Leo Trotzki: Macht die Augen auf!

[veröffentlicht am 27. April 1934, eigene Übersetzung nach der französischen Veröffentlichung in der „Vérité, nachgedruckt in Œuvres 4, Avril 1934 – Décembre 1934, korrigiert anhand des russischen Textes, veröffentlicht im Бюллетень Оппозиции, Bjulleten‘ Opposizii Bulletin der Opposition Nr. 40, Oktober 1934, verglichen mit der englischen Übersetzung, erschienen in Writings of Leon Trotsky, Bd. 6, 1933-34, dort unter dem Titel „Off with all the blindfolds!“, „Weg mit allen Augenbinden“.]

Die „Humanité“ und die Ausweisung des Genossen Trotzki1

Was an den Artikeln der „Humanité“ über die Ausweisung des Genossen Trotzki ins Auge springt, ist vor allem ihre ganze provokative Dummheit. Aber man weiß, dass in der Politik eine Einschätzung dieser Art absolut nicht ausreicht. Es ist wahr, dass das theoretische und politische Niveau der Führer der französischen Kommunistischen Partei sehr niedrig ist, wie ohnehin das der gesamten Komintern. Bereits 1921 schrieb Lenin an Sinowjew und Bucharin: „Wenn Sie nur nach Gefügigkeit streben, werden Sie nur Dummköpfe um sich versammeln.“

Lenin liebte und verstand es, die Dinge beim Namen zu nennen. Seit 1921 hatte die Auslese von „gefügigen“ Menschen monströse Erfolge erzielt. Die tödliche Krankheit der Komintern nistete sich in ihren Knochen ein, das heißt in ihren Kadern, in ihrer Auswahl, ihrer Ausbildung, ihren Gewohnheiten und Methoden. All das ist unbestreitbar. Dennoch interessieren uns hier nicht die allgemeinen Charaktere der stalinistischen Kader, sondern der Inhalt der politischen Ideen, die sie derzeit im Zusammenhang mit der Ausweisung des Genossen Trotzki formulieren. 2Es genügt nicht zu sagen: die Ideen sind dumm. Man muss ihre politische Tendenz bestimmen, denn Dummheit kann verschiedene Richtungen haben.

Die „Humanité“ geht von der Annahme aus, dass zwischen der Regierung, der Polizei, allen Organen der bürgerlichen Presse, der Sozialdemokratie und Trotzki eine Arbeitsteilung besteht, die auf einer Vereinbarung gegründet ist: Die Regierung weist Trotzki aus; er „lässt“ sich ausweisen; die bürgerliche Presse macht Jagd auf ihn; der „Populaire“ verteidigt wie ein Anwalt das Asylrecht, hält aber sorgfältig Abstand von Trotzki; und all das geschieht, um in den Augen der Arbeiter die Autorität der von Trotzki vertretenen „konterrevolutionären“ Ideen zu vergrößern und die stalinistische Partei daran zu hindern, die Revolution zu machen.

Doch so grotesk diese Erklärung auch sein mag, sie führt uns zum Kern des politischen Problems in Frankreich und gleichzeitig zum zentralen politischen Fehler des Stalinismus, der bereits den Tod seiner deutschen und österreichischen Sektionen verursacht hat. Die heftige Kampagne anlässlich von Barbizon wurde, wenn man der „Humanité“ glauben darf, durch den Wunsch der Bourgeoisie ausgelöst, das Ansehen der sozialdemokratischen Ideen zu erhöhen. Worin bestehen sie also? In der Rettung der demokratischen Formen der kapitalistischen Herrschaft: wenn nicht vollständig, so doch zumindest zu drei Vierteln oder zur Hälfte. Wenn die Sozialistische Partei gegen Trotzkis Ausweisung „protestiert“, dann zweifellos deshalb, weil sie ihren Ruf als Demokraten bewahren will. Es gibt nichts Geheimnisvolles am Verhalten des „Populaire“.

