[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 13, 20. Juni 1900, S. 97-99 und Nr. 14, 4. Juli 1900, S. 105-107]
I.
Die jüngste Novelle zur Reichsgewerbeordnung ist – nach mancherlei Ach und Krach seitens der bürgerlichen Reichstagsmajorität in den drei Lesungen – vor Pfingsten nun endlich erledigt worden und wird am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft treten. Der Gesetzentwurf der Regierung, der ihr zu Grunde liegt, wurde am 2. März 1899 eingebracht und also nicht mit jener Promptheit beraten, welche dem Reichstag zur Verfügung steht, wenn es sich um Forderungen zu Gunsten der besitzenden Klassen handelt. Arme Leute können warten, das ist in den meisten reichen Häusern so Sitte. Der Gesetzentwurf ist, so unglaublich das Jedem klingen muss, der die geringe Befähigung und Willigkeit der gegenwärtigen Regierung zu gründlicher Reformarbeit kennt, in wesentlichen Punkten vom Reichstag noch verschlechtert, bzw. abgeschwächt worden. Dass die bürgerlichen Reichsboten es fertig gebracht haben, an Tiefstand des Reformverständnisses und des Reformeifers sogar die Regierung des Zuchthauskurses zu schlagen, zeigt sinnenfällig deutlich, mit welchem Rechte weltfremde Träumer von der Wunder wirkenden Kraft der „steigenden Ethik“ in den besitzenden Klassen singen und sagen.
Die Novelle ist ein recht charakteristisches Denkmal jener stümperhaft unorganischen Art, in welcher man in Deutschland Sozialpolitik treibt, in welcher insbesondere der gesetzliche Arbeiterschutz geschaffen worden ist und weiter ausgebaut wird. Sie stellt sich als ein Sammelsurium von verbessernden und verbösernden Bestimmungen zu sehr verschiedenen Gebieten dar. Die erste Gruppe der Neuerungen bezieht sich auf das Gewerbe der Pfandvermittler, Gesindevermieter, Stellenvermittler und Auskunftserteilungen, auf die Sonntagsruhe im Barbier- und Friseurgewerbe: die zweite Gruppe enthält Vorschriften über die Einführung von Lohnbüchern und Arbeitszetteln in manchen Gewerben, über den Lohntag, Lohnbücher für Minderjährige, Kündigungsfristen etc.; die dritte Gruppe endlich bringt den Anfang einer Regelung der Arbeitszeit im Handelsgewerbe. Die einzelnen Abschnitte und Paragrafen der Novelle gleichen sozialpolitischen Lappen, welche da und dort aufgesetzt werden sollen und recht deutlich zeigen, welches Stück- und Flickwerk auf dem Gebiet der Arbeiterschutzgesetzgebung von Anfang an geleistet worden ist. Die Unübersichtlichkeit der Gewerbeordnung, die ohnehin schon Dank der Paragrafen a, d, c, d usf. groß genug ist, wird durch die neuesten Flicken beträchtlich vermehrt. Sie bescheren uns glücklich unter Anderem die §§ 139 cc, 139 hh, 139 hhh. etc.! Dem Richter, dem Gewerbegerichtsbeisitzer kostet es Mühe, sich durch dieses Gestrüpp von Ziffern, Paragrafen und Buchstaben hindurch zu finden. Die meisten Arbeiterinnen, die ihr Recht kennen lernen wollen, werden sich beim Anblick dieses Labyrinths von Haupt- und Unterbestimmungen fassungslos an den Kopf greifen. Die Unübersichtlichkeit der Vorschriften über den Arbeiterschutz schlägt für sie in Tausenden von Fällen zur Recht-und Schutzlosigkeit um. Es wäre eine sehr nützliche und verdienstvolle Aufgabe, die in dieser Beziehung vorliegenden Begehungs- und Unterlassungssünden der Gesetzgeber weit zu machen durch eine Broschüre, die in leicht fasslicher Sprache eine klare, übersichtliche Zusammenstellung all der Vorschriften der Gewerbeordnung gibt, die sich auf den Schutz der Arbeiterinnen beziehen.
Nun zu den wichtigsten Bestimmungen der Novelle, welche die Interessen der lohnarbeitenden Frauenwelt betreffen. Sie beziehen sich auf die Stellen- und Dienstvermittlung, die Einführung der Lohnbücher und Arbeitszettel und die Regelung der Arbeitszeit im Handelsgewerbe.
