[eigene Übersetzung aus Militant Nr. 981, 23. Februar 1990, S. 8-9)
Die Ereignisse in Ostdeutschland (der DDR) haben sich mit Lichtgeschwindigkeit entwickelt. Bis vor ein paar Wochen schien Wiedervereinigung eine entfernte Möglichkeit zu sein. Jetzt scheint sie innerhalb weniger Monate durchaus möglich.
Im letzten Jahr wurde das stalinistische Regime Honeckers durch eine großartige Bewegung der Arbeiter*innenklasse und der Jugend von der Macht gefegt. Nur eine kleine Minderheit derjenigen auf der Straße forderte Vereinigung. Die Wut der Arbeiter*innen war gegen das Missmanagement und die Korruption der Bürokratie und die repressive Rolle der Geheimpolizei, der Stasi, gerichtet. Die wichtigsten Forderungen waren nach Demokratisierung und Reisefreiheit.
Es schien breite Unterstützung für die im Rahmen der Planwirtschaft erzielten Errungenschaften zu geben. Die Arbeiter*innen erkannten auch, dass der Faschismus und der Zweite Weltkrieg aus der Krise des deutschen Kapitalismus entstanden waren, die letztlich die Verantwortung für die Teilung Deutschlands trägt.
Seitdem ist der ostdeutsche Stalinismus zusammengebrochen, ohne die Mauer konnte sich das Regime nicht halten. Die regierende Kommunistische Partei, die SED, hat über die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Die Wirtschaft ist im Chaos, Scharen von jungen Arbeiter*innen und Spezialist*innen wandern in den Westen ab. Die Industrieproduktion fiel im vergangenen Jahr um fünf Prozent.
In Ermangelung einer klaren Alternative haben Zehntausende das Vertrauen in das System verloren und mit den Füßen abgestimmt. Seit Anfang Januar haben 84.000 Menschen das Land verlassen.
Hätte es im Osten eine echte marxistische Partei gegeben, die in der Lage gewesen wäre, die Arbeiter*innen mit einem Programm für den Sturz der Bürokratie und die Errichtung einer Arbeiter*innendemokratie zu bewaffnen, hätte die politische Revolution leicht durchgeführt werden können. Die Errichtung eines gesunden Arbeiter*innenstaates in Ostdeutschland hätte eine magnetische Wirkung auf die Arbeiter*innen Osteuropas und Westeuropas, einschließlich Westdeutschlands (der BRD), gehabt.
In Ermangelung einer solchen Alternative sind die Arbeiter*innen von Frustration und Verwirrung übermannt worden – sie suchen verzweifelt nach einem Ausweg aus der sich ständig verschlechternden Lage. Seit dem Fall der Mauer haben etwa 80 Prozent der Ostdeutschen den Westen besucht – sie haben die Waren in den Geschäften und den derzeitigen Wohlstand der Westdeutschen gesehen.
Vereinigung scheint nun der kürzeste und für viele der einzige Weg zu einem höheren Lebensstandard zu sein. Eine Frau kommentierte: „Entweder kommt die D-Mark zu uns oder wir gehen zur D-Mark!“
Kohl und andere westdeutsche kapitalistische Anführer*innen gingen langsam, „Schritt für Schritt“ zur Währungsunion und schließlich zu einem wiedervereinigten deutschen Staat. Die Verschmelzung der beiden Staaten wirft komplexe Probleme in Bezug auf die Wirtschaft und die internationalen Beziehungen zwischen der UdSSR, den USA und den europäischen Staaten auf, auf die die Kapitalisten noch lange nicht alle Antworten haben.
