Clara Zetkin: Warum fordern die Proletarierinnen den Achtstundentag?

[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 9, 25. April 1900, S 66 f.]

Mit jeder Maifeier mehrt sich die Zahl der proletarischen Frauen und Mädchen, welche willensklar und willensstark der kapitalistischen Welt die Kampfesforderung entgegenrufen: Her mit dem Achtstundentag! Kein Wunder das. Die Forderung des Achtstundentags ist mehr wie jede andere Reformlosung dazu angetan, die proletarischen Frauen in Bewegung zu bringen, ihre Sympathie zu gewinnen, ihr Klassenbewusstsein zu wecken, sie als tapfere Mitstreiterinnen dem Kampfe ihrer Klasse für Menschenrecht gegen Kapitalgewalt zuzuführen. Denn so unabweisbar auch die Lage des gesamten Proletariats den Achtstundentag fordert – die große Stärkung für den Kampf um seine volle Befreiung – so hat doch keine Schichte der Ausgebeuteten und Beherrschten ein so unmittelbares, zwingendes Interesse an der geheischten Verkürzung der Arbeitszeit, als gerade die Proletarierinnen.

Die moderne Produktionsweise hat das frühere wirtschaftliche Tätigkeitsgebiet der Frau im Hause zerstört. Die Proletarierinnen hat sie damit nicht von Arbeitsmühen entlastet. Umgekehrt, sie hat ihnen neue, schwerere Plagen aufgebürdet. Die proletarische Frau ward in ungezählten Fällen zur Lohnsklavin, die in Werkstatt und Fabrik oder bei der traurigen Heimarbeit fremden Reichtum fronden muss. Gleichzeitig aber blieb sie die Haussklavin, der in der Familie und für die Familie eine Menge wirtschaftlicher Verpflichtungen obliegen, von ihren sittlichen Aufgaben daselbst zu schweigen. Die eigene Not wie die Profitgier des Unternehmertums duldet nicht, dass sie das Schaffen für den Broterwerb hintenan setzt. Die Pflichten gegen Mann und Kinder will sie nicht vernachlässigen. So läutet ihr die Fabrikglocke nicht zum Feierabend, sie ruft sie zu anderen Arbeitslasten, die sie nicht nach dem Beispiel der reichen „Mitschwestern“ auf bezahlte Mietpersonen abzuwälzen vermag. Ihr Arbeitstag hat keine Grenzen, er dehnt sich über den Abend bis tief in die Nacht hinein aus, oft, sehr oft reicht er bis zum dämmernden Morgen. Den zwiefachen Pflichten sucht sie zu genügen auf Kosten ihrer Nachtruhe, ihrer Gesundheit und Lebenskraft.

Der Schweizer Fabrikinspektor Dr. Schuler hat schon vor Jahren den ziffernmäßigen Nachweis erbracht, dass auf die Fabrikarbeiterinnen seines Landes mehr Fälle von Erkrankungen, eine größere Zahl von Krankentagen und eine höhere Sterblichkeit pro Jahrentfallen, als auf die Fabrikarbeiter. Auch in anderen Ländern, wo die Proletarierin im kapitalistischen Joch robottet, zeigt sich die nämliche Erscheinung. Das lehren die Berichte der Krankenkassen, das bestätigen die Beobachtungen der Ärzte und Hygieniker. Gewiss, die Tatsache erklärt sich zum Teil dadurch, dass der weibliche Organismus in höherem Grade als der Körper des Mannes für die schädigenden Einflüsse der heutigen, kapitalistisch ausgebeuteten Industriearbeit empfänglich ist. Aber zum anderen Teil wird sie dadurch bedingt, dass die Kräfte der Frau nach zwei Seiten hin in Anspruch genommen werden, dass die Berufsarbeiterin – auch die ledige – für häusliche Verrichtungen Stunden aufwenden muss, die der Mann der Erholung und Ruhe zu widmen vermag. Bei dieser Sachlage ist der Achtstundentag für die Proletarierin von besonderer Bedeutung. Er verkürzt beträchtlich die Zeit, während der sie bei ihrer Berufstätigkeit gesundheitsschädigenden Einflüssen ausgesetzt ist. Er gibt ihr die Möglichkeit, ihre Pflichten als Gattin und Mutter zu erfüllen, ohne dass sie mit übermenschlicher Willensenergie die letzten Fünkchen ihrer Kraft aus sich herauspressen muss. So bedeutet er für sie in noch höherem Maße als für den Mann eine Ersparnis an ihrem einzigen Kapital, der Gesundheit, der Lebenskraft. –

