Clara Zetkin: Redebeitrag auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Hannover

[11. Oktober 1899, „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Hannover von, 9. bis 14. Oktober 1899”, Berlin 1899, S. 177-182. Gekürzt in Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 185-190]

Frau Zetkin-Stuttgart: Ich begrüße es, dass der Anregung Stoltens entsprechend in der Bebelschen Resolution an Stelle des Wortes „Programm“ der Ausdruck „Grundanschauungen“ treten soll, weil dadurch auch der letzte Schein zerstört werden muss, als wäre es den Gegnern der Bernsteinschen Auffassung um Buchstabenglauben zu tun. Um was es sich für uns handelt, ist wirklich etwas anderes als der Buchstabe unseres Programms; die Wichtigkeit dieser Diskussion besteht darin, dass sie einen entscheidenden Einfluss ausüben wird auf die praktische Betätigung unserer Partei. Ich gehöre aber nicht zu denen, die eine andere Fassung des Programms als eine der dringendsten Aufgaben der Partei erachten. Unser Programm ist kein Kompendium für die gesamte soziale Entwicklung, sondern es hat nur unsere Auffassung über die Richtung der gesamten Entwicklung zu zeigen, nur die Gesamttendenz festzustellen.

Die Katastrophentheorie ist nicht, wie David meint, der Ausgangspunkt unserer Praxis geworden; unsere Aufgaben sind nicht auf diese legendäre Katastrophentheorie zugespitzt. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, ist der Antrag auf dem Londoner Kongress, auf den David sich beruft, gar nicht angenommen, ja nicht einmal zur Abstimmung gebracht worden (sehr richtig!); man kann doch unsere Partei nicht verantwortlich machen für jeden Antrag, der auf irgend einem unserer Parteitage eingebracht ist, (Lebhafte Zustimmung.)

Bei der Krisentheorie handelt es sich nur darum, dass die kapitalistische Produktion einen unlösbaren Gegensatz aufweist zwischen ihrem Lebensbedürfnis nach schrankenloser Ausdehnung und der beschränkten Ausdehnungsfähigkeit des Marktes, und dass ein weltgeschichtlicher Augenblick gesetzt ist, an dem die kapitalistische Gesellschaft an diesem ihrem inneren Gegensatz zusammenbrechen muss. Aber dass wir unsere Taktik darauf zuspitzen, dafür fehlt mir jeder Anhalt. David wendet sich gegen die Annahme, die Konzentration des Kapitals sei bereits vollzogen, der Mittelstand bereits untergegangen. Hätte er das Kautskysche Buch: „Das Erfurter Programm“ gelesen, so würde er wissen, dass Kautsky sogar die Möglichkeit vorgesehen hat, dass im Augenblicke der Besitzergreifung der Gewalt durch das Proletariat noch eine große Zahl von Kleinbetrieben vorhanden ist, und das beweist, dass die Fresslegende gar nicht in dem Sinne aufgefasst ist, wie es uns nicht nur von unseren Gegnern, sondern überraschenderweise auch von einem Teil unserer Genossen imputiert wird, als ob das siegreiche Proletariat nichts anderes zu tun hätte, als in einer Nachtsitzung die Expropriation dieser kleinen Eigentümer zu beschließen. Sie werden nicht beseitigt werden durch einen gewaltsamen Eingriff in das Privateigentum, sondern sie werden nach und nach durch die Überlegenheit des Großbetriebes ganz naturgemäß auf einem revolutionären Wege verschwinden.

Die Verelendungstheorie ist in ihrer schroffen Weise in dem Programm zum Ausdruck gebracht als Antwort auf die von bürgerlicher Seite aufgestellte Behauptung, es würde die kapitalistische Produktionsweise aus ihren eigenen immanenten Kräften heraus von selbst ohne jedes Eingreifen der Arbeiterklasse zur Hebung der Lage des Proletariats führen, einer Behauptung, verbreitet

