Leo Trotzki: Antworten auf Fragen von Anita Brenner, New York Times

[13. November 1933, eigene Übersetzung des russischen Textes, Korrekturen von russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen]

1. Was sind die Ursachen der Krise und was werden ihre Folgen für das Leben in Amerika sein?

Ich halte jede Art Theorie für völlig falsch, welche versucht, die Krise durch zeitweilige oder zufällige Ursachen zu erklären, wie z.B. Kriegseinwirkungen, die nationalistische Epidemie, falsche Zoll- oder Währungspolitik und so weiter. All diese Fakten und Vorgänge können natürlich die Krise verschlimmern, aber sie haben eine abgeleitete Wirkung. Der Krieg selbst war ein Versuch (zuallererst von Seiten des deutschen Kapitals), eine nahende grandiose Krise abzuwenden. Die Hauptursache der gegenwärtigen Krise liegt darin, dass die Produktivkräfte der zeitgenössischen Gesellschaft in einen unversöhnlichen Widerspruch sowohl zum Privateigentum an den Produktionsmitteln als auch zu den nationalen Staatengrenzen geraten sind. Die Produktivkräfte erfordern eine planmäßige Organisation im gesamteuropäischen, aber später auch im Weltmaßstab. Ohne diese und bis dahin sind konjunkturelle Schwankungen natürlich möglich und unausbleiblich; und die nächste Verschlechterung der Konjunktur wird bald zu einer neuen, vielleicht noch schmerzhafteren Krise führen. Der ganze Kern liegt darin, dass wir nicht nur eine der konjunkturellen Krisen des normalen kapitalistischen Zyklus haben, nein, wir sind in eine sozialen Krise des Kapitalismus als System eingetreten. Alle Versuche, dieses Faktum zu widerlegen oder zu verschleiern, sind hoffnungslos.

2. Wird uns der „Roosevelt-Plan“ aus der Krise führen?

Nein.

3. Wird die Inflation einen Wohlstand bringen, wie er 1929 herrschte?

Nein.

4. Ist eine Planwirtschaft in einer Demokratie möglich?

Die Sache geht nicht unmittelbar um die „Demokratie“, sondern um das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das System der Planwirtschaft ist unvereinbar mit dem System des Privateigentums.

5. Kann man die Existenz des kapitalistischen Systems vermittels einer Begrenzung der Gewinne verlängern?

Mit Hilfe solcher und ähnlicher Maßnahmen kann man vielleicht die Krämpfe des kapitalistischen Systems fortzusetzen, aber man kann ihm nicht seine Lebenskraft wiedergeben.

6. Kann das Prinzip der „freien Konkurrenz“ in einer Planwirtschaft erhalten werden?

Die Antwort ergibt sich aus dem oben Gesagten.

7. Halten Sie den Fünfjahresplan für einen Erfolg?

Von einem vollen Erfolg kann man nicht reden. Die Widersprüche der sowjetischen Wirtschaft sind immer noch sehr groß und verschärften sich in gewisser Beziehung sogar. Aber nur ein Blinder kann die grandiose Kraft der sich auf verstaatlichtes Eigentum stützenden Planmethoden nicht sehen.

8. Halten Sie die UdSSR für ein kommunistisches Land?

Die UdSSR ist noch kein kommunistischer, noch kein sozialistischer Staat. Sie ist ein Übergangssystem vom Kapitalismus zum Sozialismus, wobei noch ein langer und schwieriger historischen Weg zum Sozialismus bleibt.

9. Was ist der grundlegende internationale Beitrag der UdSSR?

Der praktische Nachweis, dass eine erfolgreiche wirtschaftliche Arbeit ohne eine kapitalistische Klasse möglich ist.

10. Was war ihr Hauptfehler?

Die Fehler der Sowjetregierung sind zahlreich. Ich habe sie wiederholt in der Presse kritisiert und es würde mir schwer fallen, hier den größten Fehler zu bestimmen. Aber trotz dieser Fehler bleibt die UdSSR die Verkünderin eines neuen Gesellschaftssystems und ein ernsthafter Friedensfaktor.

11. Wird Hitler an der Macht bleiben?

Hitler muss gestürzt werden. Aber das kann man nicht ohne Revolution machen. Die Massen müssen sich von der Niederlage erholen. Eine neue revolutionäre Partei muss an die Spitze der Massen kommen. All dies erfordert eine bestimmte Zeit.

12. Warum verfolgt Hitler die Juden?

Das ist das Einzige, was ihm im Sinne der „Lösung“ der inneren Fragen bleibt. Zum Schutz des Kapitalismus, den zu zerstören er versprach, ist Hitler gezwungen, die Aufmerksamkeit der Massen von sozialen Fragen auf nationale und Rassenfragen abzulenken.

13. Stellt der deutsche Nationalsozialismus eine internationale Bedrohung dar?

Unbedingt.

14. Erwarten Sie in nächster Zukunft einen Krieg? Wird er Amerika betreffen?

Ein großer Krieg (ich spreche nicht von einem präventiven Kleinkrieg) ist in Europa vor den drei oder vier Jahren, die notwendig sind, um Deutschland vollständig aufzurüsten, kaum möglich. Aber dafür wird nach dieser Frist Krieg unvermeidlich sein. Im Fernen Osten, wo die japanische Militärkamarilla völlig den Kopf verloren hat, ist ein Krieg zu jeder Stunde möglich. Ich glaube, dass die Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die Militaristen in Tokio erziehen müsste und in diesem Sinne als ein Friedensfaktor erscheint.

15. Empfinden Sie im Allgemeinen Optimismus, was den Kurs der westlichen Geschichte angeht? Welche Rolle spielt Amerika?

Die gesamte Menschheitsgeschichte ist an einen Wendepunkt gekommen, darunter auch die Geschichte der Vereinigten Staaten. Große Umwälzungen und Schwierigkeiten liegen vor uns, vielleicht sogar ein zeitweiliger Verfall der Kultur. Aber ich zweifle nicht daran, dass die Menschheit sich schließlich zu neuen Höhen erheben wird.

16. Glauben Sie, dass die Periode des Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus eine Frage von einigen Jahren oder von einigen Generationen sein wird?

Von Generationen.

L. Trotzki

13. November 1933.


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