Lynn Walsh: Wer ist schuld?

[eigene Übersetzung des englischen Textes in Socialism Today, Nr. 129, Juni 2009]

Die aktuelle Wirtschaftskrise heizte Wellen der Wut auf der ganzen Welt an. Hauptzielscheibe sind die Spitzenbanker*innen und Börsenhändler*innen, die die zügellose Politik des ultrafreien Marktes der letzten 20 Jahre versinnbildlichen. Unterstützt von ihren politischen Kompliz*innen haben sie sich bereichert, während sich die Bedingungen für die Arbeiter*innen verschlechterten und das Finanzkapital den Lebensstandard in den neokolonialen Ländern herunterdrückte. Lynn Walsh argumentiert, dass hinter der obszönen Gier grundlegendere Gründe für die heutigen globalen Turbulenzen stehen.

Der Finger der Beschuldigung zeigt auf gierige Banker*innen und Finanzier*innen. Sie werden als verantwortlich für die Finanzkernschmelze angesehen, die einen weltweiten Wirtschaftseinbruch ausgelöst hat. Eine Welle der Empörung schwappte über die USA, als 80 Direktor*innen der American International Group sich selbst 165 Millionen Dollar an Boni auszahlten, nachdem sie von den Steuerzahler*innen mit einem Betrag von 173 Milliarden Dollar gerettet worden waren. „Wollen die führenden Vertreter der Wall Street eine antikapitalistische politische Flutwelle in den Vereinigten Staaten auslösen, die sie für immer hinwegfegen wird? Es fängt sicher an, danach auszusehen.“ (Martin Sieff, UPI.com, 16. März)

In Großbritannien gab es Empörung der Bevölkerung, als Sir Fred Goodwin, „Fred the Shred“ [etwa Zerfetz-Fred], der Chef der Royal Bank of Scotland, der deren Ruin zu verantworten hatte, mit einem Pensionsfonds von 17 Millionen Pfund davonkam – was ihm eine Pension von 700.000 Pfund pro Jahr einbrachte –, die effektiv von den Steuerzahler*innen finanziert wurde.

Es gibt jedoch zunehmend die Erkenntnis, dass die Banker*innen und Spekulant*innen nur die Galionsfiguren eines verrotteten Systems sind. Die „Financial Times“ verwies auf die „weit verbreitete und tief empfundene Wut der US-Bevölkerung auf den Finanzkapitalismus und den Kapitalismus … die neue und dominierende Tatsache im politischen Leben des Landes”. (Chrystia Freeland, 27. März) Aber es ist für führende politische Vertreter*innen und sogar für Großkonzernboss*innen politisch opportun, die „gierigen” und „unverantwortlichen” Finanzier*innen zu beschuldigen. Selbst in der seriösen Finanzpresse ist die Debatte über die Ursachen der gegenwärtigen Krise, die in einer tiefgreifenden, langfristigen Krise des Systems begründet liegt, meist sehr oberflächlich.

So behauptet beispielsweise der Kolumnist David Brooks in der „New York Times“, es gebe „zwei allgemeine Erzählungen, die an Bedeutung gewinnen: die Erzählung der Gier und die Erzählung der Dummheit“. (Greed and Stupidity [Gier und Dummheit], 3. April) Wie kann es irgendeinen Zweifel daran geben, dass die räuberische Profitgier von Investmentbanker*innen, Hedgefonds und ultrareichen Investor*innen den Prozess von finanziellem Boom und Krach beschleunigt hat? Es stimmt, sie waren die Akteur*innen tiefer gehender Prozesse. Aber sie wurden fabelhaft reich, während sich die Ungleichheit vertiefte.

Dennoch verwirft Brooks die Erzählung von der Gier zugunsten der Erzählung von der Dummheit: „Übermütige Banker wussten nicht, was sie taten”. Sie verstanden die komplexen Finanzinstrumente, die sie einsetzten, nicht. Sie verließen sich zu sehr auf mathematische Modelle. „Wir gerieten in [die Krise]“, folgert Brooks, „weil arrogante Händler auf der ganzen Welt ein hochriskantes Spiel spielten, das sie nicht verstanden“.