Über die dringende Reformbedürftigkeit des Stellen- und Dienstvermittlungswesens ist kaum ein Wort zu verlieren. Das einschlägige Gebiet ist ein wahres Dorado der wucherischsten Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Zieht der kapitalistische Unternehmer seinen Profit aus der Arbeit der Proletarier, so der Stellen- und Dienstvermittler aus ihrer Arbeitslosigkeit, ihrem Hunger. Je bitterer und dringender die Sorge um das Stück Brot ist, das mit der Beschäftigung gesucht wird, um so mehr steigt für Agenten und Agentinnen die Möglichkeit, die Kunden auszubeuten. Die Profitgier gewissenloser Stellen- und Dienstvermittler begnügt sich nicht immer mit wucherischen Nachweisgebühren. Es kommt vor, dass Stellenvermittler für Kellnerinnen in Verbindung mit Wirten stehen und diese zu einem sehr häufigen Wechsel ihres weiblichen Personals bestimmen – bei dem die Wirte ihre Rechnung finden, wenn „fescher Ersatz geliefert“ wird – so dass die unglücklichen Mädchen entsprechend oft dem Agenten ihren Tribut entrichten müssen. Nachgewiesenermaßen fungieren manche Inhaber und Inhaberinnen von Dienstnachweisbüros in großen Städten geradezu als Lieferanten und Zutreiberinnen für Bordelle. Sie locken unter Vorspiegelung guter Plätze junge, unerfahrene Mädchen vom Lande in die Stadt, beherbergen sie, berechnen hohe Spesen für Wohnung und Verköstigung und treiben schließlich die Verschuldeten der Prostitution in die Arme. In allen Fällen, auch wenn das Gewerbe der Arbeits- und Dienstvermittlung ohne derartige verbrecherische Auswüchse betrieben wird, ist die Beschäftigung suchende in der Regel noch mehr als ihr Schicksalsgenosse der Ausbeutung durch die Vermittler preisgegeben. In Folge ihrer Unkenntnis der Rechtsbestimmungen, mangelnder Übersicht über den Arbeitsmarkt, oft auch über die lokalen Verhältnisse, in Folge mangelnden Zusammenhalts mit den Arbeits- und Dienstgenossinnen, Entblößung von Mitteln, Schüchternheit, kurz in Folge ihrer sozialen Schwäche als Frau ist gerade sie sehr oft gezwungen, von ihrer Armut die höchsten Prozente für den Nachweis einer Beschäftigung zu zahlen. Für das weibliche Proletariat ist mithin eine Reform des Arbeits- und Dienstvermittlungswesens von ganz hervorragender Bedeutung. Sind nun die neuen gesetzlichen Bestimmungen geeignet, ihre diesbezüglichen Interessen zu wahren?
Die Novelle setzt in der Hauptsache das Folgende fest. Die Arbeits- und Dienstvermittlung wird wie das Gewerbe des Pfandverleihers der Konzessionspflicht unterworfen. Vermittler und Vermieter sind verpflichtet, feste Taxen für ihre Dienste aufzustellen, sie den Ortsbehörden einzureichen und in ihren Lokalen auszuhängen. Die Zentralbehörden sind befugt, besondere Bestimmungen zu treffen über den Geschäftsbetrieb, den Umfang und die Verpflichtungen der Vermittler, unter Anderem haben sie auch das Recht, die Ausübung des Vermittlungsgewerbes im Herumziehen zu verbieten. Wir stehen nicht an, anzuerkennen, dass diese Vorschriften den gröbsten Auswüchsen auf dem Gebiet der Arbeits- und Dienstvermittlung entgegenwirken können, dass sie manchen Missstand mildern werden. Jedoch eine gründliche Besserung der einschlägigen Verhältnisse, einen genügend wirksamen Schutz der Beschäftigung suchenden Proletarierinnen kann man von den festgelegten Maßregeln nicht erwarten.
Dadurch, dass die Stellen- und Dienstvermittler konzessionspflichtig gemacht werden, dass ihnen die Behörden unter Umständen die Konzession entziehen können: wird gewiss die und jene anrüchige Person aus dem Gewerbe ausgemerzt, wird gewiss manchen Kniffen und Pfiffen gemeinster Seelenverkäuferei vorgebeugt, welcher der Arbeitsnachweis nur als Deckmantel dient. Aber nicht einmal mit den gemeingefährlichsten Übeln der Dienst- und Stellenvermittlung vermag die Bestimmung gründlich aufzuräumen. Die Nürnberger hängen bekanntlich keinen, sie hätten ihn denn. Je einträglicher gerade die Praktiken sind, bei dem der Auch-Arbeitsvermittler das Zuchthaus mit dem Ärmel streift und die Konzession riskiert, mit um so raffinierterem Scharfsinn wird er Schliche austüfteln, die ihm ermöglichen, auch die größten Schurkereien mit dem Scheine einwandfreier Geschäftsgebarung zu verhüllen. Dem schweren Missstand der wucherisch hohen Nachweisgebühren wird durch die Konzessionspflicht so gut wie gar nicht gesteuert. Wenn auch dem einen oder anderen besonders bösartigen Ausbeuter das Handwerk gelegt wird, so kann doch dafür unter Umständen die Konzessionierung gerade auf eine Steigerung der Vermittlungsprozente hinwirken. Indem die Konzessionspflicht die Zahl der Arbeits- und Stellenvermittler beschränkt und dadurch die Konkurrenz unter ihnen vermindert, werden die Beschäftigung suchenden um so mehr auf die konzessionierten Büros angewiesen, deren Inhaber die Gebühren der größeren Nachfrage nach Vermittlung entsprechend zu steigern vermögen.