Unter dem Eindruck des Zerfalls der DDR und aufgrund der dem deutschen Kapitalismus zugrunde liegenden räuberischen Ambitionen kündigte Kohl jedoch plötzlich Pläne für eine schnelle Währungsunion an – offensichtlich als Sprungbrett zur Wiedervereinigung. „Die Geschichte wurde“, kommentierte die „Financial Times“ „nicht durch den brennenden Wunsch nach Einheit auf beiden Seiten Deutschlands ineinandergeschoben, sondern durch die Unmöglichkeit, die DDR als separate Wirtschaft aufrechtzuerhalten, sobald die Freizügigkeit zwischen ihr und der Bundesrepublik zugestanden wurde.“
Kohl kündigte an, dass die Währungsunion sehr schnell durchgesetzt werden solle, möglicherweise innerhalb eines Monats nach den ostdeutschen Wahlen am 18. März. Dies überrascht offenbar selbst einige seiner Minister und stößt auf den Widerstand des Chefs der Bundesbank, der Zentralbank der BRD.
Die Währungsunion bedeutet die Ablösung der Ost-Mark durch die D-Mark, was unweigerlich einen beherrschenden Einfluss der Bundesbank, der Großbanken und westdeutschen Monopole bedeuten würde. Sie würden auf „marktorientierte Reformen“ drängen – mit anderen Worten: auf die Restauration des Kapitalismus. Wie lange würde der jetzige Staat mit der raschen Einführung kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen überleben? Nun, es scheint durchaus möglich, dass sich der ostdeutsche Staat, wenn die Währungsunion so durchgeführt wird, wie Kohl es sich vorstellt, vollständig auflöst und im westdeutschen Staat aufgeht.
Marxist*innen stehen für die sozialistische Wiedervereinigung Deutschlands ein. Aber das würde eine politischen Revolution im Osten zum Sturz der Bürokratie und zur Errichtung einer Arbeiter*innendemokratie und eine soziale Revolution im Westen zur Abschaffung des Kapitalismus und zur Errichtung einer sozialistischen Form der Demokratie bedeuten.
Vereinigung wäre dann ein immenser Schritt nach vorn. Was im Moment geschieht, ist jedoch etwas völlig anderes. Marxist*innen verteidigen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das ein demokratisches Recht ist. Aber die Vereinigung nimmt jetzt die Form einer Konterrevolution an, die von vielen ostdeutschen Arbeiter*innen im Moment begrüßt wird – die sie aber noch bereuen werden, wenn sie die vollen Konsequenzen der kapitalistischen Herrschaft zu spüren bekommen.
Die verstaatlichte Planwirtschaft wird von den westdeutschen Kapitalist*innen rasch demontiert werden, und die ostdeutschen Arbeiter*innen werden die rücksichtslose Ausbeutung durch die großen Monopole erleben – die arrogant für den Verlust der Ostzone nach der Niederlage der Nazis 1945 Rache nehmen werden.
Kohls Ziel ist es klar, die wirtschaftlichen Veränderungen sehr, sehr schnell durchzusetzen, bevor die ostdeutsche Arbeiter*innenklasse Zeit hat, die Folgen der kapitalistischen Konterrevolution zu begreifen.
Ironischerweise könnte die DDR, der Staat, der am wenigsten von der Konterrevolution bedroht zu sein schien, jetzt leichter zum Kapitalismus übergehen als Polen, wo die Niederlage der Massenbewegung der Solidarność von 1980-81 den Weg für die jüngste prokapitalistische Politik der Mazowiecki-Regierung ebnete.
Anders als Polen ist Ostdeutschland Teil einer geteilten Nation. Die Ostdeutschen teilen mit den Westdeutschen eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte. Die einzige Rechtfertigung für die Existenz der DDR war ein eigenes Gesellschaftssystem, das auf einem Produktionsplan beruhte. Der Zerfall des Staates aufgrund der allgemeinen Krise des Stalinismus und des Bankrotts des ostdeutschen Regimes hat jedoch die Tür zur Restauration des Kapitalismus geöffnet.
* * *
Die kapitalistische Wiedervereinigung ist eine tiefe Niederlage für die stalinistische Bürokratie.