Darin ist natürlich ein Körnchen Wahrheit. Die komplexen Finanzinstrumente, Derivate, forderungsbesicherte Wertpapiere usw., die eigentlich Risiken streuen – und sogar beseitigen – sollten, haben tatsächlich das Risiko katastrophal verallgemeinert. Aber auch dies war ein Symptom einer kranken Wirtschaft, nicht eine Hauptursache. Brooks‘ Darstellung ist in ihrer Einfachheit fast lächerlich. Der Kolumnist verweist jedoch auf eine ernsthaftere Analyse, die in seriösen kapitalistischen Zeitschriften eine Debatte ausgelöst hat.

Untergehende Marktwirtschaften

„The quiet coup“ [Der lautlose Putsch] von Simon Johnson, Chefökonom des IWF in den Jahren 2007-08, enthüllt (wie es die Einleitung des Magazins formuliert) die alarmierende und „unangenehme Wahrheit“, dass „die Finanzindustrie die [US-]Regierung effektiv unter ihre Kontrolle gebracht hat“. (The Atlantic Monthly, Mai 2009, www.theatlantic.com) Als IWF-Beamter war Johnson beteiligt an vielen Krisen in „Schwellenländern”, halb entwickelten Wirtschaften wie den südostasiatischen Ländern 1997, Russland 1998 und so weiter. Jede Krise ist anders, aber er sieht einen gemeinsamen Nenner:

„Typischerweise befinden sich diese Länder aus einem einfachen Grund in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage: Die mächtigen Eliten in diesen Ländern haben in guten Zeiten zu viel gewagt und sind zu viele Risiken eingegangen.” (Angesichts der ungleichmäßigen, widersprüchlichen Entwicklung der neokolonialen Entwicklungsländer ist dies etwas einseitig.) „Die Regierungen der Schwellenländer und ihre Verbündeten aus der Privatwirtschaft bilden in der Regel eine eng verbundene … Oligarchie, die das Land eher wie ein gewinnorientiertes Unternehmen führt, in dem sie die Mehrheitsaktionäre sind. Wenn ein Land wie Indonesien, Südkorea oder Russland wächst, wachsen auch die Ambitionen seiner Industriekapitäne. Als Herrscher über ihr Mini-Universum machen diese Leute einige Investitionen, die klar der Gesamtwirtschaft nutzen, aber sie beginnen auch, größere und riskantere Wetten zu machen. Sie rechnen damit – in den meisten Fällen zu Recht –, dass ihre politischen Verbindungen es ihnen ermöglichen, alle wesentlichen Probleme, die auftreten, auf die Regierung abzuwälzen.“

Aber die Oligarch*innen „lassen sich mitreißen: Sie verschwenden Geld und bauen massige Geschäftsimperien auf einem Berg von Schulden auf“. Mit dem Beginn der Krise gibt es eine Abwärtsspirale aus Konzernbankrotten und zusammenbrechenden Banken. „Die ‚öffentlich-privaten Partnerschaften‘ von gestern werden nun als ‚Günstlingskapitalismus‘ bezeichnet.“ Die Regierungen finden verschiedene Wege, um ihre Freunde aus den Großunternehmen zu retten. „Inzwischen wenden sich die meisten Regierungen der Schwellenländer, da sie irgendjemanden auspressen müssen, zunächst an die einfachen arbeitenden Leute – zumindest, bis die Unruhen zu groß werden.“

Johnson findet eine starke Ähnlichkeit mit der Krise in den USA: „In ihrer Tiefe und Plötzlichkeit erinnert die Wirtschafts- und Finanzkrise in den USA erschreckend an Momente, die wir kürzlich in Schwellenländern (und nur in Schwellenländern) gesehen haben: Südkorea (1997), Malaysia (1998), Russland und Argentinien (immer wieder). In jedem dieser Fälle stellten globale Investor*innen aus Angst, dass das Land oder sein Finanzsektor nicht in der Lage sein würden, ihre bergeshohen Schulden zu begleichen, plötzlich ihre Kreditvergabe ein. Und in jedem Fall wurde diese Angst zur selbsterfüllenden Prophezeiung, da Banken, die ihre Schulden nicht refinanzieren konnten, tatsächlich zahlungsunfähig wurden. Das ist genau das, was Lehman Brothers am 15. September in die Insolvenz trieb und dazu führte, dass alle Finanzierungsquellen für den US-Finanzsektor über Nacht austrockneten. Genau wie bei Krisen in Schwellenländern hat die Schwäche des Bankensystems schnell ihre Kreise in den Rest der Wirtschaft gezogen und zu einer schweren wirtschaftlichen Kontraktion und Not für Millionen von Menschen geführt.“

