[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 4, 22. Februar 1905, S. 19 f.]
In diesen Tagen ist der deutsche Reichstag drauf und dran, die Rute des Zollwuchers fertig zu binden, welche die Massen des werktätigen Volkes streichen wird, dass ihnen Hören und Sehen vergeht. Er berät über die Handelsverträge, welche die deutsche Regierung mit Russland, Österreich-Ungarn, der Schweiz, Belgien, Rumänien und Serbien vereinbart hat. Die ihm vorgelegten Tariffestsetzungen schlagen fast durchweg einem der wichtigsten Ziele ins Gesicht, die Handelsverträge von industriell entwickelten Staaten wie Deutschland verfolgen müssen. Sie erleichtern nicht die Einfuhr deutscher Industriewaren in die Vertragsländer, sie erweitern nicht den Markt, den diese dort suchen müssen, umgekehrt: sie werden eine Erschwerung und Einschränkung des deutschen Absatzes im Ausland herbeiführen.
Das scheint Wahnsinn, und ist es auch, angesichts der ausschlaggebenden Rolle, welche Industrie und Handel für die Existenz der breitesten Bevölkerungsschichten in Deutschland spielen. Nichtsdestoweniger wird es harte Wirklichkeit werden. Die unstillbare Raffgier der Junkersippe und der ihr wesensgleichen Industriefürsten hat es so gewollt, und ihrem Willen wird Regierung und die großen bürgerlichen Parteien Untertan. Nur um den Preis hoher Zölle auf viele industrielle Erzeugnisse waren vom Auslande die Wuchersätze auf landwirtschaftliche Produkte, vor allem auf Getreide, zu erlangen, welche den Säckel der agrarischen Nimmersatte füllen sollen. Warum aber die Eisen- und Textilgewaltigen zu dem Schacher Ja und Amen sagten, das ist weiter unten zu lesen.
Die räuberisch in die Höhe geschraubten landwirtschaftlichen Zölle, besonders diejenigen auf Brotgetreide, Vieh usw. bilden das Rückgrat der Tarifabmachungen, auf denen sich die Handelsverträge aufbauen. Diese Zölle sind ihrem Wesen nach eine schamlose Steuer auf den Hunger der kleinen Leute, denn sie belasten und verteuern künstlich die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse.
Der Zoll auf den Doppelzentner Roggen und Weizen wird von 3 Mark 50 Pfennig auf 5, bzw. 5 Mark 50 Pfennig hinaufgesetzt; der Hafer, der zur Fabrikation so vieler Suppeneinlagen dient, wird mit 5 Mark, um 2 Mark 20 Pfennig höher belastet als bisher. Der Mehlzoll soll von 7 Mark 30 Pfennig auf 10 und 20 Mark steigen; Teigwaren, wie Nudeln, Makkaroni usw., werden künftig einen um 2 Mark höheren Zollsatz zu tragen haben. Für frische Kartoffeln, die jetzt zollfrei eingehen, ist in der Zeit vom 15. Februar bis 31. Juli ein Zoll von 1 Mark vorgesehen, für Weiß- und Rotkohl wie Wirsing ein solcher von 2 Mark 50 Pfennig. Es ist eine hundert Mal erhärtete Tatsache, dass der Verbrauch von Brot, Mehl, Teigwaren usw. gerade in den Familien am stärksten ist, die nicht mit irdischen Gütern, aber meist mit vielen Kindern gesegnet sind. Auch die Arbeiterinnen verbrauchen mehr Brot als etwa die Dirnen, welche große Herren so oft zur „Pflege des Familienlebens“ aushalten. Die ausländische Kartoffel aber hat längst aufgehört, ein Luxusgericht für den Tisch der Reichen zu sein. Als Zugemüse wird sie in den letzten Frühlings- und ersten Sommermonaten auch in den bescheidenen Haushaltungen verbraucht, denn die alte heimische Erdfrucht ist dann ohne Geschmack und Nährwert, und andere Gemüse sind meist teuer.
Ganz bedeutend, zum Teil um das Drei- und Viersache, sollen die Zollsätze auf Vieh erhöht werden, auf 8 Mark pro Doppelzentner Lebendgewicht für Ochsen, Kühe, Jungvieh, Kälber und Schafe, während sie jetzt von 2 Mark bis 4 Mark 50 Pfennig betragen. Von 3 Mark 33 Pfennig auf 9 Mark steigt der Zollsatz für Schweine, deren Fleisch für die Ernährung der weniger Bemittelten besonders in Betracht kommt. Frisches und gekühltes Fleisch soll fortan einen Zoll von 27 statt von 15 bis 17 Mark tragen, frische und gesalzene Butter, ebenso wie Margarine einen solchen von 20 statt von 16 Mark. Das Anziehen der Preise auf Fleisch, Speck, Wurst usw., das die unvermeidliche Folge dieser Zollerhöhungen ist, muss Arbeiterfamilien und ledige Arbeiterinnen schwer treffen. Die weitaus meisten werden gezwungen sein, ihren Verbrauch einzuschränken, bei ihrer Ernährung zu knapsen und zu sparen, weniger Fleisch oder minderwertiges Fleisch auf den Tisch zu bringen, das Brot ohne Butter zu verzehren, ja sogar den Verbrauch von Margarine herabzusetzen. Und die deutschen Proletarier konsumieren nach dem gewiss unverdächtigen Zeugnis des gut bürgerlichen Dr. Goldstein schon jetzt im Jahresdurchschnitt pro Kopf 32,5 Kilogramm Fleisch zu wenig, nämlich nur 40 Kilogramm statt 72,5!
