Franz Mehring: Etwas vom sozialen Königtum

[Die Neue Zeit, X. Jahrgang 1891-92, I. Band, Nr. 9, S. 257-260]

 Berlin, 18. November 1891.

Ohne Klang und sang hat gestern das soziale Königtum seinen zehnten Geburtstag gefeiert; selbst seine eifrigste Gevatterin, die „Kreuz-Zeitung,“ gesteht offen, das sie das Kind zwar mit Bewunderung und Hoffnung aus der Taufe, gehoben habe, aber heute nur mit Fragen und Zweifeln auf dasselbe zu blicken vermöge, Mit dieser Bekümmernis steht sie obendrein noch ziemlich einsam da; die meisten Blätter lassen den Gedenktag ohne ein Wort der Freude oder Sorge vorübergehen; sie scheinen die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 endgültig in dem Makulaturschranke der Geschichte beigesetzt zu haben. Wir machen ihnen daraus gewiss keinen Vorwurf, vielmehr begrüßen wir es als einen Fortschritt, das der Schattentanz des sozialen Königtums höchstens noch das verzückte Seherauge der „Kreuz-Zeitung“ zu fesseln, wenngleich auch nicht mehr zu blenden vermag. Das war vor zehn Jahren noch ganz anders. Damals schrieb der Ober-Offizisöse Hahn eine zur Massenverbreitung bestimmte Schrift, deren Titel allein schon eine genügende Probe von der Verwirrung gibt, die dazumal angerichtet werden sollte und bis zu einem gewissen Grade, so weit es sich um die bürgerlichen Klassen handelt, auch wirklich angerichtet wurde. Dieser Titel lautete: „Das soziale Königtum. Ein Ausspruch Lassalles und die soziale Praxis Kaiser Wilhelms.“ Der plumpe Humbug des Geheimen Oberregierungsrats – denn bis auf eine so hohe Stufe der preußischen Bürokratie hatte sich dieser Hahn hinauf gekräht und bei seinem gleich darauf erfolgenden Ausscheiden aus dem Staatsdienste weinte Bismarck dem „unersetzlichen“ Federvieh aufrichtige Tränen der Rührung nach – bestand darin, das er Lassalles bekannte Äußerung gegen Huber: wenn es ein soziales Königtum gäbe, so wäre ich der Erste, seine Fahne zu tragen, aber weil es kein soziales Königtum gibt, so müssen die Arbeiter ihre Emanzipation selbst erkämpfen, nur zur ersten Hälfte mitteilte und dann weiter folgerte: da durch die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 das soziale Königtum konstituiert ist, so würde Lassalle, wenn er heute lebte, Redakteur der halbamtlichen „Provinzial-Korrespondenz“ oder gar vortragender Rat bei Bismarck sein.

Das schnelle Absterben des sozialen Königtums ist um so bemerkenswerter, als seine Geburtswehen manches Jahrzehnt gewährt haben. sein erster Philosoph – die Praxis des sozialen Königtums ist ja noch viel älter – war wohl Lorenz v. Stein. In dem bekannten Werke über den französischen Sozialismus und Kommunismus, das Anfangs der vierziger Jahre erschien, entwickelte Stein, das alles Königtum fortan entweder ein leerer Schatten oder eine Despotie werden, oder in Republik untergehen müsse, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut habe, soziales Königtum zu werden. Diese Wundererscheinung sichere aber gleichzeitig auch den wahren Vorteil der besitzenden Klassen; der preußische Adel beispielsweise, so führte Stein aus, sei durch die Bauernemanzipation eher reicher als ärmer geworden. Das Beispiel war ganz hübsch gewählt; nur dass die Bereicherung der Junker durch die Bauernemanzipation nicht auf die mystischen Wirkungen des sozialen Königtums zurückzuführen war, sondern – wie neuerdings Knapp in seinem trefflichen Werke über die preußische Bauernbefreiung urkundlich nachgewiesen hat – auf die sehr einfache Prellerei, mit welcher die Junker sowohl die Krone als auch die Bauern über den Löffel balbierten. Dem Philosophen Stein folgte bald der – wie er sich selbst auf dem Titel anonymer Schriften zu nennen pflegte – „praktische Staatsmann“ Wagener; in seinen Memoiren-Bruchstücken erzählt er, wie er schon vor 1848 in dem zu Köln erscheinenden „Rheinischen Beobachter“ die Idee des sozialen Königtums verfochten habe. Leider verhehlt er aber die Antwort, welche er im September 1847 von Marx und Engels in der deutschen „Brüsseler Zeitung“ auf sein liebenswürdiges Anerbieten einer von „Regierung“ und „Proletariat“ gegen die „Bourgeoisie“ zu schließenden Allianz bekam. Diese Absage an das „Blendwerk“ des „königlich preußischen Regierungssozialismus“ war nicht höflich, aber deutlich.

