Lynn Walsh: „In Wirklichkeit steht Großbritannien vor einer grausamen wirtschaftlichen Eiszeit“

[Eigene Übersetzung des englischen Textes in The Socialist Nr. 656, 2. Februar 2011]

„Schlimm“, „schrecklich“, „schockierend schlecht“, „entsetzlich… eine absolute Katastrophe für die Wirtschaft“! Dies waren einige der Ausdrücke, die von City- und der Medienanalyst*innen verwendet wurden, um die Wirtschaftszahlen für die letzten drei Monate des Jahres 2010 zu beschreiben (veröffentlicht am 25. Januar). Führende Regierungsvertreter*innen, Cameron, Osborne & Co. geben dem arktischen Sturm im Dezember die Schuld für den starken Rückgang der Wirtschaftsleistung. Aber in Wirklichkeit steht Großbritannien vor einer grausamen wirtschaftlichen Eiszeit.

Lynn Walsh, Exekutivkomitee der Socialist Party

Das Eintauchen im vierten Quartal (ein Rückgang des BIP – Bruttoinlandsprodukts – um 0,5%) spiegelt die Zerbrechlichkeit der „Erholung“ des britischen Kapitalismus von einer tiefen Rezession wider. Es kommt sogar, bevor die drastischen Ausgabenkürzungen (81 Mrd. Pfund) und Steuererhöhungen (33 Mrd. Pfund) der Konservativ-Liberaldemokratischen Regierung zu greifen beginnen.

Unter Expert*innen und in der breiteren Öffentlichkeit gibt es wachsende Angst vor einem weiteren Abschwung, einer gefürchteten W-förmigen Rezession [„Double Dip“]. Selbst die Freund*innen der Regierung fordern Kanzler George Osborne auf, mit einen „Plan B“ aufzuwarten.

Ende letzten Jahres behauptete David Cameron, Großbritannien sei „aus der Gefahrenzone“ heraus. Dennoch gibt es schlechte Nachrichten für praktisch jeden Wirtschaftszweig.

Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die Löhne hinken dem rasanten Preisanstieg hinterher. Die Haushaltsausgaben (die zwei Drittel des BIP ausmachen) sind immer noch rückläufig. Die Neuvergabe von Hypothekenkrediten ist auf ein Zehnjahrestief gesunken, und es wird erwartet, dass die Hauspreise in diesem Jahr um weitere 10% fallen.

All diese Trends untergraben die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und zertrümmern die Aussichten auf ein nachhaltiges Wachstum.

Was passierte mit dem letztjährigen „Aufschwung“? Insgesamt war das Wachstum 2010 bei mageren 1,4%. Der schwächliche Wachstumsspurt zur Jahresmitte beruhte zum Teil auf dem vorübergehenden Effekt des „Lagerbestandsaufbaus“, als die Unternehmen ihre Vorräte und Waren auffüllten. Selbst nach vier aufeinanderfolgenden Wachstumsquartalen hat die Wirtschaft nur etwa ein Drittel der während der Rezession verlorenen Produktion (6,4%) wettgemacht.

Konservativ-Liberaldemokratische Minister*innen geben dem Wetter für den Wirtschaftseinbruch im vierten Quartal die Schuld. Aber das Amt für nationale Statistiken (ONS) sagt, dass die Wirtschaft auch ohne den Kälteeinbruch im Dezember stagniert hätte.

Die Bauwirtschaft brach um 3,3% ein. Dies lag zum Teil am schlechten Wetter, aber auch daran, dass die von der Regierung finanzierten Konjunkturprojekte abgeschlossen wurden. Zweifellos hielt schlechtes Wetter Menschen im Dezember vom Einkaufen ab. Aber die Ausgaben der privaten Haushalte lagen bereits bei der Hälfte des historischen Trends. Der kalte Wind massiver Arbeitsplatzverluste und drastischer Steuererhöhungen – unmissverständlich vorhergesagt – erschüttert das Vertrauen der Verbraucher*innen.

Die Arbeitslosigkeit beginnt zu steigen, noch bevor die meisten der Kürzungen der Konservativ-Liberaldemokratischen Regierung wirksam werden. Zahlen für die drei Monate bis Ende November zeigen einen Anstieg um 49.000 auf eine Summe von 2,5 Millionen. Mehr als ein Fünftel der jungen Menschen ist arbeitslos (fast eine Million). Etwas mehr als eine Million Frauen haben ihren Arbeitsplatz verloren, hauptsächlich im öffentlichen Sektor.

Die Gesamtzahl der Arbeitslosen wäre viel höher ohne die (auf einen Rekordwert von 1,16 Millionen) gestiegene Zahl von Teilzeitbeschäftigten und die befristeten Stellen.