Ohne den präzisen, passenden Begriff zu verwenden, weist Johnson auf die Rolle des US-Finanzkapitals hin, das zur dominierenden Fraktion der US-Kapitalist*innenklasse wurde. „Es gibt jedoch eine tiefere und beunruhigendere Ähnlichkeit [mit der Entwicklung in neokolonialen Ländern]: Die Interessen der Wirtschaftselite – im Falle der USA der Finanziers – spielten eine zentrale Rolle bei der Schaffung der Krise, indem sie mit stillschweigender Unterstützung der Regierung immer mehr zockten, bis zum unvermeidlichen Zusammenbruch. Noch alarmierender ist, dass sie nun ihren Einfluss nutzen, um genau die Reformen zu verhindern, die dringend notwendig sind, um die Wirtschaft aus ihrem Sturzflug zu befreien. Die Regierung scheint hilflos oder nicht willens, gegen sie vorzugehen.“

Hypnotisiert von der Wall Street

Die Schuld wurde einer Palette von Personen und politischen Maßnahmen zugeschrieben. Gierigen Banker*innen und unverantwortlichen Regierungsbeamt*innen (die die Zinssätze senkten und die Geldmenge lockerten). Finanzier*innen schlugen Finanzinstrumente vor, die sie nicht verstanden. Die Aufsichtsbehörden verschlossen die Augen vor dubiosen Praktiken. Die Zwillingsdefizite – das Defizit der Bundesregierung und das US-Handelsdefizit – ermöglichten es den Konsumausgaben und der Immobilienblase auf der Grundlage immer höherer Schulden zu wachsen. China lieferte billige Waren und stellte marktstützende Kredite zur Verfügung. All diese Entwicklungen kamen dem Finanzsektor zugute, und alle Versuche, potenziell riskante Aktivitäten einzuschränken, wurden beiseite geschoben.

Ab den frühen 1980er Jahren boomte der Finanzsektor und wurde zunehmend mächtig. Die Geldpolitik Paul Volckers, des Vorsitzenden der Federal Reserve, die hohe Zinsen und eine verringerte Inflation unterstütze, begünstigte Geldverleiher*innen und diejenigen, die mit Finanzanlagen handelten. Der republikanische Präsident Ronald Reagan leitete eine Phase der Deregulierung ein, die unter Bill Clinton (Demokrat) und George W. Bush (Republikaner) fortgesetzt wurde. Es war ein beispielloser Boom des Geldhandels außerhalb des bisherigen Rahmens der Geschäftsbanken durch Verbriefungen, mit der Wucherung einer Vielzahl exotischer Derivate.

Das Wachstum von Pensionsfonds und individuellen Sparplänen erweiterte ebenfalls die Möglichkeiten des Profitmachens von Investmentbanken, Hedgefonds usw. Die beschleunigte Globalisierung der Finanzmärkte erweiterte den Spielraum für Spekulationstätigkeit enorm und lenkte sagenhafte Profite in die Kassen von Geldhändler*innen (einschließlich der speziellen Handelsabteilungen der Geschäftsbanken).

„Es überrascht nicht, dass die Wall Street diese Chancen nutzte. Von 1973 bis 1985 erzielte der Finanzsektor nie mehr als 16% der inländischen Unternehmensprofite. Im Jahr 1986 erreichte dieser Anteil 19%. In den 1990er Jahren schwankte er zwischen 21% und 30% und lag damit höher als jemals zuvor in der Nachkriegsperiode. In diesem Jahrzehnt erreichte er 41%. Die Bezahlung wuchs ebenso dramatisch. Von 1948 bis 1982 lag die durchschnittliche Vergütung im Finanzsektor zwischen 99% und 108% des Durchschnitts aller inländischen Privatunternehmen. Ab 1983 stieg sie sprunghaft an und erreichte 2007 181%.

Finanzkapitalist*innen haben in den letzten Jahren massiven Reichtum in ihren Händen konzentriert und dadurch enorme politische Macht ausgeübt. Johnson verweist auf das vom Finanzsektor erworbene „kulturelle Kapital”, „ein Glaubenssystem”: „Früher galt vielleicht, dass das, was gut für General Motors sei, auch gut für das Land sei. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Einstellung durchgesetzt, dass das, was gut für die Wall Street sei, auch gut für das Land sei”. Mit anderen Worten: Die Ideologie des ultrafreien Marktes war eine mächtige Kraft bei der Gestaltung günstiger Bedingungen für das Finanzkapital: „Der Glaube an freie Finanzmärkte entwickelte sich zur gängigen Meinung – propagiert auf den Leitartikelseiten des ,Wall Street Journal‘ und im Kongress”.