Aber der Kern des Problems ist nicht der „Populaire“, sondern die französische Bourgeoisie: Stimmt es, dass sie heute ein Interesse daran hat, reformistische und demokratische Ideen und Illusionen wiederzubeleben? Es genügt, diese Frage klar zu stellen, damit das gesamte Gebäude der „Humanité“ zu Staub zerfällt. Die Führer der stalinistischen Partei haben nichts von dem verstanden, was in Frankreich und Europa in der letzten Periode passiert ist. Vor zwei Jahren unternahm die französische Bourgeoisie einen großen Versuch – in der Tat kann man davon ausgehen, dass es der letzte war -, die Demokratie, ihre Formen, Riten und Illusionen zu regenerieren.

Dieser Versuch fand seinen Ausdruck im Sieg des Linksblocks. So wie nach den Wahlen im Mai 1932 die Radikalen zur wichtigsten führenden Partei der Bourgeoisie wurden, so wurde die französische Sozialdemokratie aller Schattierungen zur wichtigsten politischen Stütze des Regimes. Das Einreisevisum des Genossen Trotzki für Frankreich war ein Nebenprodukt dieser politischen Konstellation. Die Sozialisten mussten ihre Unterstützung für das bürgerliche Regime mit „symbolischen Gesten“ schmücken. Und die Radikalen selbst3, die in Wirklichkeit eine konservative und imperialistische Politik verfolgten, brauchten eine demokratische Tarnung. Jeder ernsthafte Revolutionär konnte und musste diese Situation nutzen, natürlich ohne seine Prinzipien aufzugeben und ohne irgendwelche Illusionen über das „heilige“ Asylrecht und andere demokratische Rechte zu säen.

Doch der in den letzten Monaten unternommene Versuch, die „Demokratie“ des Linksblocks wiederherzustellen, hat eine totale und beschämende Niederlage erlitten. Die Reformisten schieben die Schuld auf die Radikalen. Die Radikalen schieben es auf die Reformisten. Diese ganze oberflächliche Diskussion bewegt sich im Rahmen der parlamentarischen Politik. In Wirklichkeit ist der Block gescheitert, weil der verrottende Kapitalismus keine Reformen mehr gewähren kann, und er deshalb gezwungen war, von „demokratischen“ Methoden zu bonapartistischen (militärisch-polizeilichen) oder faschistischen Unterdrückungsmethoden (Massenunterdrückung, Pogrome4) überzugehen. Die Ausweisung Trotzkis ist nur eines der Nebenprodukte der bedeutenden Wende im politischen Leben Frankreichs, wie sie sich vor unseren Augen vollzogen hat.

Es ist unbestreitbar, dass die Partei Léon Blums [zwar] die wichtigste politische Stütze der Regierungen Herriot, Chautemps und Daladier war, und dass [jedoch] nur erbärmliche Papageien denselben Satz wiederholen und ihn auf die Regierung Doumergue anwenden können. Für die Entstehung dieser Regierung war ein Bürgerkrieg erforderlich, der sich in letzter Konsequenz – das versteht sich von selbst – gegen das Proletariat richtete, aber als unmittelbares Ziel den Sturz der radikalen Regierung hatte. Die wichtigste politische Stütze der Regierung Doumergue sind die Parteien und ihre bewaffneten Banden, die am 6. Februar versuchten, das kapitalistische Parlament aufzulösen, und die auf dem Weg zum Palais Bourbon Polizeibeamte und ihre Pferde töteten und verletzten. Dies ist heute die Gruppierung der Kräfte. Dass die Stalinisten selbst durch eine verhängnisvolle, aber nicht zufällige Verirrung den Faschisten nacheiferten, hat ihrem politischen Ruf einen tödlichen Schlag versetzt, spiegelt sich aber nicht im Geringsten in den Ergebnissen der konterrevolutionären Offensive wider.