Nun enthält die Novelle allerdings Bestimmungen, welche sich gegen die hohen Provisionsgebühren wenden. Vermieter und Vermittler sind verpflichtet, ihre Taxen der Ortsbehörde einzureichen und in ihren Lokalen auszuhängen. Dadurch sollen wucherisch hohe Gebühren und die Unkenntnis oder Täuschung über ihre Höhe verhindert werden. Die Erfahrung hat gelehrt, dass gegen die Auspowerung Beschäftigungs- und Brotloser durch die private Arbeitsvermittlung kein Kraut gewachsen ist. In der Tat: mögen die Ortsbehörden zehnmal Vermittlungsgebühren in billiger Höhe festsetzen, was denn vermag Vermittler zu hindern, die bessere Beschäftigung, die schleunigere Versorgung solchen Unterhalt Suchenden zuzuweisen, die über die offizielle Taxe hinaus dem „einsichtsvollen Manne“, der „gefälligen Frau“ ein Geschenk einhändigen? Die „freiwillige Gabe persönlicher Dankbarkeit“ kann stehende Geschäftsgepflogenheit werden, der – die nötige Schlauheit der Empfänger vorausgesetzt, an der es sicher bei gutem Willen nicht fehlt – keine Behörde beikommen kann. Schon deswegen nicht, weil nur in den seltensten Fällen die zu „Gebern“ und „Geberinnen“ gepressten Armen und Ärmsten Klage führen werden. Der reformierende Wert des Aushangs der Taxen ist unsere Erachtens gering. Und zwar sogar in dem sicher nicht immer zutreffenden Falle, der Gebührentarif sei so auffällig angeschlagen, dass jede Arbeitsuchende ihn bequem sehen kann. Man bedenke den Gemütszustand einer Proletarierin, die vielleicht schon tagelang, wochenlang von Werkstatt zu Werkstatt, von Haus zu Haus um Beschäftigung angeklopft hat! Zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, von der Not gestachelt, vielleicht vom Hunger gequält, wird sie nur zu oft das vorgeschriebene Plakat übersehen, auf alle Fälle wenig beachten. Das Elend macht die besten Absichten der Gesetzgeber und die strengste Kontrolle der Behörden zunichte.
Die Novelle verleiht den Zentralbehörden die Befugnis, besondere Bestimmungen zu treffen über den Geschäftsbetrieb, den Umfang und die Verpflichtungen der Stellenvermittler, unter Anderem haben sie auch das Recht, das Betreiben des Gewerbes im Herumziehen zu verbieten. Wir sind überzeugt, dass der letzte Passus des Absatzes Arbeitsuchenden mehr schaden wird, als die ihm voranstehenden Vorschriften ihnen nützen können. Der Passus ist im letzten Grunde nichts als ein „kleines Mittel“ zu Gunsten der notleidenden Agrarier, als eine Attacke auf Schleichwegen gegen die ihnen so verhasste Freizügigkeit. Das behördliche Verbot der im Herumziehen betriebenen Stellenvermittlung wird es häufig ländlichen Proletariern und Proletarierinnen erschweren, ja unmöglich machen, auswärts lohnendere Beschäftigung unter menschenwürdigeren Bedingungen zu suchen, als ihnen daheim unter den Segnungen des patriarchalischen Regiments der junkerlichen Stallpeitsche beschert wird. Dass die Verhängung des Verbots von dem Ermessen der Zentralbehörden abhängig ist, erscheint uns durchaus nicht als eine Bürgschaft gegen missbräuchliche Anwendung. Den Zentralbehörden wird über die einschlägigen Verhältnisse von Lokalbehörden berichtet, die sich nur zu oft aus den Kreisen der Großgrundbesitzer rekrutieren. Und die Träger der Zentralgewalt selbst, die häufig genug mit den Herren versippt und befreundet sind, besitzen fast ausnahmslos ein verständnisinniges Herz für die Bedürfnisse der Strohdach flickenden Itzenplitze und Kökeritze.
Man gebe sich nicht der überschwänglichen Hoffnung hin, als ob das Verbot junge unerfahrene Mädchen auf dem Lande vor dem entsetzlichen Schicksal schütze, von verbrecherischen Schurken unter glänzenden Vorspiegelungen in die Stadt gelockt und als „frische Ware“ in die Freudenhäuser des In- und Auslandes verschachert zu werden. Gegen die hoffnungsselige Leichtgläubigkeit eines jungen, heißen, Freude verlangenden armen Blutes vermag auch die strengste Verpönung der ambulanten Stellenvermittlung nichts, ihr wird nur durch bessere Verhältnisse in der Heimat entgegengewirkt. So wird die betreffende Maßregel sicherlich weit weniger leichtgläubige oder auch leichtfertige Mädchen von der Schmach und dem Elend des Verkuppeltwerdens bewahren, als vielmehr strebsame, lernbegierige Dorfkinder an einem besseren Fortkommen hindern; sie wird weniger ein Damm sein gegen die gefährliche Tätigkeit des Mädchenhändlers, als vielmehr eine Schutzwehr wider die bejammerte „Leutenot“ des Krautjunkertums.