Wall-Street-Firmen gehörten zu den größten Spender*innen für politische Kampagnen, sowohl der Republikaner*innen als auch der Demokrat*innen. Führende Vertreter*innen wechselten zwischen der Wall Street und Washington, darunter James Rubin (Clintons Finanzminister), Alan Greenspan (von der Wall Street zur Fed und wieder zurück) und jetzt Tim Geithner, Barack Obamas Finanzminister. Politiker*innen, Journalist*innen und Akademiker*innen (sagt Johnson) waren „von der Wall Street hypnotisiert und stets und fest davon überzeugt, dass was auch immer die Banken sagten, wahr sei”.

Systemischer Fehler

Aber damit ist es nun vorbei. Der Beginn des Platzens der Subprime-Immobilienblase im Jahr 2007 löste einen weltweiten Krampfanfall des Bankensystems aus. Die darauf folgende Kreditklemme erzeugte einen wirtschaftlichen Abschwung. Dies wiederum verschärfte die Finanzkrise. Die Illusion von grenzenlosen, risikofreien Profiten wurde völlig zerbrochen. Die Erholung, wenn sie kommt, wird wahrscheinlich langwierig und schmerzhaft sein, besonders für Arbeiter*innen, die wie immer die Hauptlast der Krise tragen werden.

Laut Brooks ist Johnsons Analyse nur eine weitere „Gier-Erzählung“. Investmentbanker*innen, die immer größere Profite anstrebten, wurden immer mächtiger, „die US-Wirtschaft wurde finanzlastig und finanzverrückt und brach schließlich zusammen”. Dies zeigt nur, wie oberflächlich dieser Kolumnist ist. Johnsons „The Quiet Coup” beschreibt zutreffend einen strukturellen Wandel im US-Kapitalismus – der sich auch in Großbritannien und anderen dem „angelsächsischen Modell” folgenden Wirtschaften vollzog – mit dem Aufstieg des Finanzkapitals zum dominierenden Teil der Kapitalist*innenklasse.

Doch Johnsons Analyse hat auch ihre Grenzen. Nirgendwo erklärt er die zugrunde liegenden Gründe für den Aufstieg der Finanzoligarchie. Das bedeutet, dass er letztlich die Ursachen der aktuellen finanziell-wirtschaftlichen Krise nicht analysiert, sondern einfach dem Aufstieg der Oligarchie die Schuld gibt. Wie jeder andere strukturelle Wandel im Kapitalismus ist auch dieser letztlich in den zugrunde liegenden Produktionsverhältnissen, in den inneren Prozessen der kapitalistischen Wirtschaft verwurzelt.

Das Hinschwenken zu Finanzinvestitionen und Spekulationen in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten entsteht aus einer Krise der Überakkumulation von Kapital. Während des Nachkriegsaufschwungs (1950-1973) genoss der Kapitalismus sehr günstige Bedingungen, besonders in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Historisch hohe Investitionsniveaus und Produktivitätswachstum unterstützten sowohl relativ hohe Lohnniveaus (das die Verbraucher*innennachfrage aufrechterhielt) als auch einen Anstieg der Profitabilität (der neue Investitionen förderte). Das Wachstum der Staatsausgaben stützte auch die Investitionen und die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Diese Periode wird heute als das „goldene Zeitalter” des Kapitalismus bezeichnet.

Die günstigen Verhältnisse dieser Zeit wurden jedoch durch die inneren Widersprüche des Kapitalismus untergraben. Besonders brachten neue Investitionen in Produktionsmittel (Anlagen, Maschinen usw.) nicht länger das von den Kapitalist*innen geforderte Profitniveau. „Zwischen 1968 und 1973 sank die Profitrate für die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder insgesamt im Geschäfts- und Fertigungssektor um ein Fünftel”. (Andrew Glyn: Capitalism since 1945 [1991], S. 182) In den USA beispielsweise fiel die Profitrate in der verarbeitenden Industrie von ihrem bisherigen Höchststand von 36,4% auf 22% im Jahr 1973. Bezeichnenderweise war das Ende des Aufschwungs, das durch den Ölpreisschock von 1973 gekennzeichnet war, von einer Explosion der Spekulation geprägt, besonders mit Rohstoffen und Gewerbeimmobilien. Auf der Suche nach höheren Profiten wandten sich die Kapitalist*innen zunehmend Finanzinvestitionen zu, die zunehmend spekulativ wurden. Die „Revolution” Thatchers und Reagans – Deregulierung, Privatisierung, Steueränderungen für die Superreichen und eine Offensive gegen die Rechte der Arbeiter*innen – wurde unter dem Druck des zugrunde liegenden wirtschaftlichen Wandels durchgeführt und erweiterte natürlich den Spielraum für spekulatives Kapital enorm.