zum Zwecke, das Proletariat in seinem Klassenkampfe zu hemmen, ja ihm direkt die Lust dazu auszutreiben. Dass die kapitalistische Produktionsweise nicht durch ihr eigenes Wesen zur Beseitigung des absoluten und sozialen Elends führt, das beweisen unter anderem die Zustände auf dem ganzen großen Gebiet der Hausindustrie. In Brauns Archiv fordert Dr. Weber sehr energisch die Beseitigung der gesamten Hausindustrie durch gesetzliche Vorschrift mit einem Schlag, weil die Arbeiterschaft der Hausindustrie nichts anderes sei als Almosenempfängerin. Dass nicht nur das soziale Elend, sondern auch das physische zunimmt, beweist u. a. auch die Tatsache, dass auf dem Gebiete der Frauenarbeit die Arbeit der verheirateten Frauen nicht nur verhältnismäßig stärker steigt, sondern dass sie den weitaus größten Teil der Frauenarbeit in den allerungesundesten und gefährlichsten Betrieben darstellt. Wenn in den Braunkohlengruben, Ziegeleien, chemischen Fabriken, der Fabrikation von Uhrgehäusen usw. unter den Frauen sich von 86 bis 71 % Verheiratete befinden – glauben Sie denn, dass sie sich diese ungesündesten Gewerbe aussuchen würden, wenn nicht das Elend in den proletarischen Familien sie dazu zwingen würde? (Sehr gut!)

Von Stimmungsmacherei sprach David. Wenn Bernstein seine Meinung durch Zahlenmaterial zu stützen sucht, so wird es ihm als große wissenschaftliche Tat angerechnet; wenn aber Bebel seinen entgegengesetzten Standpunkt durch zahlenmäßiges Material zu stützen sucht, das sich wahrlich nicht an die Stimmung wendet, sondern an den nüchternen Verstand (sehr wahr!), dann ist es Stimmungsmacherei! Ich überlasse es dem Parteitage, zu beurteilen, welche Methode David befolgt hat, als er diese kühne Behauptung aufstellte.

Der Unterschied der David-Bernsteinschen Auffassung von unserem Parteistandpunkt ist der, dass sie der Sozialreform eine ganz andere Rolle für den Befreiungskampf des Proletariats zuweist. (Lebhafte Zustimmung.) Darin liegt das Entscheidende, nicht, dass wir die Reform niedriger schätzen, sondern sie überhaupt anders bewerten. Für uns sind alle Reformen, die wir überhaupt erreichen können — und wir haben auch die kleinste genommen — nicht ein Ansatz zur Verwirklichung der Sozialisierung der Gesellschaft, sondern nur Mittel, das Proletariat kampffähiger zu machen. (Beifall.) David hat freilich auf Grund der berühmten Aushöhlungstheorie ”nachgewiesen”, dass die Fabrikgesetzgebung bereits der Anfang der Sozialisierung der Produktionsmittel sei, weil das Recht des Unternehmers, nach eigenem Ermessen seine Mittel zu gebrauchen, eingeschränkt wurde. Genosse David, wenn das richtig wäre, dann steckte auch in einem guten Teil der Polizeiverordnungen ein Stück Sozialismus (Heiterkeit, Beifall.); dann wäre die Vorschrift, dass wir unsere Hunde nicht ohne Maulkorb herumlaufen lassen dürfen, auch ein Stück Sozialismus, denn dadurch wird das Recht an unserem Eigentum beschränkt. (Große Heiterkeit. Lebhafte Rufe. ”Das ist sehr richtig!” Große Unruhe. Ulrich ruft: ”Das ist sehr faul!”) Ich glaube, ich habe das Recht, mich auf der gleichen Höhe der Diskussion zu bewegen wie David. (sehr gut! Unruhe.)