Dazu noch Eins. Die Bestimmungen der Novelle über die gewerbsmäßige Stellenvermittlung und Auskunftserteilung verleihen den Polizeibehörden neue, ansehnliche Machtbefugnisse, die sich bei wenig Verstand und desto mehr gutem Willen auch gegen die gewerkschaftlichen Arbeitsnachweise und vor Allem gegen die Arbeitersekretariate kehren können. Zwar erklärte der Staatssekretär von Posadowsky, dass diese Institutionen der Arbeiterklasse nicht unter das Gesetz fielen, weil ihre Tätigkeit eine gemeinnützige und keine gewerbsmäßige ist. Der Reichstag unterließ es in der Folge, der sozialdemokratischen Forderung entsprechend Arbeitersekretariate und gewerkschaftliche Arbeitsnachweise ausdrücklich gegen eine missbräuchliche Anwendung der gesetzlichen Vorschriften sicher zu stellen. Die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen bringen jedoch den Versicherungen des Sprechministers für Sozialreform weniger Glaubensfreudigkeit entgegen, als die bürgerlichen Abgeordneten. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass die im Kapitalistenstaat herrschenden Gewalten nicht einmal davor zurückschrecken, zu Ungunsten der Arbeiterklasse auch an einem Kaiserwort zu drehen und zu deuteln. Sie wissen, dass in den Zeitläuften des Zickzackkurses auch Staatssekretäre des Innern keine dauernde Einrichtung sind, sondern, ach so bald! vom Lucanus geholt werden können. Sie wissen vor Allem, dass die jeweiligen offiziellen Auffassungen und Erklärungen durchaus nicht zum eisernen Bestand einer Regierung gehören, und dass es unter Umständen Amtspflicht eines „Staatsmannes“ sein kann – dafern Gott ihm weiter zum Ministerportefeuille helfen soll – dazustehen und auch anders zu können. Und es hieße wirklich Pfarrer Knittel zu Herrn Gröber tragen, wollte man noch Beispiele dafür beanspruchen, dass deutsche Juristen gegen das deutsche Proletariat mit den sinnigsten und minnigsten Kunststückchen halsbrecherischen Auslegungen aber auch alles beweisen können. Die Arbeiter und Arbeiterinnen werden deshalb mit dem gebührenden Misstrauen gegen die ministerielle Erklärung über das Recht ihrer Arbeitersekretariate und Arbeitsnachweise wachen.
Was die neueste Novelle der Gewerbeordnung den Heimarbeiterinnen bringt – besonders den Konfektions- und Wäschearbeiterinnen – das werden wir in einem folgenden Artikel zeigen.
Die Bestimmungen zur Reform des Arbeits- und Dienstvermittlungswesens dürfen jedenfalls keine große, grundlegende Bedeutung beanspruchen. Sie verquicken etliche kleine Vorteile mit einem großen Nachteile und erwecken schwere Bedenken betreffs der Sicherheit der gewerkschaftlichen Arbeitsnachweise und Arbeitersekretariate. Dagegen müssen sie sich als ohnmächtig erweisen, eine tatsächliche Sanierung der einschlägigen Verhältnisse herbeizuführen.
Gründlicher Wandel kann nur durch eins geschaffen werden: durch das gesetzliche Verbot aller privaten gewerbsmäßigen Arbeits- und Dienstvermittlungen und den unentgeltlichen Arbeitsnachweis seitens der Gewerkschaften oder kommunalen Arbeitsämter, denen die Mitarbeit der Gewerkschaften im weitesten Umfange gesichert ist, und die dem Einfluss der Arbeitgeber entzogen sind, so dass sie nicht von diesen als Kampfesmittel gegen das Proletariat missbraucht werden können. Nur dann, wenn sich der Arbeitsnachweis in den Händen der Arbeiterklasse selbst befindet, die durch die Gewerkschaften oder durch die Gemeinde vertreten wird, verwandelt er sich aus einem Mittel zur Unterdrückung und Ausbeutung der Beschäftigung suchenden in ein Mittel zu ihrer Hilfe und Unterstützung. Wirksamer als durch die Reform der Gewerbeordnung werden Arbeiterinnen und Dienstmädchen als Arbeitslose, Brotlose durch die aufklärende, stützende Aktion der Gewerkschaften und ihrer Einrichtungen gegen die Auswucherung ihrer Hilflosigkeit durch prozenthungrige Stellenvermittler und -unternehmer geschützt. Die Förderung der gewerkschaftlichen Arbeiterinnenorganisation und die Sicherstellung des Vereins- und Versammlungsrechts, der Koalitionsfreiheit für alle Lohnarbeitenden, das sogenannte Gesinde inbegriffen, steuern dem Unwesen auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung gründlicher, als alle unzulänglichen gesetzlichen Vorschriften und polizeilichen Machtbefugnisse. Von sozialpolitischen Quacksalbern aus Beruf oder Neigung wird den Arbeiterinnen angesonnen, ob der kritisierten Reförmchen unter Freudenzähren Lobeshymnen auf die regierenden und herrschenden „Förderer“ der Sozialreform anzustimmen. Statt sich der Narretei von Dankespsalmen schuldig zu machen, erheben die Arbeiterinnen die Forderung: Her mit dem Koalitionsrecht für alle Lohnarbeitenden!, geben sie die Losung aus: Hinein in die Gewerkschaft!
II.
Die Bestimmungen der neuesten Novelle zur Gewerbeordnung, welche sich auf die Hausindustrie beziehen, sind Ausläufer der Reformbewegung, welche durch den großen Streik der Konfektionsarbeiterschaft im Februar 1896 ausgelöst wurde und ihre Wellen bis in die bürgerlichen und regierenden Kreise hineinwarf. Wer erinnert sich nicht des tränenseligen Mitleids, des wortreichen Eifers, mit dem damals Träger und Trägerinnen aller sozialen Strömungen, Vertreter aller politischen Parteien und der Regierung ihre Willigkeit versicherten, dem schwarzen Elend der armen Heimarbeiterinnen schleunigst durch gesetzliche Schutzmaßregeln steuern zu wollen!