Und wie liegen die Dinge betreffs der Industriezölle? Diese werden insbesondere die Erzeugnisse der Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie stärker belasten, ebenso chemische Produkte, Leder-, Papier- und Textilwaren. Der Handelsvertrag mit Russland setzt zum Beispiel für Gusseisenfabrikate und bessere Stahlwaren fast durchgehend doppelt so hohe Zölle fest, als jetzt gelten. Eine noch größere Steigerung erfahren die Zölle auf Maschinen, elektrische Apparate und chemische Produkte, für die letzteren beträgt sie 75 bis 100 Prozent. Schwer wird die Einfuhr deutscher Holzwaren durch ein Hinaufschrauben der Zollsätze um 10 bis 25 Prozent getroffen, die des Wollgarns durch eine Steigerung um 10 bis 15 Prozent. Die neuen Tarifverträge mit Österreich-Ungarn lassen zwar die Zölle auf Roh- und Halbfabrikate der Eisenindustrie im großen Ganzen unberührt, jedoch erhöhen sie die Zölle auf Fertigprodukte, und zwar Einzelne davon um 20 bis 40 Prozent. Am härtesten belasten sie die chemische Industrie, jedoch wird auch manchen Textil-, Leder- und Papierwaren, die starken Absatz jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle hatten, ein hoher Zoll aufgebürdet. Der Schweiz hat die deutsche Regierung besonders beträchtliche Erhöhungen der Zölle auf Konfektionswaren und Maschinen, auf Hanf-, Flachs-, Baumwoll- und Jutegewebe zugestehen müssen.
Die deutsche Industrie setzte unter den geltenden Zollsätzen einen guten Teil Produkte in den genannten Staaten ab. Es liegt auf der Hand, dass ihr Markt daselbst sich verengen wird, wenn die neuen Tarife die Preise der Waren in die Höhe treiben. Ja mehr noch: die Schutzzölle werden manche industrielle Erzeugnisse Deutschlands für immer von ausländischen Märkten verdrängen helfen, indem sie die Entwicklung der Industrie in den betreffenden Staaten fördern. Ganz besonders kommen für Russland die hohen Industriezölle als Mittel in Betracht, dem jungen, aufstrebenden Kapitalismus die gefährliche deutsche Konkurrenz vom Leibe zu halten und ihn durch hohe Warenpreise zur Entfaltung der Kräfte des Wirtschaftslebens anzureizen.
Was bedeutet es aber, wenn der Absatz deutscher Industriewaren im Auslande stockt, zurückgeht, aufhört? Nicht mehr und nicht weniger, als dass Tausende, Zehntausende der Arbeitsgelegenheit, des Brotes verlustig gehen, dass andere Zehntausende sich mit geringerem, unregelmäßigem und unsicherem Verdienst begnügen müssen. Unter denen aber, die dieses furchtbare Los bedroht, befinden sich große Scharen von Arbeiterinnen, deren kärglicher und schwankender Lohn ohnehin schon gen Himmel schreit. Man erinnere sich, dass in der Konfektions- und Textilindustrie vor allem Frauen fronden und leiden, dass in der Papier-, Leder- und chemischen Industrie die weibliche Arbeit stark vertreten ist! Und wie die Arbeiterinnen, so werden durch das Schwinden oder die Verschlechterung der Arbeitsgelegenheit die Arbeiterfrauen in ihren Interessen schwer benachteiligt. Wie jene, so müssen auch sie mit winzigerem Gelde haushalten, wenn der Mann weniger heimbringt oder gar brotlos auf dem Pflaster liegt.
Verteuerung der wichtigsten Lebensbedingungen auf der einen Seite, Verschlechterung der Arbeitsgelegenheit und Sinken des Verdienstes auf der anderen, das sind die furchtbaren Plagen, welche der Zollwucher gegen das Proletariat entfesselt. In ihrem Gefolge wälzt sich eine schwellende Sorgenflut heran, schreitet Darben und Hungern, der erzwungene Verzicht auf die bescheidene Behaglichkeit im Heim, ja auf eine gesunde Wohnung, auf den Genuss der und jener Bildungsmöglichkeit. Mit der Verschlechterung der Lebenshaltung aber sinkt die Leistungsfähigkeit, leidet die Gesundheit, die Lebenskraft, treibt die bitterste Not nur zu oft dem Verbrechen, der Prostitution in die Arme.