Das Wachstum der investierbaren Mittel (aus Unternehmensprofiten, Pensionsfonds, Investmentbanken usw.) wuchs kontinuierlich, überstieg jedoch bei weitem die Möglichkeiten für rentable Investitionen in neue Produktionskapazitäten. In kapitalistischen Begriffen gab es ein „Überangebot” an Kapital. Nicht dass Millionen von Menschen keine lebensnotwendigen Güter und Dienstleistungen benötigt hätten, aber aufgrund des begrenzten Einkommens der Arbeiter*innenklasse gab es keine ausreichende geldgestützte Nachfrage. Überkapazität entwickelte sich in den meisten wichtigen Industriezweigen, warum also sollten Kapitalist*innen in neue Produktionsmittel investieren?

In den großen kapitalistischen Wirtschaften war die Wachstumsrate des Anlagevermögens (ein Maß für die Kapitalakkumulation) in den 1990er und 2000er Jahren nur noch die Hälfte derjenigen der 1960er Jahre. In den USA fiel das Wachstum von 4% pro Jahr in den 1960er Jahren auf 3% in den 1990er Jahren und 2% in den 2000er Jahren: „Das Wachstum des Kapitalstocks begann Anfang der 1990er Jahre von einem außergewöhnlich niedrigen Niveau aus. Die positivste Schlussfolgerung aus [den Daten] wäre, dass der Investitionsboom der späten 1990er Jahre den scheinbar unaufhaltsamen Abwärtstrend der Wachstumsrate des Kapitalstocks, der Ende der 1960er Jahre begonnen hatte, gestoppt hat. Als der Boom im Jahr 2000 zu Ende ging, brach das Wachstum des Kapitalstocks obendrein stärker ein als je zuvor.“ (Andrew Glyn: Capitalism Unleashed [2006], S. 86, 134 [QM 000 59/16533])

Vielleicht überraschenderweise wurde diese Analyse 2007 von einem Ökonomen von Morgan Stanley bestätigt, dessen Rolle es ist, Investor*innen im Finanzsektor zu beraten. Stephen Jen lehnte die „herkömmliche Weisheit” ab, dass die Flut billiger Kredite lediglich das Ergebnis einer „unverantwortlich lockeren Geldpolitik der Zentralbanken” sei, und schrieb: „Ich glaube, dass die wichtigere Quelle der globalen Liquidität die (merkwürdigerweise) niedrigen Capex/Kapitalstockvolumen in der Welt sind.” (Capex ist die Abkürzung für „capital expenditure” [Kapitalausgaben], also Investitionsausgaben.) Trotz niedriger Zinsen und einem Überfluss an Kredit „gab es seitens des Konzernsektors weltweit eine merkwürdige Zurückhaltung bei Investitionen in Sachanlagen, d.h. die Capex waren überraschend niedrig …” Jens Erklärung betont die „große Unsicherheit hinsichtlich der Aussichten für die Weltwirtschaft, die Unternehmen möglicherweise dazu gezwungen hat, ihre Capexpläne zurückzuhalten … Multinationale Konzerne haben möglicherweise aufgrund der Unsicherheiten in Bezug auf die Politik und die Wirtschaftspolitik ein gewisses Risiko mit der Erweiterung ihrer Kapazitäten in Schwellenländern verbunden”. (Low Investment is the Main Source of Global Liquidity [Niedrige Investitionen sind die Hauptquelle von globaler Liquidität], Morgan Stanley Global Economic Forum, 23. Februar 2007)

Wie Karl Marx zeigte, spielt Kredit eine wesentliche Rolle im kapitalistischen Produktionsprozess. Aber in den letzten 30 Jahren wurde das Finanzkapital zunehmend parasitär. Wie Johnsons Zahlen zeigen, verschlang der Finanzsektor einen immer größeren Anteil der Gesamtprofite. Der Druck des Finanzsektors auf kurzfristige Profite hob auch die Profitabilität vieler Produktions- und Dienstleistungsbranchen, vor allem durch Personalabbau und verstärkte Ausbeutung der Arbeiter*innen. Aber die größten Profite für den Finanzsektor kamen jedoch aus dem Umrühren der riesigen Geldmengen, die in der Weltwirtschaft zirkulieren.