Eile der gesetzgebenden Gewalten im Kampfe gegen die gemeingefährlichen Missstände in der Hausindustrie hätte allerdings bitter notgetan. Bereits 1885 waren im Reichstag die himmelschreienden Übel in der Kleider- und Wäschekonfektion durch eine Eingabe der Berliner Mantelnäherinnen aufgezeigt worden. Die dadurch angeregte amtliche Enquete hatte grelles Licht auf die wucherische Ausbeutung der Konfektionsarbeiterinnen und ihre Lebenshaltung geworfen, die in ihrer Jämmerlichkeit nicht nur den bescheidensten Kulturansprüchen spottet, sondern obendrein Tausende von Unglückseligen in die Schmach der Prostitution hiuabstößt. Fast in jedem Jahre ist seither im Parlament die abgrundtiefe Not der Heimarbeiterschaft von den Arbeitervertretern geschildert, von bürgerlichen Abgeordneten und Regierungsmitgliedern anerkannt und bejammert worden. Die Literatur über die Hausindustrie und ihre Gräuel, die Mittel, diese wenigstens zu mildern, ist zu einem wahren Berge angeschwollen. Was haben die gesetzgebenden Gewalten angesichts der beredsamen Tatsachen im Laufe dieser Zeit, im Laufe von reichlich 15 Jahren – 15 Jahren herzzerreißenden Jammers und enttäuschter Hoffnungen für Scharen gequälter Männer, Frauen und Kinder! – zur Gesundung der Verhältnisse in der Hausindustrie getan, insbesondere auch zur Besserung der Arbeits- und Existenzbedingungen der Konfektionsarbeiterinnen, eine der breitesten und beklagenswertesten Schichten des deutschen Proletariats?
Sie dürfen sich der Verordnung vom 31. März 1897 rühmen, welche die Vorschriften der Gewerbeordnung, den gesetzlichen Schutz der weiblichen und jugendlichen Arbeitskräfte betreffend, von den fabrikmäßigen Betrieben auf die Engroswerkstätten der Kleider- und Wäschekonfektion ausgedehnt hat und nach dem Urteil unserer besten Fabrikinspektoren so gut wie wirkungslos geblieben ist. Sie begnaden die Heimarbeiterschaft in der jüngsten Novelle zur Gewerbeordnung vom 1. Oktober 1990 ab mit einigen dürftigen Bestimmungen wider das Trucksystem und die Lohndrückerei. Das ist blutwenig, und doch ist das alles.
Man vergleiche diese geradezu schmachvoll unzulänglichen Maßnahmen mit der Fülle der Geschenke, welche Regierung und Reichstagsmajorität in Gestalt von Liebesgaben, Schutzzöllen, Militär-und Marinelieferungen, Tat- und Unterlassungssünden zur Knebelung der Arbeitermassen im politischen und gewerkschaftlichen Kampfe etc. etc. den Fabrikbaronen, Krautjunkern und Börsenjobbern zugeschanzt haben! Man fülle der mehr als strafwürdigen Langsamkeit, mit welcher jene jämmerlichen Reformalmosen gewährt wurden, die fieberhafte Elle gegenüber, mit der die gesetzgebenden Gewalten den Wünschen der schreienden Agrarier und Großindustriellen gehorchen; die fieberhafte Eile, mit der Regierung und Parlament das Flottengesetz apportierten, kaum dass die Entdeckung von der bitter not tuenden Flotte der Welt verkündet worden! Man hat dann einen sinnenfälligen Beweis dafür, mit welcher Unfähigkeit, Widerwilligkeit und Niedertracht die Besitzenden und Herrschenden in Deutschland an die Lösung der dringlichsten sozialreformlerischen Zeitaufgaben herantreten. Wenn es nicht Leute gäbe, die von ihren Narrheiten absolut nicht zu heilen sind, weil sie von ihnen im letzten Grunde gar nicht geheilt sein wollen, so wären die vorstehenden trockenen Tatsachen trefflich geeignet, das Häufchen ehrlicher, aber kurzsichtiger Illusionäre gründlich zu belehren, die im Chor mit der sehr großen Zahl ganz gemeiner sozialpolitischer Gaukler die „Fortschritte der deutschen Sozialreform“ über den grünen Klee preisen. Das deutsche Proletariat wird jedenfalls nach den vorliegenden Proben „weiser und fürsorglicher Arbeiterfreundlichkeit“ weniger als je geneigt sein, sich mit der schön gleißenden, aber leeren Hoffnung auf die wunder wirkende Kraft der „steigenden Ethik“ innerhalb der bürgerlichen Welt abfüttern zu lassen.
Betrachten wir nun den armseligen Bettelpfennig eines Reförmchens, der den Heimarbeitern gnädigst gespendet worden ist.
