Leo Trotzki: Brief an einen österreichischen Genossen

[eigene Übersetzung des russischen Textes, erschienen im Bjulleten Opposizii, Nr. 35, Juli 1933) Tatsächlich war der Adressat Wolfgang Salus nicht Österreicher, sondern Tschechoslowake]

Aus dem Leben der internationalen Linken

Über die Schwierigkeiten unsere Arbeit

Werter Genosse!

Sie klagen, dass die Arbeit der österreichischen Opposition zu langsam vorwärts geht. Eine der Ursachen sehen Sie vollkommen richtig in unzureichend systematischer Arbeit, im Fehlen klarer Organisation, des Geistes von Genauigkeit und Zuverlässigkeit. Als Beispiele bringen Sie unregelmäßige Besuche von Sitzungen, unzulässige Verspätung usw. Ich fühle dabei ganz mit Ihnen, weil ich meine, dass es in jeder ernsthaften Sache, umso mehr in der revolutionären, nichts Schlimmeres als Dilettantismus und Unordnung gibt.

In Österreich verhält sich die Sache in dieser Hinsicht am allerungünstigsten. Aus Gründen, über welche hier zu reden keine Notwendigkeit besteht, führt die österreichische Sozialdemokratie bis auf diesen Tag die erdrückende Mehrheit des Proletariats hinter sich. Die Kompartei besaß keine selbständige Rolle im Klassenkampf, sondern war war bloß Opposition gegenüber dem Austromarxismus. Jedoch eine Opposition, die von einer falschen theoretischen Grundlage ausgeht, ist zum Verfaulen verdammt. Die Kompartei gruppierte nicht wenige Elemente der Wiener Bohème um sich, und blieben beträchtlich von ihrem Naturell durchdrungen.

Die österreichische Opposition übernahm zu vieles von der offiziellen Kompartei. Der langwierige Kampf zweier Oppositionscliquen, die einander sehr ähnlich und in vielem bloß Karikaturen der österreichischen Kompartei sind, konnte ernsthafte Arbeiter von der Linken Opposition allgemein nur fortstoßen. Indessen kann nur der Zustrom echter Industrieproletarier der Opposition Standfestigkeit geben, die erforderliche Disziplin und das Systematische der Arbeit sicherstellen.

Die österreichische Kompartei ging nicht in den Untergrund, sondern ging für immer von der politischen Bühne ab: sie wird nicht wiederbelebt werden. Jedoch auch die Sozialdemokratie wird sich in der nächsten Periode zerlegen. Wenn die linke Opposition ihre historisch Rolle erfüllen will, muss sie den Zugang zu jungen sozialdemokratischen Arbeitern finden.

Gewisse Besserwisser zucken in Bezug auf die sozialdemokratische Opposition verächtlich mit den Achseln: das, sagen sie, sind Einzelgänger, gekränkte Tschinowniks, unzufriedene Karrieristen usw. So etwas könnte direkt vom Parteivorstand der österreichischen Sozialdemokratie stammen! Selbstverständlich sind die Vertreter der sozialdemokratischen Opposition persönlich schwach, klein, in ihrer Mehrheit charakterlos. Trotzdem haben sie in Verbindung mit dem ganzen politischen Umfeld riesige symptomatische Bedeutung. Über sie bekundet sich in gebrochener und abgeschwächter Weise die Beunruhigung der besten österreichischen Arbeiter. Wie kann man etwa diese Arbeiter erreichen, wenn man die oppositionellen Einzelgänger verächtlich abtut? In jedem Falle gibt es für die Linke Opposition in Österreich keinen anderen Weg als schlagartig mit der Tradition der sauer geworden Zirkel-Bohème zu brechen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Industriebetriebe zu richten.

Die Arbeit in der nächsten Periode in Österreich kann nicht leicht sein. Die Arbeiter wurden zu grausam von der Sozialdemokratie betrogen; die Kompartei ist in ihren Augen zu sehr kompromittiert; die Intrigen der Oppositionscliquen konnte bei ihnen nur Widerwillen hervorrufen – es ist nicht merkwürdig, wenn sie keineswegs geneigt sind, der Linken Opposition einen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen. Man muss sich das Vertrauen durch beharrliche und systematische alltäglich Arbeit erobern können. Beim Versuch dieser Arbeit wird eine persönliche Auswahl in der derzeitigen Initiativgruppe entspringen. Skeptiker und Dilettanten werden sehr schnell zurückbleiben und abgehen: umso besser! Ernsthafte Revolutionäre werden junge Arbeiter einbeziehen und zusammen mit ihnen eine echte proletarische Organisation gründen, welche Kräfte einteilen, die Zeit schätzen und systematisch arbeiten kann. Es gibt kein anderes Rezept.

Ich wünsche Ihnen aus ganzer Seele Erfolg.

L. Trotzki.

Prinkipo, 17. Juni 1933


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert