Leo Trotzki: Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Kunst und Philosophie

[eigene Übersetzung des russischen Textes, erschienen im Bjulleten Opposizii, Nr. 35, Juli 1933]

(Antwort an die amerikanischen Genossen Glee, Ross und Morris)

Werte Genossen!

Ihr Brief wirft sehr wichtige Probleme auf, welche jedoch, aus meiner Sicht, keine allgemeine und kategorische Entscheidung zulassen, die für alle Anlässе tauglich wäre. Als Organisation gehen wir nicht nur von bestimmten politischen Ideen aus, sondern von bestimmten philosophischen und wissenschaftlichen Methoden. Wir stützen uns auf den dialektischen Materialismus, aus dem Schlussfolgerungen nicht nur für Politik und Wissenschaft, sondern auch für die Kunst folgen. Jedoch besteht ein riesiger Unterschied in unserer Haltung zu diesen Schlussfolgerungen. In der Haltung zur Kunst dürfen wir schon der Natur dieser Tätigkeit nach nicht im entferntesten Grade jene harte Kontrolle ausüben wie in der Haltung zur Politik. Die Partei ist verpflichtet, eine sehr breite Freiheit im Gebiet der Kunst zuzulassen und bloß das gnadenlos zu verwerfen, was gegen die revolutionären Aufgaben des Proletariats gerichtet ist; auf der anderen Seite darf die Partei nicht die unmittelbare und direkte Verantwortlichkeit für die Äußerungen einzelner ihrer Mitglieder im Bereich der Kunst auf sich nehmen, sogar, wann sie ihnen ihre Tribüne bereitstellt. Besonders notwendig ist die unbedingte Einhaltung beider dieser Regeln — die Gewährung der erforderlichen Freiheit individuellen Schaffens und Nichtübertragung der Verantwortlichkeit für alle ihre Wege auf die Partei — in jenen Fällen, wo es sich nicht um Theoretiker im Bereich der Kunst, sondern um Künstler selbst handelt: Kunstmaler, Belletristen usw. Die Partei muss dabei eine klare Linie dort ziehen können, wo Verallgemeinerungen im Bereich der Kunst unmittelbar in den Bereich der Politik übergehen. Ohne irgendwelche prinzipielle Zugeständnisse zu machen, darf die Partei sich dennoch im Verhältnis zu Künstlern auf feste, jedoch taktvolle Korrekturen an unrichtigen politischen Schlussfolgerungen aus dem Kunstblickwinkel zu beschränken. Marx drückte diesen Gedanken in der scherzhaften Redewendung an die Adresse Freiligraths aus: „Dichter sind sonderbare Käuze“. Lenin wandte im Verhältnis zu Bogdanow, dem Theoretiker und Berufspolitiker, und zu Gorki, dem Künstler verschiedene Kriterien an, obwohl im Verlauf einer bestimmten Zeit Bogdanow und Gorki politisch eng verbunden waren. Lenin ging davon aus, dass Gorki mit seiner künstlerischen Tätigkeit und der Popularität seines Namen der Sache der Revolution Nutzen bringen kann, die weit den Schaden einzelner seiner fehlerhaften Erklärungen und Handlungen übertrifft, welche die Partei im Übrigen immer rechtzeitig und taktvoll beseitigen kann.

Unter dem angegebenen Blickwinkel steht die philosophische Tätigkeit zwischen Kunst und Politik, näher zur Politik als zur Kunst. In der Philosophie selbst nimmt die Partei eine bestimmte Kampfposition ein, die sie im Bereich der Kunst – zumindest in solchem Grade – nicht einnimmt. Einwände der Art, dass das „Dogmatisieren oder Kanonisieren“ des dialektischen Materialismus die Partei an der freien Entwicklung des philosophischen oder wissenschaftlichen Denkens hindert, verdienen keine ernsthafte Aufmerksamkeit. Keinerlei Betrieb kann arbeiten, ohne von einer bestimmten technologischen Doktrin auszugehen. Keinerlei Krankenhaus kann behandeln, falls sich ihre Ärzte nicht auf dieselben Vorschriften der Pathologie stützen. Dilettanten im Betrieb oder im Krankenhaus willkürlich experimentieren zu lassen unter dem Vorwand, dass sie sich für „Erneuerer“ halten, wäre der reinste Wahnsinn. Erneuerer müssen noch ihr Recht beweisen, in der praktischen Technologie und Medizin mitzuwirken. Besondere Wachsamkeit ist auf Seiten der Partei im Verhältnis zu jenen „Erneuerern“ notwendig, welche bloß seit langem bekannte kritische Speisen aufwärmen oder sich selbst noch in einer Periode des Suchens mit ungewissem Ausgang befinden. Jedoch daraus folgt überhaupt nicht, dass in der Sphäre der Philosophie die Partei sich so verhalten könne, als ob alle Fragen für sie entschieden wären, und sie nichts von der ferneren Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu erwarten hätte. In diesem Bereich die Linie der richtigen Politik zu finden ist nicht leicht. Sie ergibt sich bloß aus der Erfahrung und einer biegsamen Leitung. Wie auch beim Artilleriefeuer wird das Ziel hier gewöhnlich mittels einer Reihe zu hoher und zu tiefer Schüsse erreicht. Es ist unnötig, daran zu erinnern, dass für die Ausarbeitung der richtigen Parteikontrolle immer die Frage eine riesige Bedeutung hat, wie die philosophische Sicht gegebener Person oder gegebener Gruppen sich im Bereich der Politik und Organisation bricht. So kämpfte Lenin im Jahre 1917 gnadenlos gegen Gorki an, als über allen übrigen Erwägungen die Notwendigkeit des revolutionären Umsturzes stand. Auf der anderen Seite müssen wir die Tatsache für die größte Schande halten, dass die Stalinsche Bürokratie den Belletristen Barbusse in eine leitende politische Figur verwandelt, obwohl Barbusse in der Politik Hand in Hand mit Renner, Vandervelde, mit Monnet und Paul Louis auftritt.

Ich befürchte sehr, dass ich Ihnen keine zufriedenstellende Antwort auf die mir gestellte praktischen Fragen gab. Jedoch das Gesagte erklärt, hoffe ich, warum ich eine solche Art Antwort nicht geben konnte, die eine konkrete Erfassung des Umfelds und der persönlichen Umstände erfordert. Es mag aber sein, dass diese kurzen Erwägungen zumindest teilweise bei einer Ausarbeitung einer richtigen Politik in diesem komplizierten und verantwortlichen Bereich helfen werden.

Mit kommunistischen Grüßen.

L. Trotzki.

16 Juni 1933


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