Betreffs der Lohnbücher und Arbeitszettel stellt die Novelle Folgendes fest: „Für bestimmte Gewerbe kann der Bundesrat Lohnbücher oder Arbeitszettel vorschreiben. In diese sind von dem Arbeitgeber oder dem dazu Bevollmächtigten einzutragen: 1. Art und Umfang der übertragenen Arbeit, bei Akkordarbeit die Stückzahl! 2. die Lohnsätze; 3. die Bedingungen für die Lieferung von Werkzeugen und Stoffen zu den übertragenen Arbeiten. Der Bundesrat kann bestimmen, dass in die Lohnbücher oder Arbeitszettel auch die Bedingungen für die Gewährung von Kost und Wohnung einzutragen sind, sofern Kost oder Wohnung als Lohn oder Teil des Lohnes gewährt werden sollen.“ Die gesetzlich festgelegten Vorschriften gehen ein Weniges über den Regierungsentwurf hinaus, nach welchem dieselben bloß für die Wäsche- und Kleiderkonfektion gelten sollten, während sie nach der angenommenen Fassung nun auch auf andere Gewerbe ausgedehnt werden können.
Es wäre töricht, den Fortschritt zu verkennen, den die einschlägigen Vorschriften bringen, aber noch törichter würde es sein, zu übersehen, wie winzig dieser Fortschritt ist. Gewiss können es viele Zehntausende von Heimarbeiterinnen begrüßen, wenn durch die gesetzlichen Bestimmungen gröbere Klarheit in ihre Lohnverhältnisse gebracht und darauf hingewirkt wird, einem wucherischen Senken ihres kargen Verdienstes, einer Schmälerung desselben durch Druck, Aufrechnungen, Abzüge und allerhand Kniffe und Pfiffe bei der Abrechnung vorzubeugen, die ihrem Wesen nach sicherlich betrügerisch sind und der Form nach gerade noch am Betrug vorbeistreifen. Welche Qualen zerreißen nicht die Seele der Heimarbeiterin, welche heiße, verzehrende Bitterkeit, nur durch die Furcht vor dem „Hinausfliegen“, dem Hunger gebändigt, quillt nicht in ihrem Innern empor, wenn sie am Lohntag, oft nach Stunden ermüdenden Wartens, die Erfahrung macht, dass der erwartete Verdienst vom Arbeitgeber mit der Gier und Schlauheit eines mittelalterlichen Kippers und Wippers auf Grund des Trucksystems, unter Hinweis auf „falsch verstandene Abmachungen“, unter dem Vorwand mangelhafter Leistung etc. gekürzt wird. Hat die Arbeiterin doch der erhofften Höhe des Lohnes ihre Nachtruhe geopfert, ihren Bildungsdrang, den Atemzug in frischer Luft, die Ordnung im Haushalt, die Pflege der Kinder, man ist versucht zu sagen: ihre Seligkeit. Und hat sie doch Pfennig für Pfennig des erwarteten Verdienstes bereits für Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse in Anrechnung gebracht, so dass sie mit jedem gekürzten Groschen, jeder Mark weniger ein Stück Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen entschwinden sieht.
Da bedeutet es immerhin einen schätzenswerten Vorteil, wenn die Arbeiterin dank der neuesten Reform der Gewerbeordnung von vornherein im Klaren über die Lohnsätze, die möglichen Abzüge und Aufrechnungen, kurz über die tatsächliche Höhe ihres Verdienstes ist. Eine genaue Kenntnis des Wie viel oder richtiger Wie wenig ihrer Einnahme erspart schmerzliche Enttäuschungen, lässt kein hoffnungsfreudiges Rechnen mit unbekannten Größen zu und ermöglicht die peinlichste Einteilung der dürftigen Mittel. Sie verhindert überdies manche Lohnstreitigkeiten, bei denen die Proletarierin immer Zeit verliert – Zeit aber ist für die Heimarbeiterin mehr noch als für viele andere Leute Geld – und durchaus nicht immer ihr Recht erhält. Die Arbeitgeber sind findige Herren, die mit feinstem Geschick bei den hunderterlei Schlichen zur Lohnkürzung wohl den Geist des Gesetzes mit Füßen treten, aber den Buchstaben des Gesetzes respektiere, so dass ihre „Sparsamkeitspraktiken“ unfassbar sind.
Des Weiteren schieben auch die neuen Bestimmungen der und jener wucherischen Gepflogenheit einen Riegel vor, die bei Berechnung von Werkzeugen und Stoffen, bei Festsetzung der Löhne etc. im Schwange ist. Wenn die Arbeiterin noch vor Übernahme einer Arbeit die Ergebnisse solcher Gepflogenheit schwarz auf weiß vor sich sieht, wird sie sich eher gegen sie zur Wehre setzen und ihre Interessen verteidigen, als wenn sie ihr nachträglich in Gestalt schwer kontrollierbarer Abzüge zum Bewusstsein kommen. Im Falle von Streitigkeiten betreffs der einschlägigen Verhältnisse aber vermag sie ihr Recht besser zu wahren, wenn sie auf die Festsetzungen des Lohnbuchs oder Arbeitszettels verweisen kann.
Schließlich erhoffen wir von der Klarstellung der Lohnverhältnisse noch ein Anderes: dass die ziffernmäßige Feststellung der schmachvollen Niedrigkeit des Verdienstes, die nicht mehr durch allerhand Berechnungen nominell erhöht und hinweggetäuscht werden kann, ein Anreiz für die Heimarbeiterinnen ist, über ihre Ausbeutung nachzudenken, sich aufzuklären, zu organisiere und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Würden die Vorschriften über Lohnbücher und Arbeitszettel tatsächlich diese Wirkung zeitigen, so hielten wir dies im Interesse der Heimarbeiterinnen für einen größeren Gewinn, als alle übrigen etwaigen Vorteile.