Die bürokratische Herrschaft ist eine groteske Verzerrung des Sozialismus. In der Vergangenheit hat die Bürokratie jedoch zumindest die verstaatlichte Planwirtschaft verteidigt und ausgebaut.
Zwischen 1950 und 1975 hat sich die Industrieproduktion versiebenfacht. Die DDR entwickelt sich zu einer modernen Industrienation, der fortschrittlichsten unter den Oststaaten und auf dem zehnten Platz in der Weltliga der Wirtschaftsmächte. Mit der wirtschaftlichen Vorwärtsentwicklung führte die Bürokratie ein umfassendes Sozial- und Bildungssystem ein.
Seit 1975 hat sich die Wirtschaft jedoch verlangsamt. In dem Maße, in dem die Schwerindustrie und die Fließbandverfahren im Vergleich zu anspruchsvolleren Produktionstechniken an Bedeutung verloren, war die Bürokratie immer weniger in der Lage, die Produktivkräfte zu entwickeln. Ohne eine demokratische Arbeiter*innenverwaltung und -kontrolle ist es nicht möglich, die Initiative und Energie der Arbeiter*innen nutzbar zu machen.
Die Stalinist*innen vergeudeten mehr und mehr die Errungenschaften der geplanten Produktion. Ineffizienz und Missmanagement verursachten enorme Verschwendung. Hinzu kam die obszöne Korruption – Jagdhäuser, Fremdwährungskonten -, die durch den Sturz des Honecker-Regimes ans Licht kam.
Nun hat sich die Autorität der Bürokratie aufgelöst. Auf die Vorhersage, dass die SED [PDS] bei den Wahlen im März nur 12 Prozent erreichen würde, antwortete Parteichef Gysi, dies sei wahrscheinlich eine „Überschätzung“.
In der Vergangenheit wurden die Anhänger*innen Leo Trotzkis von den Stalinist*innen fälschlicherweise beschuldigt, sich zu weigern, die Errungenschaften der Planwirtschaft zu verteidigen. Doch ein Teil der DDR-Bürokratie ist nun bereit, die Wirtschaft dem Westen zu überlassen, wobei sie lediglich Vorbehalte hinsichtlich des Zeitpunkts und der Vorteile für sich selbst haben.
* * *
In Kohls Kalkül spielen nicht zuletzt die BRD-Wahlen im Dezember eine Rolle. Er will sich angesichts der wahrscheinlichen Zugewinnen der westdeutschen SPD als „Einheitskanzler“ präsentieren.
Andererseits ist die Regierung Modrow im Osten nicht in einer Position, mit Kohl zu verhandeln. Die Bundesregierung hatte sich standhaft geweigert, die von Modrow immer wieder geforderte „Solidaritätshilfe“ in Höhe von 15 Milliarden DM (5,35 Milliarden Euro) zu leisten.
Der westdeutsche Finanzminister Waigel fragte verächtlich, wie die Ostdeutschen Hilfe erwarten könnten, sie seien doch nur eine „Übergangsverwaltung ohne Verhandlungsspielraum“.
Dies ist nur ein Vorgeschmack auf die Arroganz, mit der das deutsche Großkapital die Ostdeutschen behandeln wird, sobald sie das Land wirtschaftlich beherrschen.
Kohl und Co. sind sich sicher, dass die SPD im Osten die Wahlen am 18. März gewinnen wird. Ihr Name und die historische Unterstützung für die SPD in den Industriegebieten Ostdeutschlands, bevor die Nazis an die Macht kamen, machen es wahrscheinlich, dass sie als größte Einzelpartei hervorgehen wird.
Sie steht für eine Marktwirtschaft, die die Hoffnung auf einen Lebensstandard bietet, der dem im Westen ähnlicher ist, aber ohne den Verlust von sicheren Arbeitsplätzen, Gesundheitsfürsorge oder garantiertem Wohnraum.
Während die Unterstützung für die SPD fortgesetzte Unterstützung für Sozialismus unter ostdeutschen Arbeiter*innen zeigt, steht die Führung der SPD in Wirklichkeit für die Restauration des Kapitalismus. Sie wird aus dem Westen finanziert und geleitet und erhält eine kontinuierliche Berichterstattung im westdeutschen Fernsehen.
Die Christdemokraten hingegen finden im Osten kein wirkliches Echo, und die Anführer*innen des westdeutschen Kapitalismus sind gezwungen, die SPD als Zugpferd für die kapitalistische Restauration zu benutzen. Die vom Bundesbankpräsidenten (der von Kohl auf Linie gebracht wurde) geäußerten Vorbehalte gegen eine schnelle Wiedervereinigung zeigen, dass es unter den westdeutschen Kapitalist*innen widersprüchliche Ansichten gibt. Es gibt Befürchtungen, dass die Eingliederung des Ostens zu einer schnelleren Inflation führen und den Haushalt der BRD stärker belasten wird, was die westdeutschen und internationalen Zinssätze hoch halten wird.
* * *
Der westdeutsche Kapitalismus ist bereits die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa und wird in der Welt nur von den USA und Japan übertroffen. Als politische Macht ist Westdeutschland jedoch durch die nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegte Regelung in Schach gehalten worden. Westdeutschland war nicht in der Lage, die politische Macht zu erlangen, die seiner grundlegenden wirtschaftlichen Position entsprach.
Die Eingliederung der 17 Millionen Einwohner des Ostens würde dem vereinigten Deutschland eine Bevölkerung von über 77 Millionen geben. Selbst wenn man das niedrigere Produktionsniveau im Osten berücksichtigt, wäre das Pro-Kopf-BSP eines vereinigten Staates immer noch drei Prozent höher als das Frankreichs und 20 Prozent höher als das Großbritanniens. Die großen Monopole in Westdeutschland haben zweifellos ein Auge auf die riesigen Industrieanlagen geworfen, die im Rahmen des ostdeutschen Wirtschaftsplans aufgebaut wurden. Die meisten von ihnen werden zu Schleuderpreisen zu haben sein.
Außerdem wollen sie die billigen Arbeitskräfte ausbeuten. Die ostdeutschen Arbeiter*innen sind im Gegensatz zu den Arbeiter*innen in den Ländern der Dritten Welt gut ausgebildet und qualifiziert.
Das ist ein großer Gewinn für den westdeutschen Kapitalismus. Um künftiger Gewinne willen sind sie bereit, für die Möglichkeit, die Arbeiter*innen im Osten auszubeuten, einen beträchtlichen Preis zu zahlen.
Finanzminister Waigel räumte ein, dass „die Einführung eines umfassenden Sozialversicherungssystems mit Sozialleistungen für Arbeitslose ebenfalls eine Priorität wäre, was wiederum große Transfers von Mitteln aus Westdeutschland bedeuten würde.“
Mit seinen derzeitigen Reserven kann es sich der westdeutsche Kapitalismus leisten, im Osten eine Rückkehr zum Kapitalismus zu finanzieren. Im vergangenen Jahr stieg sein Handelsbilanzüberschuss auf 134,7 Mrd. DM (48 Mrd. £) und übertraf damit sogar Japans Handelsbilanzüberschuss von 45,5 Mrd. £. Westdeutschland hat außerdem ein Nettoauslandsvermögen von 500 Milliarden DM.
Waigel hat bereits einen Nachtragshaushalt vorgelegt, der die Ausgaben um weitere 7 Mrd. DM erhöht. Davon sind 5,7 Mrd. DM für den Osten vorgesehen. Dies erhöht die öffentlichen Ausgaben um sechs Prozent über das Niveau von 1989.