Genosse David hat zum Beweis für seine Aushöhlungstheorie auch darauf hingewiesen, dass Marx erklärt hatte, der Normalarbeitstag bedeute die Verwirklichung eines Prinzips. David wird im ganzen ”Kapital” umsonst suchen, wenn er den Nachweis dafür erbringen wollte, dass Marx in der Verwirklichung eines Prinzips die Verwirklichung des sozialistischen Prinzips sucht. Im Zusammenhang handelt es sich nur um die Anerkennung des Prinzips, dass die Ware ”Arbeitskraft” eine Ware eigener Art ist, an der lebendiges Menschentum hängt, und dass dies lebendige Menschentum nach der hygienischen Seite hin im Interesse der Gesellschaft geschützt werden muss. Wenn David der Meinung ist, dass unsere Kapitalistenklasse sich allmählich ihre Freude am Eigentum gewissermaßen verekeln lässt und schließlich, wenn nur noch die wenigen Millionäre übrig sind, sagt: ”Ach, Kinder, seid doch so gut, befreit uns von diesen Dornen und schafft unser Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln ab!” — so meine ich, dass gerade die ganze Entwicklung der Fabrikgesetzgebung ein Beweis dafür ist, dass in der kapitalistischen Gesellschaft das Unternehmertum sich jeder weitgehenden Einschränkung seiner Machtbefugnisse aufs Schärfste widersetzt.

Der Kampf um den gesetzlichen Arbeiterschutz datiert wirklich nicht von heute und gestern, und wie weit sind wir noch im Rückstande! Ich erinnere nur daran, dass in England, dem Musterland des Arbeiterschutzes, der erwachsene Arbeiter mit Ausnahme des Bäckers und des Eisenbahners noch gar nicht gesetzlich geschützt ist. Ich erinnere ferner an die Tatsache, dass dort die Kinderarbeit noch nicht mal vom 13. Jahre ab verboten ist. Wenn nach dieser Richtung hin nennenswerte Vorteile zu erhoffen sind, so müssten wir von Seiten einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Vertreter immer wieder die Notwendigkeit des Schutzes der Heiligkeit der Familie betonen, doch erst einmal — ich will bescheiden sein — den Achtstundentag für die Arbeiterinnen haben oder den Sechsstundentag für die verheirateten Arbeiterinnen. Gewiss, durch die Fabrikgesetzgebung kann der Arbeiter in etwa geschützt werden, aber der springende Punkt, die Abhängigkeit, wird nicht beseitigt, seine Arbeitskraft bleibt nach wie vor eine Ware und untersteht den Gesetzen der kapitalistischen Warenproduktion.

Irrig ist auch die Auffassung, dass die Gewerkschaften schon Wesentliches zur Sozialisierung beitragen können. Der Kampf der Gewerkschaften zielt vielmehr darauf hin zu verhindern, dass der Profithunger die Arbeitsbedingungen sogar unter die jeweiligen Lebensbedingungen herabdrückt. Bernstein ist auch der Ansicht, dass es sich beim gewerkschaftlichen Kampf um eine Herabsetzung der Profirate zugunsten der Lohnrate handelt. Gewiss begrüßen wir jede Erhöhung der Lohnrate mit Freuden, aber für uns handelt es sich doch nicht nur darum, die Profitrate herabzusetzen, sondern sie zu beseitigen, die ganze kapitalistische Wirtschaftsordnung zu beseitigen; nicht nur besser gestellte Lohnsklaven zu haben, sondern die Lohnsklaverei vollständig abzuschaffen. Für die von David so schön geschilderte allmähliche Sozialisierung der Produktionsbedingungen durch die Gesellschaft kommen doch auch die Schranken in Betracht, welche der Wirksamkeit der Gewerkschaften durch die kapitalistische Produktion selbst gezogen werden dadurch, dass die Produktivität der Arbeit fort und fort steigt und deshalb mehr und mehr Arbeitskräfte überflüssig gemacht werden. Dieselben Momente bedingen, dass in immer höherem Maße ungeschulte Arbeiter, Frauen und Kinder verwendet werden. Schließlich kommt in Betracht, dass durch die Vernichtung des Mittelstandes und der selbständigen Existenzen immer mehr rückständige, ungeschulte, unorganisierte Massen auf dem Arbeitsmarkt erscheinen. Aber mindestens ebenso groß wie die Bedeutung der Gewerkschaften als einer Bewegung für die Herbeiführung von Arbeitsbedingungen, welche der Arbeiterklasse eine einigermaßen kulturelle Lebenshaltung ermöglichen, ebenso groß, wenn nicht noch größer ist die Wirksamkeit, welche die Gewerkschaften dadurch entfalten, dass sie die Proletarier organisieren, aufklären und dem Klassenkampf zuführen. Dadurch arbeiten allerdings die Gewerkschaften sehr wesentlich der Sozialisierung der Gesellschaft vor, aber nicht in dem Sinne, dass sie schon innerhalb der heutigen Gesellschaft sozialistische Einrichtungen erzeugen, sondern in dem Sinne, dass sie uns Kämpfer erzeugen, welche die sozialistische Gesellschaft einführen können. (Sehr richtig!)