Doch das schlimmste Arbeitsplatzmassaker kommt erst noch. Das sogenannte Office for Budget Responsibility (Büro für Haushaltsverantwortung) sagt für die nächsten fünf Jahre den Verlust von 490.000 Stellen im öffentlichen Sektor (von insgesamt sechs Millionen) voraus. Eine Kürzung in dieser Größenordnung wird sich unweigerlich auf den privaten Sektor auswirken und noch mehr Arbeitsplatzverlusten verursachen.

Schwache Weltwirtschaft

Abgesehen von Ausgabenkürzungen und dem Stellenabbau wird eine Reihe weiterer Maßnahmen den Lebensstandard einengen: 20% Mehrwertsteuer, Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge um ein Prozent, Preiserhöhungen für Benzin und Diesel, Fahrpreiserhöhungen bei der Bahn und anderen Verkehrsmitteln. Die Einzelhandelsforschungsgruppe Verdict sagt voraus, dass das durchschnittlich verfügbare Haushaltseinkommen zwischen 2011 und 2015 um 9,1% fallen werde. Der durchschnittliche Haushalt wird wahrscheinlich um 2.200 Pfund schlechter dran sein. Dies sind Durchschnittszahlen, viele Familien werden viel schlechter dran sein.

All dies geschieht vor dem Hintergrund einer sehr fragilen Erholung der Weltwirtschaft. Es gibt immer noch die Möglichkeit einer Kernschmelze des europäischen Bankensystems, ein Schock, der unweigerlich einen weiteren Einbruch in der britischen Wirtschaft auslösen würde.

Osborne, Cable & Co. verweisen optimistisch auf die Wiederbelebung der verarbeitenden Industrie. Zwar hat die Abwertung des Pfunds (25% seit 2008) den Exporten ein bisschen geholfen, und die verarbeitende Industrie wuchs im letzten Quartal um 0,9%. Aber der Anteil der verarbeitenden Industrie an der Wirtschaftsleistung beträgt nur noch 12% (zurückgegangen von 25% seit 1980). Dieses geschrumpfte Überbleibsel kann die Gesamtwirtschaft nicht ankurbeln.

Die Investitionen der verarbeitenden Industrie brachen während der Rezession ein (um 28%), und viele große Unternehmen haben haufenweise Bargeld auf der Bank. Dennoch haben sie es nicht eilig, in neue Anlagen und Ausrüstungen zu investieren.

Schwache Nachfrage zu Hause und scharfe Konkurrenz im Ausland bedeuten, dass es Überkapazitäten gibt. Laut ONS: „Firmen nicht zuversichtlich genug, um einen aktuellen Anstieg der Produktionskapazitäten zu rechtfertigen“.

Preise hoch, Löhne runter

Konservativ-Liberaldemokratische Minister*innen scheinen einen fast mystischen Glauben an eine Renaissance des privaten Sektors zu haben, der angeblich die im öffentlichen Sektor abgebauten Arbeitsplätze ersetzen werde.

Der scheidende Direktor der Confederation of British Industry, Sir Richard Lambert, warf der Regierung jedoch vor, keine Industriepolitik, keine „Vision“ für die Zukunft zu haben.

Lambert, kein Freund der Arbeiter*innenklasse, begrüßt die Konservativ-Liberaldemokratischen Maßnahmen zur Verringerung des Defizits. Aber er möchte, dass sie mit ihrer unternehmensfreundlichen Politik noch viel weiter gehen: niedrigere Steuern für Unternehmen und Wohlhabende, weitere Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte, Einschränkung des Zugangs zu Arbeitsgerichten, schwächere Gesundheits- und Sicherheitsgesetzgebung und so weiter.

Die Bank of England hat die Zinssätze erneut bei 0,5% nahe Null gehalten. Zwei Mitglieder des geldpolitischen Ausschusses (MPC) der Bank stimmten auf der letzten Sitzung für eine Zinserhöhung. Diese Inflationsscharfmacher spiegeln den Druck vieler Finanzkapitalist*innen wider. Höhere reale (inflationsbereinigte) Zinssätze begünstigen die Gläubiger*innen, während niedrige oder negative reale Zinssätze den Wert der Schulden mindern, was den Schuldner*innen zugute kommt.

Die Mehrheit des MPC erkennt jedoch, dass höhere Zinssätze die Lage nicht verbessern, wenn steigende Preise durch den Anstieg der weltweiten Energie- und Lebensmittelpreise (verstärkt durch die Abwertung des Pfunds) und die Erhöhung der Mehrwertsteuer verursacht werden. Im Gegenteil, teurere Kredite würden das verfügbare Einkommen noch mehr schmälern und das Wachstum weiter drücken.