Es versteht sich von selbst, dass Lassalle auf dem gleichen Standpunkt stand, wenngleich einzelne Äußerungen seiner Agitationsschriften in diesem Betrachte möglicherweise eher missverstanden werden können, als der gar nicht missverständliche Brief an Huber. Die vielleicht bezeichnendste Äußerung Lassalles über das soziale Königtum findet sich in einer umfassenden Besprechung, welche er vom ersten Bande von Rosenkranz‘ „Wissenschaft der logischen Idee“ in der Zeitschrift „Der Gedanke,“ Jahrgang 1861, also lange vor dem Beginn seiner sozialpolitischen Agitation widmete. In einem philosophischen Zusammenhange, der hier nicht näher analysiert werden kann, führte Lassalle aus, der „an sich seiende berechtigte Begriff der Monarchie“ sei allerdings, „die Totalität und Einheit des sittlichen Staatswillens darzustellen gegenüber den in ihre besonderen „Interessen versenkten, in ihre Privilegien und Vorrechte, Klassen und Stände der bürgerlichen Gesellschaft verstrickten Einzelnen.“ Somit sei die Monarchie ihrer inneren Natur nach von vornherein in einer feindlichen Stellung zu den Privilegierten. „Aber,“ so fährt er fort, „seiner Wirklichkeit nach, nach der Bestimmtheit, welche der Begriff der Monarchie in der heutigen staatlichen Existenz hat, ist diese Totalität und Einheit des Staatswillens in der Monarchie als eine zufällige, empirische, durch die Erblichkeit der Geburt bestimmte, unmittelbare Individualität vorhanden, d.h. sie ist selbst wieder ein Privilegium und zwar das höchste und härteste Privilegium, – den öffentlichen Willen als das erbliche Eigentum eines Individuums, einer Familie zu setzen.“ Das Königtum ist. also ein Widerspruch zwischen seinem inneren Begriff und seiner äußeren Bestimmtheit; in dem Streben, diesen Widerspruch aufzuheben und sein Dasein seinem Begriffe gleich zu machen, verwandelt es sich aber durch einen zwar unfreiwilligen und ungewollten, allein deshalb nur um so logischeren weltgeschichtlichen Prozess in sein Gegenteil. Denn wenn das Königtum, selbst ein Privileg, sich getrieben findet, gegen die der sittlichen Einheit und Totalität des Staatszwecks entgegenstehenden Privilegien der bevorrechteten Klassen anzugehen, wie etwa 1789 in Frankreich, so untergräbt es sein eigenes Privileg und hebt seine eigene Existenz auf; es schlägt um in die Republik, welche dann die ihrem Begriffe wahrhaft entsprechende Existenzform der Einheit und Totalität des sittlichen Staatswillens ist. Wir brauchen unsern Lesern wohl kaum zu sagen, weshalb wir bei dieser philosophischen Auseinandersetzung Lassalles etwas länger verweilt haben, denn abgesehen davon, das der betreffende Aufsatz wenig bekannt ist, so liegt es auf der Hand, das unsere bei alledem nur kurzen Auszüge aus demselben eine bündige Kritik nicht nur des sozialen Königtums, sondern auch des geflügelten Wortes?! suprema lex regis voluntas! enthalten, über welches Wort die bürgerlichen Blätter sich augenblicklich in so unerträglichen Windungen des Möchte-wohl- und Kann-doch-nicht-Stils ergehen.