Kurzfristig hat die westdeutsche Regierung erkannt, dass sie Maßnahmen ergreifen muss, um die Massenabwanderung aus dem Osten zu stoppen, da sie sonst das Ziel der Wiedervereinigung zunichte macht. Langfristig sind jedoch dem Umfang, in dem Westdeutschland subventionierte Industrien im Osten stützt oder den bestehenden Wohlfahrtsstaat unterstützt, der unter dem Druck des Westens von der Regierung Modrow bereits ausgehöhlt wurde, enge Grenzen gesetzt.
* * *
Die Berichte über die jüngsten Gespräche Kohls mit Gorbatschow zeigen, dass die Anführer*innen der sowjetischen Bürokratie ihre grundsätzlichen Einwände gegen die deutsche Vereinigung fallengelassen haben.
Dies ist eine verheerende Niederlage für die von der sowjetischen Bürokratie seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgte Politik. Einer der Hauptpunkte, die der stalinistische Hardliner Ligatschow auf dem jüngsten Plenum des Zentralkomitees gegen Gorbatschow vorbrachte, war Gorbatschows Akzeptanz eines vereinigten Deutschlands – nachdem die UdSSR im letzten Krieg mindestens 26 Millionen Menschenleben im Kampf gegen die Nazis geopfert hatte.
In der Öffentlichkeit hat der sowjetische Außenminister Schewardnadse argumentiert, dass die Interessen der Sowjetunion (d.h. der Bürokratie) am besten gewahrt würden, wenn ein vereinigtes Deutschland neutral wäre. Dies ist für die westlichen Verbündeten, die darauf bestehen, dass ein vereinigtes Deutschland in der NATO bleibt, eindeutig inakzeptabel. Dennoch gibt es hinter den Kulissen Anzeichen dafür, dass die Umrisse eines Kompromisses ausgearbeitet worden sind.
Es scheint, dass der Kreml bereit ist, dem Verbleib eines vereinigten Deutschlands in der NATO zuzustimmen, jedoch mit weiterhin in der Ostzone stationierten reduzierten sowjetischen Streitkräften. Solche Streitkräfte würden das strategische Interesse der Bürokratie gewährleisten, einen Puffer zwischen ihrer Südwestflanke und den kapitalistischen Staaten Europas zu bieten.
Ein solches Arrangement kommt zweifellos den Interessen des US-Imperialismus entgegen. Obwohl Bush die Idee der deutschen Wiedervereinigung begrüßt hat, fürchten die USA, dass ein gestärkter deutscher Kapitalismus die Hegemonie in Europa erlangen könnte.
Diese Befürchtungen werden von Thatcher im Namen des britischen Kapitalismus, der ein Klient des US-Imperialismus ist, klar wiederholt.
Paradoxerweise würde die Anwesenheit sowjetischer Truppen in einem vereinigten Deutschland die Macht des deutschen Kapitalismus im Interesse der Hauptkonkurrenten Deutschlands – des US-amerikanisch-britischen Imperialismus – eindämmen.
Jakowlew, ein Gorbatschow-Unterstützer im Politbüro, sagte: „Wir begrüßen die Tatsache, dass unsere Freunde in der DDR sich in Richtung Wiedervereinigung bewegen wollen … aber wenn dies geschehen soll, dann muss die Sicherheit unserer Grenzen fest garantiert sein. Wir sind für ein europäisches Deutschland, nicht für ein deutsches Europa.“
Die USA und Großbritannien sind gleichermaßen zurückhaltend, die Entstehung eines „deutschen Europas“ zu sehen. Genauso wenig wie die Bürokratie wollen sie eine Revision der deutschen Ostgrenzen sehen.
Kohl berücksichtigt dies zweifellos, auch wenn er zögert, dies öffentlich zu sagen, weil er befürchtet, die Unterstützung der ultrarechten, ultranationalistischen Meinung zu verlieren, die dann von seinen Christdemokrat*innen zu den Republikaner*innen wechseln könnte.
* * *
Wenn die Wiedervereinigung vollzogen wird, werden Macht und Einfluss des westdeutschen Kapitalismus potenziell enorm gestärkt. Aber welche Auswirkungen wird dieser neue „Drang nach Osten“ auf die kapitalistische Weltwirtschaft haben?