Manche stammten, wie wir gesehen haben, aus den „Mehr“profiten großer Konzerne, die keinen Anreiz hatten, in neue Produktionskapazitäten zu reinvestieren. Aber die größten Profite kamen aus dem Handel mit Finanzanlagen, die ultragünstige Kredite aus Wirtschaften mit großen Überschüssen wie Japan, China und den Ölproduzent*innen nutzten. Ein Großteil der Superprofite kam nicht aus der Schaffung neuen Reichtums, sondern aus der Umverteilung von Ersparnissen und Profiten von kleinen und mittleren Sparer*innen und Investor*innen an die superreichen Elite-Finanzier*innen, die die großen Hedgefonds, Investmentbanken und privaten Beteiligungskapitalfirmen leiten.

Eine anhaltende Krise

Diese stellen, in Johnsons Sprache, die Finanzoligarchie dar. Ihre führenden Vertreter*innen wurden bis zum Zusammenbruch als „Herren des Universums” gesehen. Aber in Wirklichkeit sind sie die Alchemisten der kapitalistischen Sackgasse, die durch spekulative Geschäfte Kapitalgewinne herbei taschenspielern. Die Dominanz des Finanzkapitals entsteht aus der Unfähigkeit des Kapitalismus in dieser Phase, die Produktivkräfte auf eine Art und Weise mit breiter Basis zu entwickeln. In einigen Sektoren, in denen es neue Technologien gibt, und in einigen Ländern wie China (wo das Wachstum immer noch sehr ungleichmäßig ist) gab es einen Investitionsschub. Aber im Weltmaßstab stieß die Kapitalakkumulation, die eigentlich der dynamische Motor des kapitalistischen Wachstums sein sollte, auf die Barriere des Privateigentums, das profitable Erträge als Voraussetzung für neue Investitionen verlangt.

Johnson argumentiert, dass alle toxischen Vermögenswerte zu ihrem tatsächlichen Marktwert (weit niedriger als ihre aktuelle Bewertung) abgeschrieben werden sollten. Banken mit unzureichendem Kapital sollten verstaatlicht, zerschlagen und schließlich an private Eigentümer*innen zurück verkauft werden. Er glaubt jedoch klar nicht, dass dies geschehen werde. Die US-Regierung hat mehrere große Banken und Finanzinstitute praktisch teilweise verstaatlicht, aber sie hat nicht die Kontrolle übernommen. Wie die Bush-Regierung versucht auch die Obama-Regierung, sich mit einer Reihe von Einzelvereinbarungen mit den Banken durchzuwursteln und verteilt staatliche Subventionen, die für die Öffentlichkeit zu komplex sind, um sie zu verstehen. „Während der gesamten Krise“, schreibt Johnson, „hat die Regierung äußerste Sorgfalt darauf verwendet, die Interessen der Finanzinstitute nicht zu verletzen und die Grundzüge des Systems, das uns hierher gebracht hat, nicht in Frage zu stellen“.

Es gibt es nun zwei Szenarien, sagt Johnson. Mit staatlichen Rettungsmaßnahmen könnten die USA und andere große kapitalistische Wirtschaften sich durchwursteln. Alternativ könnte es zu einer vertieften Weltfinanz- und Wirtschaftskrise kommen. Es wäre falsch (sagt er), sich auf den tröstlichen Gedanken zu verlassen, dass „es nicht so schlimm sein kann wie die Großen Depression“ der 1930er Jahre: „Was uns jetzt bevorsteht, könnte in der Tat schlimmer sein als die Große Depression – weil die Welt jetzt so viel mehr vernetzt ist und weil der Bankensektor jetzt so groß ist. Wir stehen einem synchronisierten Abschwung in fast allen Ländern gegenüber, einer Schwächung des Vertrauens bei Individuen und Firmen und großen Problemen für die Staatsfinanzen.“ Welches Szenario auch immer eintritt, wird die kapitalistische herrschende Klasse alles tun, was sie kann, um die Auswirkungen dieser tiefen Wirtschaftskrise auf die Schultern der Arbeiter*innenklasse und der Armen der Welt abzuwälzen.


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