Der Wert dessen, was die neueste Novelle der Gewerbeordnung unmittelbar zur Regelung der Lohnverhältnisse in der Hausindustrie festlegt, sinkt jedoch bedeutend, wenn man die folgenden Tatsachen bedenkt. Die vorgesehenen Maßnahmen gelten nicht für das gesamte Gebiet der Heimarbeit, vielmehr bloß für einzelne Gewerbe. Welche Gewerbe das aber sind, darüber entscheidet das Belieben des Bundesrats, der die Einführung von Lohnbüchern oder Arbeitszetteln verfügen oder auch nicht verfügen kann. So schrumpft die vielgerühmte Aktion der gesetzgebenden Gewalten zu Gunsten der gefühlvoll beweinten Heimarbeiterinnen zu einer armseligen Maßregel für einige Gewerbe zusammen, eine Maßregel, die obendrein noch von der Entscheidung des Bundesrats abhängt. Nun bekennen wir gewiss für diese „hohe Obrigkeit“ jenen Respekt, den das Gesetz uns aufnötigt. Aber wenn wir uns daran erinnern, welch ungemein freigebigen Gebrauch der Bundesrat von seiner Befugnis gemacht hat, um die Sonntagsruhe zu durchlöchern, um das Bisschen gesetzlichen Schutz für die jugendlichen und weiblichen Arbeiter in Zucker-, Konservenfabriken und Ziegeleien auf lange hinaus in einen tobten Buchstaben zu verwandeln; wenn wir andererseits eingedenk sind, wie zögernd, spät, sparsam und zum Teil ganz unzureichend er sein Recht ausgenutzt hat, um Maßregeln zu verfügen, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter der Pinsel- und Bürstenindustrie gegen das furchtbare Gift des Milzbrandes schützen; um in gesundheitsschädlichen Industrien und Betrieben den sanitären Maximalarbeitstag einzuführen etc.: dann wahrlich sehen wir mit dem größten und begründetsten Misstrauen dem entgegen, was das Belieben des Bundesrats den Heimarbeiterinnen bescheren wird. Wir fürchten, dass noch nach dem 1. Oktober dieses Jahres große Massen von ihnen sogar des dürftigen Schutzes entbehren müssen, den die Novelle vorsieht.
Dazu noch Eins: sollen die Bestimmungen über Lohnbücher und Arbeitszettel nicht lediglich eine papierne Existenz führen, so muss die Kontrolle über die Durchführung der Vorschriften eine sehr häufige und strenge sein. Das ist jedoch bei der jetzigen Organisation der Fabrikinspektion und dem kleinen Stabe der Aufsichtsbeamten so gut wie ausgeschlossen. Man vergegenwärtige sich, dass nach den Berichten der Gewerbeaufsicht allein in den drei Jahren 1894, 1895, 1896 unsere so mustergültig gesetzliebenden Unternehmer in 29.384 Fällen gegen die Gesetzesvorschriften zu Gunsten der Arbeiterinnen sündigten, gar in 61.562 Fällen gegen die Bestimmungen zum Schutze der jugendlichen Arbeiter, und dass die Inspektion durchaus nicht alle ihr unterstellten Betriebe erfasst hat, sondern 1896 z.B. nur 34,2 Prozent derselben. Es drängt sich dann mit geradezu überwältigender Wucht die Überzeugung auf, dass eine wahre Sintflut von Gesetzesübertretungen die Bestimmungen über Lohnbücher und Arbeitszettel in der Praxis so gründlich fortspülen wird, dass nur ganz winzige Wirkungen übrig bleiben. Einmal erschwert die große Zahl der in Betracht kommenden Betriebe eine häufige und wiederholte Inspektion. Dann aber sind die Heimarbeiterinnen durch Vereinzelung, krasse Not, rückständige Auffassung und geringe Beteiligung an der Gewerkschaftsorganisation dem Unternehmertum so wehrlos ausgeliefert, dass sie noch weniger als die Fabrikarbeiterinnen auf die Respektierung ihres Rechtes hoffen und sich diese Respektierung erzwingen können. Wer da weiß, wie raffiniert erfindungsreich und frech-kühn das Kapital wird, wenn es die Erhöhung seiner Profite auf Kosten der Ausgebeuteten gilt: der weiß auch, dass die Unternehmer die angezogenen beiden Umstände mit geriebenstem Schlausinn und rücksichtsloser Brutalität zu Gesetzwidrigkeiten ausnutzen werden. Wollten die Gesetzgeber mehr schaffen, als eine „Anstandspflicht“ und „sittliche Regel“ für die, welche bei ihrer Ausbeutung weder Anstand noch Sittlichkeit kennen, so mussten sie die Bestimmungen über Lohnbücher und Arbeitszettel durch eine Reorganisation der Fabrikinspektion sicher stellen, so mussten sie vor Allem folgende langjährige Forderungen der Arbeiterinnen erfüllen: Anstellung einer genügenden Zahl von Fabrikinspektorinnen und Assistentinnen aus den Kreisen der Arbeiterinnen, Beseitigung der Berlepscherei, welche regelmäßige und enge Beziehungen zwischen Gewerbeaufsicht und Arbeiterorganisationen hindert, Verpflichtung der Beamten, stete Fühlung mit den Gewerkschaften und den Vertrauenspersonen der Arbeiterinnen zu halten.