Kurzfristig könnte es zu großen Investitionen im Osten kommen, die ein zusätzliches Wachstum in der Wirtschaft der BRD und in einigen anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften bewirken könnten.
Doch schon jetzt sind die Zentralbanker und eine Reihe von Ländern der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Niederlande, besorgt über die hohen Zinssätze (die durch zusätzliche Staatsausgaben in der BRD in die Höhe getrieben werden) und die Auswirkungen einer möglichen D-Mark-Inflation auf ihre eigenen Währungen.
Europäische kapitalistische Anführer*innen, die öffentlich die Vereinigungsbemühungen begrüßen, warnen insgeheim, dass sie die Kosten für die Aufnahme des Ostens durch die BRD nicht übernehmen werden. Dies gilt insbesondere für Thatcher.
Westdeutschland hat einen enormen Handelsüberschuss und große Reserven. Wenn diese jedoch hauptsächlich in den Osten gelenkt werden, um den Nährboden für deutsche Gewinne zu erweitern, werden sie nicht für Investitionen in den USA, Südeuropa und anderswo zur Verfügung stehen. Deutschlands Hinwendung zum Osten könnte daher tatsächlich einen Rückschlag für die kapitalistische Weltwirtschaft bedeuten.
Im Moment sind die westdeutschen Kapitalist*innen voller Zuversicht. Der „Kommunismus“ (d.h. der Stalinismus) ist tot. Der Kapitalismus triumphiert. Mit dem Zusammenbruch der DDR waren sie gezwungen einzugreifen, schneller als sie wollten. Sie glauben, dass sie auf lange Sicht im Osten große Gewinne erzielen können, und um künftiger Gewinne willen sind sie bereit, ein gewisses Eintrittsgeld als Preis für den Übergang zu zahlen.
Aber sie gehen ein Risiko ein. Wenn der Übergang abgeschlossen ist, könnten sie durchaus feststellen, dass der derzeitige weltweite Boom sich erschöpft hat. Bei einer Rezession oder einer schweren Wirtschaftskrise in den nächsten ein, zwei oder drei Jahren sähen die Aussichten für die deutschen Kapitalist*innen ganz anders aus. In einer Krise könnten sie durchaus bedauern, dass sie sich gefährlich übernommen haben.
Arbeiter*innen in Ostdeutschland sehen den Westen als die automatische Quelle eines höheren Lebensstandards. Sie werden bald herausfinden, dass im kapitalistischen Garten nicht alles so schön ist. Sie werden eine intensive Ausbeutung erleben – Arbeitslosigkeit für viele – und Kürzungen im „Soziallohn“. Die heutigen Illusionen werden einer bitteren Enttäuschung weichen, und sie werden in den Kampf gegen ihre neuen kapitalistischen Bosse ziehen.
Die Eingliederung der ostdeutschen Arbeiter*innenklasse wird darüber hinaus eine radikalisierende Wirkung auf die westdeutschen Arbeiter*innen haben. Das Bekenntnis zu den echten Ideen des Sozialismus unter einer großen Zahl ostdeutscher Arbeiter*innen und ihr erneuter Zusammenstoß mit dem westdeutschen Kapitalismus werden später dazu beitragen, den relativen sozialen Frieden und die politische Stabilität der BRD zu erschüttern.
Die herrschende Klasse Westdeutschlands glaubt zweifelsohne, dass sie im Begriff ist, einen großen Fortschritt zu machen. Aber sie baut brisantes neues Material für eine künftige Krise in ihr Fundament ein. Die Expansion des deutschen Kapitalismus wird zu neuen wirtschaftlichen Widersprüchen zwischen den wichtigsten kapitalistischen Volkswirtschaften führen. Sie wird auch die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten und den wichtigsten europäischen Staaten verkomplizieren.