Das Ministerium Doumergue ist nur eine Übergangskombination, die zu einer bürgerlichen Herrschaft führt, die von Demokratie, Parlamentarismus und sozialistischer Unterstützung befreit ist. Die derzeitige Regierung steht dank des wachsenden Antagonismus zwischen den beiden Lagern, dem faschistischen und dem proletarischen, über dem Parlament. Die Großbourgeoisie hat sich endgültig von der Idee verabschiedet, „demokratisch“ zu regieren, d. h. direkt vermittels der Radikalen und indirekt durch die Sozialisten. Die gesamte bürgerliche Presse bereitet den Weg zu einem freimütigeren Bonapartismus. Daher die erbitterte Jagd auf den Parlamentarismus, die Freimaurer, die Abgeordneten, die Beamtengewerkschaften und die Arbeiter*innenorganisationen. Die Bourgeoisie versucht heute nicht, die demokratischen Illusionen zu erneuern und zu unterstützen, sondern im Gegenteil, die demokratischen Institutionen zu kompromittieren, zu beschmutzen und zu zerstören. Die Faschisten und Royalisten agieren nur als extremistischer5 Flügel der Einheitsfront der Reaktion. Der „Matin“, das offiziöse Organ des bonapartistisch-faschistischen Blocks, sagt ganz offen, dass die Ausweisung Trotzkis nur der Anfang sei: Bald würden auch Cachin und Blum an der Reihe sein. An dieser Prophezeiung ist nichts Fantastisches. Wir haben in Deutschland und Österreich gesehen, wie die Dinge laufen. Der „Matin“ weiß, was er sagt. Tardieu weiß, was er tut.

Die stalinistischen Bourbonen ihrerseits haben nichts gelernt und nichts vergessen. In ihren Augen gibt es die politische Wende vom 6. Februar nicht. Die Sozialdemokraten bleiben ihrer Meinung nach wie in der Vergangenheit die „wichtigste“ Stütze der Bourgeoisie. Die Artikel über Trotzkis Ausweisung in der „Humanité“, die jeden durch ihre Dummheit frappieren, sind nicht das Produkt einer zufälligen Inspiration, sondern ergeben sich logisch aus der gesamten Politik der Komintern. Stalins berühmte Formel „Faschismus und Sozialdemokratie sind keine Antipoden, sondern Zwillinge“ ist endgültig zu einer Augenbinde der Komintern geworden. Die „Humanité“ ist nun die beste Hilfskraft der reformistischen Bürokratie und das größte Hindernis auf dem Weg zum Kampf gegen den Faschismus.

Der „Matin“ stellt die politische Realität unendlich viel ernster und richtiger dar als die „Humanité“. Die Ausweisung Trotzkis aus seinem Asyl in Barbizon stellt nichts als eine kleine Probe dafür dar, wie Journalisten, Arbeiterführer, Zentralkomitees, Verwaltungs- und andere Kommissionen aus den Räumen ihrer Parteien und Gewerkschaften hinausgeworfen werden. Genau diese Perspektive muss man vor den französischen Arbeitern entwickeln. Nehmt alle Arten von Augenbinden ab, sowohl die stalinistischen als auch die reformistischen! Es ist an der Zeit zu lernen, der harten Realität ins Auge zu blicken.6 Deklamationen an die Adresse des Faschismus, „revolutionäre“ Phrasen, verbale Proteste lösen nichts. Man braucht einen Massenwiderstand gegen die Offensive der Pogrombanden, auf die sich die bonapartistische Reaktion stützt. Gerade heute muss man allen Arbeitern beibringen, von ihren Führern eine Antwort auf die Frage zu verlangen: Was tun? Jeder, der nicht direkt und sofort antwortet, muss zurückgewiesen werden. Die proletarische Einheitsfront muss mit Blick auf große Kämpfe aufgebaut werden. Die Ereignisse in Frankreich zeigen uns einmal mehr, dass die richtige revolutionäre Perspektive nur durch die Internationalistischen Kommunistischen Liga gegeben ist, die die Vierte Internationale aufbaut.

1In der englischen Übersetzung fehlt die Unter-Überschrift

2In der englischen und französischen Übersetzung fehlt der Schluss des Absatzes.

3In der englischen Übersetzung: „selbst die Radikalen“, „even the Radicals“, nicht „the Radicals themselves“, wie es dem französischen „les radicaux eux-mêmes“ und russischen „сами радикалы“ entsprechen würde.

4Im russischen und englischen Text in der Klammer: „Massen-Pogrome“

5Im russischen und englischen Text: „extremer“

6Im englischen: „Es ist hohe Zeit, der harten Realität ins Gesicht zu schauen“


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