Die Logik der Tatsachen hätte der Reichstagsmajorität noch eine andere Gruppe von Ergänzungsmaßregeln zum Schutze der beschlossenen Reform aufnötigen müssen: gesetzliche Maßregeln zur Sicherung der Koalitionsfreiheit und des unbeschränkten Vereins- und Versammlungsrechts der Arbeiterinnen. Diese Maßregeln würden die beste und wirksamste Bürgschaft für gewissenhafte Durchführung der neuen und alten Schutzvorschriften gebracht haben: aufgeklärte, organisierte Arbeiterinnenmassen, die ihr Recht kennen und es durch die Macht der Gewerkschaft zu schirmen imstande sind.
Den hervorgehobenen beiden Unterlassungssünden der Gesetzgeber reihen sich noch zwei andere an. Die Reichstagsmajorität hat die sozialdemokratische Forderung verworfen, den Gesetzestext so zu formulieren, dass jeder Missbrauch der Lohnbücher und Arbeitszettel zur Kennzeichnung „aufsässiger“ Lohnsklaven schlechterdings unmöglich wäre. Sie hat es abgelehnt, den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend den Lohn der Arbeiterinnen als unpfändbare Forderung den Aufrechnungen für Kost und Logis zu entziehen. Dagegen führte sie für alle Minderjährigen obligatorische Lohnbücher ein, welche nach Eintragung des Verdienstes ihrer Inhaber deren Eltern zu übergeben und dann dem Arbeitgeber zurückzubringen sind. Diese Maßregel pfäffischer Bevormundung soll die Autorität der Eltern und die Sittlichkeit der Jugend stärken, wird aber nur Arbeitgebern wie jungen Arbeitern und Arbeiterinnen Scherereien verursachen und in vielen Fällen Zwist in die Familien tragen.
Die Reichstagsmajorität hat sich geweigert, den Kampf gegen die schlimmsten Missstände in der Hausindustrie aufzunehmen. Katholische und nationalliberale Sozialreformler brachten in rührender Übereinstimmung mit Konservativen und freisinnigen Manchesterlingen die sozialdemokratischen Anträge zu Fall, welche auf einen wirksameren Schutz der verelendenden Heimarbeiterschaft abzweckten. Ja nicht einmal die recht bescheidenen Bestimmungen, welche die Regierung und etwas verbessert die Kommission beantragte, um der Mitgabe von Heimarbeit an weibliche und jugendliche Fabrikarbeiter entgegenzutreten, haben Gnade vor den Augen dieser „auch-arbeiterfreundlichen“ Majorität gefunden, und doch sollten diese Bestimmungen nur verhindern, dass die am Tage als Fabrikarbeiterinnen Ausgebeuteten noch des Nachts als Heimarbeiterinnen ausgewuchert und die Vorschriften über die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit Ersterer zum Unternehmerspott würden. In einem Nachspiel zur dritten Lesung der Novelle wurden die betreffenden Anträge kürzlich sogar in der schwächlichen Regierungsfassung verworfen. Das Mitgefühl der Herren Heyl & Co. mit den ausgepowerten Heimarbeiterinnen ist gewiss groß und aufrichtig, aber größer noch ist der Einfluss der „aufklärenden Agitation“ und der „persönlichen Bemühungen bei Parteiführern“ des Herrn Mannheimer und seiner Erwerbsgenossen. Das Gewissen der bürgerlichen Gesetzgeber ruht auf dem Ruhekissen der Posadowskyschen Verheißung aus, ein Spezialgesetz solle die ungesunden Verhältnisse in der Hausindustrie verbessern. Die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen würden in den Wind säen, wollten sie sich auf diese liebenswürdige Verheißung verlassen. Wenn die deutschen Proletarierinnen das Wenige, das ganz Unzureichende und obendrein nicht einmal Gesicherte überblicken, was die Herrschenden und Gewalthabenden im Laufe langer Jahre zum Schutze der Heimarbeiterinnen geschaffen haben, so steigt eine heiße Flutwelle der Empörung in ihnen empor. Vor ihrem Auge wälzt sich ein endloser Zug blasser, hohläugiger, verhungerter, freudloser, gedrückter Jammergestalten vorüber, ein endloser Zug, in dem Hunderttausende von unglückseligen Kleinen und notbelasteten Frauen daher schreiten. An ihr Ohr schlägt der Verzweiflungsschrei ganzer Generationen von Heimarbeitern, die im Elend versinken. Die Proletarierinnen zählen und wägen die Kräfte, die Träger und Förderer der Kultur sein könnten, sein möchten, und die rücksichtslos in der Hausindustrie zu Kulturdünger zerstampft werden, damit eine kleine Minderheit von Unternehmern, die äußerlich gewaschen und weltmännisch poliert, aber innerlich roh sind, Millionen einsäckelt. Und aus der heiligen Empörung über diese Gräuel wächst der feste Entschluss empor, die winzigen Vorteile, welche die neueste Reform der Gewerbeordnung den Arbeiterinnen bringt, durch politische Aufklärung und gewerkschaftliche Organisation sicher zu stellen, und den Schutz, den die gesetzgebenden Gewalten den Ärmsten der Armen versagt haben, durch den. politischen und gewerkschaftlichen Kampf zu erringen. Den Widerstand des Kapitals, den die „Ethik“ nicht biegt, den bricht Arbeitermacht.
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