Der Zusammenbruch einer verstaatlichten Planwirtschaft, auch wenn sie von einer Bürokratie fehlgesteuert wurde, ist ein historischer Rückschlag für die Arbeiter*innenklasse. Die Bürokratie hat auch der Konterrevolution in Polen, Ungarn und möglicherweise anderen osteuropäischen Staaten die Tür geöffnet.
Aber die Arbeiter*innenklasse in Osteuropa hat gerade erst begonnen, sich zu bewegen, und das Proletariat der Sowjetunion muss noch ein entscheidendes Wort mitreden. Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass wir am Beginn einer neuen Periode von politischem Sturm und Drang stehen. Trotz der Komplikationen und Rückschläge ist die Perspektive eine weitere Entfaltung der politischen Revolution in den stalinistischen Staaten, die Hand in Hand mit der Entwicklung der sozialen Revolution in der kapitalistischen Welt marschieren wird.
Kasten: Währungsunion – eine Mark für zwei
Die Währungsunion wurde immer als eine wesentliche Voraussetzung für kapitalistische Investitionen im Osten angesehen. Ohne die Stabilität einer gemeinsamen Währung und die Kontrolle der Inflation durch die Bundesbank hätten die Kapitalist*innen nicht die notwendige Sicherheit für ihre Investitionen oder die Möglichkeit, ihre Gewinne zu repatriieren.
Der westdeutsche Kapitalismus steht jedoch vor einer Reihe von ungelösten Problemen. Eine entscheidende Frage ist, zu welchem Kurs die D-Mark die Ost-Mark ablösen soll. Die Kapitalist*innen können ein Verhältnis von eins zu eins nicht akzeptieren. Die Produktivität in der DDR ist weniger als die Hälfte des westdeutschen Niveaus. Der Umtausch der Ost-Mark in D-Mark im Umlauf und auf Sparkonten zu einem Kurs von eins zu eins hätte eine enorm inflationäre Wirkung.
Samuel Brittan schreibt in der „Financial Times“ über die Auswirkungen des Währungsumtauschs auf die „Schlüsselvariable … die Höhe der Reallöhne, die den ostdeutschen Arbeitern gezahlt werden“.
„Wenn sie zu hoch sind – zu nahe am westdeutschen Niveau – werden sie aus dem Arbeitsmarkt gedrängt, und Massenarbeitslosigkeit wird die Folge sein. Die Reallöhne müssen niedriger bleiben als im Westen, wenn die Region für Investoren attraktiv bleiben soll.“
Selbst wenn das Umtauschverhältnis für die Gesamtwirtschaft richtig ist, so Brittan, „werden viele ostdeutsche Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen schließen müssen.“
Die westdeutschen Kapitalist*innen wollen die billigen Arbeitskräfte im Osten ausbeuten. Dabei stehen sie jedoch vor einem Problem. „Wenn die Reallöhne zu niedrig sind“, sagt Brittan, „haben die beiden deutschen Regierungen ihr wichtigstes Ziel verfehlt: die Abwanderung in den Westen zu stoppen…“
Es scheint wahrscheinlich, dass das Umtauschverhältnis in der Größenordnung von eins zu drei oder fünf liegen wird.
Ein weiteres Problem, das Kohls Berater*innen beschäftigt, ist die Frage, was mit den Sparkonten im Osten geschehen soll. Wegen des Mangels an Waren, für die die Arbeiter*innen in der DDR ihr Geld ausgeben können, haben sich große persönliche Guthaben angesammelt. Eine sofortige Umstellung auf D-Mark hätte einen zusätzlichen inflationären Effekt.
Den Kontoinhaber*innen wird wahrscheinlich eine Art von D-Mark-Anleihen angeboten, die über einen bestimmten Zeitraum zurückgezahlt werden. Die Befürchtung, dass die Ersparnisse mit der Einführung der Einheitswährung entwertet würden, hat jedoch bereits dazu geführt, mehr Arbeiter*innen zu ermutigen, in den Westen abzuwandern.
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