Dagegen müssen wir anerkennen, dass man dasjenige soziale Königtum, dessen zehnter Jahrestag gestern war, beträchtlich überschätzen würde, wenn er es mit dem hohen philosophischen Maßstabe Lassalles messen wollte. Bismarck hat jüngst erklärt, dass er aus eigener Initiative und ohne jede fremde Beihilfe sowohl die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 verfasst, als auch die späteren Maßregeln seiner sogenannten Sozialreform ersonnen habe. Das ist durchaus glaublich, denn alle diese Dinge tragen den unverkennbaren Stempel seines, sobald es sich um seine Klasseninteressen handelt, unglaublich beschränkten und verbohrten Geistes. Es liegt noch ein von Wagener verfasstes und von Rodbertus verbessertes Konzept zu einem Programm des sozialen Königtums vor, dass dem damaligen Reichskanzler spätestens im Jahre 1875 überreicht sein wird, denn im Dezember dieses Jahres starb Rodbertus. Das Schriftstück findet sich in Rodbertus‘ literarischem Nachlasse III, S. 247 u. ff. Die Verfasser empfahlen die feierliche Verkündigung einer Ära der Sozialreform durch eine kaiserliche Botschaft, „um das Vertrauen der arbeitenden Klassen zu erwecken,“ dann Abschaffung aller Lebensmittelsteuern, Einführung eines Normalarbeitstages, Verbot der Sonntagsarbeit, amtliche Fabrikaufsicht mit weitreichenden Befugnissen usw., daneben auch noch das Staatseisenbahnsystem und das Tabakmonopol. Bismarck begann mit dem Staatsbahnsysteme, hielt es dann aber für praktischer, die arbeitenden Klassen einfach mit dem Polizeiknüttel auf den Kopf zu schlagen und demnach nicht etwa die Lebensmittelsteuern abzuschaffen, sondern sie vielmehr ins Ungeheuerliche zu erhöhen, um den Klassen, denen er angehört, in erster Reihe also dem Großgrundbesitze und in zweiter Reihe dem Großkapitale die Taschen zu füllen. Die unter dem roten Schrecken von 1878 erfolgten Reichstagswahlen hatten ihm für beide Zwecke eine willfährige Mehrheit verschafft. Aber als die Wahlen von 1881 herannahten, war eine tiefgehende Unzufriedenheit unter den Wählern unverkennbar. Also langte der geniale Denker wieder zu seinem Konzepte und sein Blick blieb auf dem Tabakmonopole haften. Alsbald musste Herr Adolf Wagner im Sommer von 1881 mit dem Tabakmonopole als dem „Patrimonium der Enterbten“ im Reiche hausieren gehen. Allein der grobe Schwindel verfing nicht; die Wahlen von 1881 ergaben eine schwere Niederlage des bismärckischen Systems. So langte er, Bismarck, denn abermals nach seinem Konzepte, indessen er fand hauptsächlich nur noch Vorschläge zur Fabrikgesetzgebung darauf – die er ebenso sehr hasst, wie er den Profit liebt. Aber halt! Die feierliche Botschaft, welche eine Ära der Sozialreform ankündigt, „um das Vertrauen der arbeitenden Klassen zu erwecken,“ – das war doch noch ein Spektakelstück, das gar nichts kostete und das am Ende einen Lärm vollführen konnte, über dem den arbeitenden Klassen vielleicht doch Hören und Sehen verging. Besonders wenn diesem Ohrenschmaus dann noch das. Schaugericht einer Versicherungsgesetzgebung folgte, welche die Last der Armenpflege nach Möglichkeit von den schultern der Besitzenden auf die Schultern der arbeitenden Klassen abwälzte und die Bewegungsfreiheit der Letzteren, die selbst das von den Vorkämpfern des sozialen Königtums in alle Tiefen der Hölle verfluchte Manchestertum aufrecht erhalten wissen wollte, an allen Ecken und Enden zu beknapsen gestattete. So kam es denn am 17. November 1881, wie es kommen musste.

Wie leicht begreift es sich demnach, dass die bürgerlichen Klassen den einst mit so unzähligen Pauken und Trompeten begrüßten Tag heute nach zehn Jahren am liebsten aus dem politischen Kalender streichen möchten! Aber wenn die Menschen vor Reue und Scham schweigen, dann spricht die Logik des geschichtlichen Prozesses um so lauter. Gestern, am zehnten Jahrestage des sozialen Königtums, wurde der neue Reichshaushaltsplan bekannt, der an hundert Millionen neuer Anleihen und Ausgaben für Mordwerkzeuge und Spitzelzwecke, für die Lebensnotwendigkeiten eines völkerfeindlichen Militär- und Polizeistaatssystems, fordert, Gestern, am zehnten Jahrestage des sozialen Königtums, verteidigte ein Vertreter der Regierung vor versammelter Volksvertretung in verschämter Weise die Sklaverei in unsern afrikanischen Kolonien. Und endlich – last not least – an diesem denkwürdigen Tage errangen die hiesigen Arbeiter, welche das soziale Königtum so wenig mit dem Zuckerbrote wie mit der Peitsche kirre zu machen gewusst hat, einen glänzenden Sieg, mit der stumpfen und unbeholfenen Waffe des Dreiklassen-Wahlrechts alte Sitze im städtischen Parlament erringend, neue erobernd, ihren verbissensten Gegnern das widerwillige Geständnis entreißend, das ihre Partei alle anderen an Aufopferung und Geduld, an Feuer und Kraft, an Mut und Zähigkeit übertreffe.

So feiert die Geschichte ihre Gedenktage, und die beredte Sprache ihrer Tatsachen Bedarf keines Kommentars.


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