Die jüngsten Preissteigerungen, besonders bei Energie und Lebensmitteln, haben zusammen mit der höheren Mehrwertsteuer das reale (inflationsbereinigte) Nettolohneinkommen bereits um 12% verringert. Die Preise steigen, gemessen am Verbraucher*innenpreisindex (CPI), um 3,7%, aber um fast 5% gemessen am realistischeren Einzelhandelspreisindex (RPI). Der RPI umfasst die Wohnkosten und andere wichtige Güter. Im letzten Quartal stiegen die Durchschnittsverdienste nur um 2,1%, was „real“ (inflationsbereinigt) einen Rückgang bedeutet.

Mervyn King, Gouverneur der Bank of England, hat davor gewarnt, dass die Reallöhne weiter fallen werden. „Im Jahr 2011 werden die Reallöhne wahrscheinlich nicht höher sein als sie 2005 waren. Man muss bis in die 1920er Jahre zurückgehen, um eine Zeit zu finden, in der die Reallöhne über einen Zeitraum von sechs Jahren fielen. Dies bedeutet einen drastischen Einschnitt in den Lebensstandard, noch bevor das 81 Milliarden Pfund schwere Konservativ-Liberaldemokratische Kürzungspaket wirksam wird.

Dieses Zusammendrücken, behauptet King, „ist der unvermeidliche Preis, den man für die Finanzkrise zahlen muss“. Aber warum sollten die Arbeiter*innen für die rücksichtslose Spekulationstätigkeit der Banken und der Reichen zahlen, die eine finanzielle Implosion ausgelöst haben? Während die Mehrheit mit Kürzungen konfrontiert ist, wird eine Handvoll Banker*innen 2011 insgesamt 7 Milliarden Pfund an Boni kassieren. Im Jahr 2010 betrug der durchschnittliche Bonus für Fachleute, die mit Kund*innen und Öffentlichkeit zu tun hatten, im Bankensektor 84.409 £ – 5% mehr als im Jahr zuvor.

Osborne nahm eine Thatchersche Pose ein und verkündete, dass er seinen Kurs nicht wegen eines „kalten Monats“ ändern werde: „Wir können es uns nicht leisten, durch schlechtes Wetter vom Kurs abgebracht zu werden“. Sein Handlanger, der liberaldemokratische Wirtschaftsminister Vince Cable, sagte, dass „es keinen Plan B braucht, wenn Plan A richtig und vernünftig ist, was er ist“.

Osborne, Cable & Co hoffen zweifellos, dass die vorläufigen Zahlen für das vierte Quartal im nächsten Monat auf der Grundlage vollständigerer Daten nach oben korrigiert werden. Nichtsdestotrotz waren viele Konservativ-Liberaldemokratische Abgeordnete und Berichten zufolge auch einige Minister*innen von den jüngsten Zahlen und dem wachsenden Risiko einer W-förmigen Rezession schwer erschüttert.

Sogar die Murdoch gehörende „Times“ kommentierte: „Es ist keine Übertreibung, diese Aussicht als eine Krise für die Politikgestaltung zu bezeichnen“.

Der Plan zum Abbau des Defizits in Höhe von 114 Milliarden Pfund könnte durchaus zu einem höheren Defizit führen. Ein negatives oder Nullwachstum würde die Steuereinnahmen weiter verringern und die Ausgaben für die Arbeitslosigkeit erhöhen. Der Financier George Soros kommentierte: „Ich glaube nicht, dass sie es umsetzen können, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu stürzen“.

Die „Financial Times“, das Sprachrohr der Großunternehmen, forderte die Regierung auf, einen „Plan B“ zu entwerfen. Sie erkennt an, dass die Konservativ-Liberaldemokratischen Maßnahmen wahrscheinlich einen weiteren Abschwung auslösen werden und dass die weit verbreitete Angst vor einer W-förmigen Rezession bereits die Verbraucher*innenausgaben und die Unternehmensinvestitionen drückt.

„Das Finanzministerium sollte einen Plan B für die öffentlichen Finanzen haben: Ein sich selbst erfüllender Pessimismus ist vermeidbar, wenn die Menschen wissen, dass die Kürzungsmaßnahmen aufgeschoben werden, wenn die Dinge schlechter laufen als erhofft.“

Wie wäre ein Plan B? Sowohl die kapitalistischen Kritiker*innen der Konservativ-Liberaldemokratischen Politik des „Kürzens und Hoffens“ als auch die wirtschaftsfreundlichen führenden New-Labour-Vertreter*innen befürworten, den Schmerz des Defizitabbaus über einen längeren Zeitraum zu verteilen. Aber das würde die tief verwurzelten Probleme des Kapitalismus nicht lösen.

Die Botschaft für die Arbeiter*innenklasse ist, dass die Regierung durch einen entschlossenen, massenhaften Kampf zum Rückzug bei den Kürzungen gezwungen werden kann. Aber bloß die Kürzungen zu verschieben, ist nicht genug. Der Kampf gegen die Kürzungen muss mit einem Kampf für die Übernahme der Wirtschaft und deren Leitung auf demokratischer, sozialistischer Grundlage verbunden werden.


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