Auch das Genossenschaftswesen hat David als Beweis dafür angeführt, dass die Arbeiterklasse nicht in erster Linie die politische Macht zu erobern habe, sondern vielmehr schon innerhalb der heutigen Gesellschaft auf wirtschaftlichem Gebiete mit der allmählichen Sozialisierung vorgehen solle. David hat sich ganz wesentlich auf die Genossenschaften in Belgien berufen, die nach Vandervelde bereits ein kollektivistisches Embryo darstellen. Ja, in gewissem Sinne sind auch die Aktiengesellschaften Embryonen des „kollektivistischen Prinzips”, aber man muss doch festhalten, dass innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft alle diese Einrichtungen nur Ansätze darstellen und die materiellen Vorbedingungen erzeugen, welche eine Sozialisierung ermöglichen, dass aber die kapitalistische Gesellschaft selbst die wichtigsten Bedingungen vorenthält, welche die Sozialisierung dieser Einrichtungen zur Wirklichkeit machen. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft unterstehen auch die Genossenschaften den Gesetzen der kapitalistischen Produktion. Und die Genossen in Belgien fassen ja ihre Genossenschaften auch nicht von dem Gesichtspunkt auf, dass sie bereits Ansätze zur Sozialisierung sind. Die belgischen Genossenschaften unterscheiden sich durch ein ganz wesentliches Merkmal von denen in allen anderen Ländern, es sind in erster Linie Kampfesorganisationen der belgischen Arbeiterpartei, So heißt es zum Beispiel im Artikel 6 des Statuts der belgischen Genossenschaft „Volkshaus“ in Brüssel: „Die Genossenschaft ist der Arbeiterpartei angeschlossen.“ Und Artikel 40 heißt: „Um Mitglied der Genossenschaft zu werden, muss man … das Programm der Arbeiterpartei anerkennen,“ Und auf dem Titel jedes Mitgliedsbuches steht ausdrücklich: „Das Volkshaus ist eine sozialistische Genossenschaft, die Genossenschaftler anerkennen durch ihre Eintragung in die Bücher der Genossenschaft das Programm der Arbeiterpartei,“ Über diese Auffassung kann auch insofern kein Zweifel sein, als Vandervelde in dem von David zitierten Artikel in der „Neuen Zeit“ weiter erklärt: „Mit einem Worte: Alles, was er verdient, kommt von der Partei; Alles was er ausgibt – ausgenommen Miete, Steuern und kleine Einkäufe unter der Hand – geht zur Partei; Alles, was er tut, von der täglichen Arbeit bis zur Propaganda am Sonntag, geschieht für die Partei. Auf diese Weise bildet sich in jedem unserer industriellen Zentren ein Milieu, das dem Einfluss der kapitalistischen Umgebung fast vollständig entzogen ist, und innerhalb desselben eine Gruppe von Vorkämpfern bis aufs Mark vom Sozialismus durchtränkt.“ Ja, wenn wir in Deutschland die materiellen, die gesetzlichen, die politischen Vorbedingungen haben könnten für Genossenschaften wie in Belgien, die das materielle Rückgrat des gesamten politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterkampfes bilden, dann wäre ich die Erste, die dafür wäre, dass wir solche Genossenschaften von Partei aus als Organe des kämpfenden Proletariats gründen. Es wäre mir viel lieber, wenn die Mittel unserer Partei durch solche Genossenschaften aufgebracht würden, als dass sie zum großen Teil dadurch aufgebracht werden, dass man bei unserer Presse in erster Linie den berühmten Miquelschen fiskalischen Standpunkt in den Vordergrund stellt. Ich beziehe das nicht nur aus unsere Tagesliteratur, sondern auch auf unsere Broschüren und Unterhaltungsliteratur Es wäre sonst ganz unmöglich, dass solche niederträchtigen Erzeugnisse wie die „Töchter des Südens“ in einem Parteiverlag erscheinen können. (Zustimmung.)