Die Schlotjunker, welche mit den Krautjunkern zusammen unter dem Segen der Regierung und des frommen Zentrums den infamen Pack zur Auspowerung der Massen geschlossen haben, werden ihrerseits nicht unter den Folgen leiden. Die Verteuerung der Lebensmittel ficht Leute nicht an, deren Haushaltungskosten sich nach Tausenden, oft nach Zehntausenden beziffern. Und für den schwindenden Absatz ihrer Waren im Ausland werden die Herren dadurch entschädigt, dass die Wucherzölle sie von der Konkurrenz ausländischer Fabrikate befreien und ihnen damit die inländischen Verbraucher zum Weißbluten überliefern. Schließlich werden sie in echt patriotischer Gesinnung in noch größerem Maßstabe üben, was sie seither schon ausgiebig getan: mittels Filialen im Ausland über die Zollschranken hinwegsetzen. Es ist bezeichnend, dass die Erhöhungen der Zollsätze gerade für Industrien vorgesehen sind, welche in hoher Blüte stehen und deren Unternehmertum in Ringen und Trusts zur Ausplünderung der Konsumenten und Niederknüppelung der Arbeiter organisiert ist und über eine kolossale wirtschaftliche wie politische Macht verfügt.
Sowohl die industriellen wie die agrarischen Zollsätze der Handelsverträge tragen das Brandmal einer gemeingefährlichen Begünstigung der Großen zum Nachteil der Kleinen und Kleinsten. Trotzdem ist nicht zu zweifeln, dass der Reichstag sie gutheißen wird. Zwar haben am 16. Juni 1903 die drei Millionen sozialdemokratischer Stimmen ein klipp und klares Verdammungsurteil über den Zollwucher ausgesprochen. Allein dank der Wahlkreisgeometrie und der Jämmerlichkeit des bürgerlichen Liberalismus ist nichtsdestoweniger eine Majorität von Zollräubern in den Reichstag zurückgekehrt. Wäre es nach ihres Herzens Wünschen gegangen, die Handelsverträge würden im Nu im Parlament durchgepeischt worden sein, ohne ausgiebige Debatten, welche es der Sozialdemokratie erlauben, die Beutepolitik der agrarischen und industriellen Schnapphähne zu kennzeichnen und in ihrer tiefen Gemeinschädlichkeit den Massen zum Bewusstsein zu bringen.
Die Regierung, welche als die gehorsamste Dienerin der Kardorff & Co. amtiert, ist ihrer Sache in diesem Reichstag so sicher, dass ihre Bülow und Posadowsky nicht einmal den Schein einer ernsten Begründung der Wucherzölle für nötig erachteten. Das Gerede dieser Auchstaatsmänner erhob sich nicht über die hundertmal wiedergekäuten Gemeinplätze, welche irgendein Dutzendagitator vom Bunde der Landwirte in Posemuckel vorzutragen pflegt. Konservative und Zentrümler vermochten unter ihrem schwach bemäkelnden Seufzen, nicht mehr Beute für ihre Auftraggeber gesichert zu haben, kaum ihre Freude zu verbergen, so viel in die Scheunen der Zollräuber einzuheimsen. Die Nationalliberalen jauchzten begeisterte Zustimmung zu den Handelsverträgen, wie zu allem, was dem Volkswohl zuwiderläuft. Neben der Sozialdemokratie trat der Freisinn mit scharfer Kritik als Gegner der Zollerhöhungen auf den Plan. Er kann damit weder ungeschehen noch auch uns vergessen machen, dass er es gewesen ist, der durch seinen schändlichen Verrat seinerzeit den Zollräubern in den Sattel geholfen hat. Ebenso wenig kann er mit seiner Kritik an Einzelheiten des Zollwucherwerkes darüber hinwegtäuschen, dass ein Teil seiner Parteigänger für das ganze Schandwerk stimmen wird.
Im Parlament ist das Schicksal der Handelsverträge entschieden und damit der Sieg der Zollwucherer abgeschlossen. Außerhalb des Parlaments wird die Sozialdemokratie durch aufklärende Agitation dafür sorgen, dass eines der ungeheuerlichsten Verbrechen gegen die Wohlfahrt der Massen nicht ungesühnt bleibt. Der Zollwucher sät Drachenzähne von Leiden für die Werktätigen, und gerüstete Kämpfer und Kämpferinnen gegen die soziale und politische Ordnung des Zollwuchers, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen werden daraus erstehen. Der Zollwucher hat gesiegt, seine Ordnung aber wird unterliegen.
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