geringsten Grund zu glauben, dass die Regierung der Tschechoslowakischen Republik verpflichtet wäre, mir ein Visum zu erteilen. Aber ich muss sagen, dass diese Herren ein seltsames System der Visumverweigerung haben.
Ich kam auf Initiative eines ihrer Minister zu ihnen. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, weil ich glaubte, dass die Eingabe hoffnungslos sei. Aber man versicherte mir, dass in der Regierung die Sache sehr günstig stehe. Ich habe ein richtiges Schriftstück aufgesetzt. Nach einigen Monaten legten sie für mich konkrete und genaue Bedingungen fest. Ich habe sie als definitiv und präzise akzeptiert. Das war noch im Februar oder März dieses Jahres.
Danach vergingen einige Monate, und ich war mit anderen formellen Angelegenheiten beschäftigt. Alle Kanzleischwierigkeiten wurden im Wesentlichen behoben. Visa für die Türkei, Italien und Österreich wurden besorgt – hin und zurück. Nach all der Arbeit und dem Ärger, der Suche und den telegrafischen Kosten hieß es, sie könnten kein Visum ausstellen. Frustriert bin ich sehr wenig und registriere das Ganze nur als eine politische Episode.
Wie die Wahl in Maine gezeigt hat, sind die Chancen der Demokraten sehr gut. Die Republikaner agieren mit der Börsenhausse. Eine derartige Hausse leitet in der Regel einen positiven Wendepunkt in der Konjunktur ein. Der Zeitpunkt des Umschwungs ist jedoch nirgends schriftlich festgelegt. Das Hauptsächliche ist, dass die Börsenhausse auf dem Weg zu einer echten wirtschaftlichen Erholung zu weit vorauseilt und unweigerlich krachen muss. Vieles hängt nun davon ab, ob dieser Krach vor oder nach den Präsidentschaftswahlen stattfindet. Wenn es vorher passiert, wird es Hoover das Rückgrat brechen. Doch selbst angesichts des Aufwärtstrends an den Aktienmärkten ist ein Sieg der Demokraten nicht ausgeschlossen, auch wenn er weniger sicher ist.
Louis Fischer gehört zur Gruppe jener internationalen Journalisten, die sich nicht an der direkten Hetzjagd auf mich beteiligen, sondern im Gegenteil ihre „Unparteilichkeit“ auf jede erdenkliche Weise demonstrieren, aber nur, um der stalinistischen Bürokratie noch mehr dienen zu können. Letztere erkannte schließlich, dass die kruden Schriften von Tschinowniks keinen großen Leserkreis beeindrucken, und beschloss daher, unvoreingenommene und populäre Autoren in die Sache einzubeziehen. Zu diesem Zweck wurde Emil Ludwig nach Moskau eingeladen. Sein neues Buch ist im Wesentlichen ein Versuch, auf meine Autobiografie zu antworten. All diese „unparteiischen“ Schriftsteller genießen alle möglichen „Gefälligkeiten“ der stalinistischen Bürokratie. Erinnern Sie sich, dass Zola in seinem „Geld“ die Finanzpresse in zwei Gruppen einteilt: die Korrupten und die Ehrlichen; „die Ehrlichen kosten mehr“. „Unvoreingenommenheit“ kostet auch mehr. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sich die Wahrheit ihren Weg bahnen wird.
Einen äußerst besorgniserregenden Charakter hat die wirtschaftliche und politische Lage in der UdSSR. Dass der Fünfjahresplan in vier Jahren (faktisch in vier Jahren und drei Monaten) nicht erfüllt wurde, wird in der sowjetischen Presse inzwischen offen zugegeben. Aber es geht nicht um die Frist, denn es ist keine Frage des Sports. Es geht um die furchtbar gewachsenen und verschärften Ungleichgewichte, die in allen Bereichen zu Durchbrüchen und Explosionen führen. Wie werden die bürgerlichen Ökonomen, Liberalen und andere die bevorstehende Krise auffassen? vor allem, wenn die sowjetische Krise mit dem Beginn eines gewissen Aufschwungs auf dem kapitalistischen Markt zusammenfällt?
Ich sende Ihnen die neueste Ausgabe des Bulletins.
Herzliche Grüße an Ihre Frau und Sie von uns allen. (L.D. Trotzki)
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