Ich resümiere mich. Im Gegensatz zu Bernstein und David betrachten wir alle jene Reformen, die wir durch Gewerkschaften, durch die Gesetzgebung und Genossenschaften erreichen können, wohl als wertvoll, aber sie können nicht unser Hauptziel darstellen. Wir erstreben diese Reformen als Mittel, die Kampffähigkeit des Proletariats zu erhöhen. Es kommt auch nicht nur darauf an, wie wir diese Reformen bewerten, sondern auch, wie wir sie erreichen sollen. Sollen wir für diese Reformen kämpfen als selbständige Klassenpartei oder als eine Partei der demokratischen Sammlung? Bernstein hat das nicht klar ausgesprochen, aber aus seinen Ausführungen und aus den Zustimmungen, die ihm hin und wieder zuteil wurden, kann man sehr wohl schließen, dass es innerhalb der Sozialdemokratie Elemente gibt, denen es angenehm wäre, wenn eine Politik der demokratischen Sammlung von Seiten der Sozialdemokratie angestrebt würde. Ich brauche nicht erst zu sagen, dass schon das Fehlen einer wirklich starken bürgerlichen Demokratie in Deutschland dies unmöglich macht, mit nichts können wir uns nicht koalieren. Aber selbst wenn es möglich wäre, so würden wir durch eine solche Politik zu einer Abschwächung unseres Klassenstandpunktes gezwungen, zu einer Abschwächung aller derjenigen Momente, die uns von den bürgerlichen Reformern und Demokraten trennen. Und dies Moment ist gerade die Betonung unseres Endziels, die Betonung der Eroberung der politischen Macht zur Sozialisierung der Gesellschaft. Wenn wir die Anschauungen Bernsteins zurückweisen, so geschieht es wahrhaftig nicht, weil uns ein Dogma heilig ist, weil wir jede Kritik als ein Attentat ansehen, sondern weil seine Kritik vor den Tatsachen nicht besteht. Hätte Bernstein gesagt, auf dem Gebiet der Reformarbeit tut ihr nicht genug, ihr müsst mehr tun, so hätte niemand diese Kritik zurückgewiesen. Wohl aber weisen wir die Aufforderung zurück, diese Reformen schon zu betrachten als einen Übergang zur Sozialisierung der Gesellschaft und das Schwergewicht unserer Tätigkeit zu verschieben von dem Kampfe um die Eroberung der politischen Macht auf das Gebiet der heutigen Tagesarbeit. Gewiss, die Reformarbeit ist nötig, sie drängt sich uns auf Schritt und Tritt von selbst auf. Würden wir uns unter die Massen begeben, lediglich um sie zu uns heranzuziehen, wir wären nicht viel besser als Bauernfänger. Nein, wir treten für diese Reformen ein, nicht nur, um die Massen zu gewinnen, sondern vor allem, um sie zu heben. Mit Sklaven, die ihre Ketten brechen, kann wohl ein augenblicklicher Putsch gemacht, aber nicht eine neue Gesellschaft aufgebaut werden.

Unser ganzes Reformwerk ist darauf gerichtet, die Arbeiterklasse in wirtschaftlicher, geistiger und sittlicher Beziehung auf eine höhere Stufe zu heben. Alles Reformwerk genügt uns nicht, und wenn Genosse Adler sagt, wir müssen jeden Augenblick mit aller Energie für die Gegenwartsforderungen wirken, als ob es sich um die Erreichung des Endziels handelt, so unterschreibe ich diesen Satz mit beiden Händen. Aber ich füge noch hinzu: Verlieren wir über diese Abschlagszahlungen nicht unser Hauptziel aus den Augen, klären wir das Proletariat auf, organisieren wir es mit einer Überzeugungstreue, mit einer Begeisterung, als ob die Verwirklichung unseres Endziels schon morgen möglich wäre. (Stürmischer Beifall.)


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