Mag heutigen Tages die dem Kapital zinsende Proletarierin auch ihre Kraft bis aufs Äußerste anspannen, mag sie Nachtruhe und Sonntagsrast dein Scheuern, Flicken, Waschen etc. opfern, um der Familie ein trauliches Heim zu bereiten, mag sie sich alle Mühe geben, um dem Manne eine verständnisvolle Gefährtin, den Kindern eine liebreiche, fürsorgliche Mutter zu sein: meist wird sie für die Familie nicht zu leisten vermögen, was sie für sie leisten sollte und von Herzen gern leisten möchte. Das Kapital gibt die Frau erst dann der Familie zurück, wenn es den größten Teil ihrer Zeit, den besten Teil ihrer Kraft aufgesaugt und in blinkenden Profit verwandelt hat. Die Folgen hiervon schreien zum Himmel in Gestalt der erschreckend hohen Sterblichkeit der Proletarierkinder zarten Alters, des Siechtums und der Schwächlichkeit des überlebenden Nachwuchses, der großen Zahl von Unglücksfällen unbeaufsichtigter Kleinen, der raschen Zunahme der jugendlichen Verbrecher.

Der Achtstundentag wirkt diesen furchtbaren Erscheinungen entgegen. Dadurch, dass er der Proletarierin etliche Stunden freier Zeit, größere körperliche und geistige Frische bringt, ermöglicht er ihr höhere Pflichtleistungen als Gattin und Mutter. Zugleich gibt er ihr ein Stück von den Freuden des Familienlebens zurück, die ihr das Kapital gegenwärtig fast vollständig raubt. –

Neue, schwerwiegende Aufgaben hat das moderne Wirtschaftsleben für die Proletarierin gezeitigt. Es hat sie hineingeschleudert in die wirtschaftlichen und politischen Kämpfe unserer Tage. Sie muss sich dem ausbeutenden Kapital gegenüber ihrer Haut wehren, ihre Lebensinteressen gegen seinen Werwolfsappetit nach Profit verteidigen. Das kann sie nur tun, wenn sie Teil nimmt an dem Ringen ihrer Klasse, wenn sie aufgeklärt, organisiert auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiet gegen das Ausbeutertum und gegen die Gesellschaft der Ausbeutung kämpft. Je rückständiger die Proletarierin betreffs ihrer sozialen Erkenntnis noch ist, um so dringender bedarf sie der Bildung; je schwächer die einzelne Arbeiterin sich gegenüber der kapitalistischen Übermacht erweist, um so dringender bedarf sie der Organisation, um aber die nötige Schulung und Macht zu gewinnen, um lernend und wirkend am Vereins- und Versammlungsleben teilzunehmen, dazu bedarf die Proletarierin eines Überschusses an Zeit, geistiger Frische und Willenskraft über das Maß dessen hinaus, was die alltäglichen Pflichtleistungen in Fabrik und Haus verzehren. Mehr noch als die rückständige Erkenntnis hält die Unsumme der auf ihr lastenden Arbeiten sie von den Organisationen und Versammlungen fern.

Der Achtstundentag schafft in dieser Hinsicht den nötigen Wandel. Er ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Einbeziehung der Arbeiterinnenmassen in die Gewerkschaften, für die politische Schulung des weiblichen Proletariats, für seinen Kampf um die politische Gleichberechtigung, für sein Ringen um die Befreiung der Arbeit. –

Die schrankenlose kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft zeitigt gerade für die Lohnsklavinnen die traurigsten Erwerbsverhältnisse Zehntausende und Zehntausende von Frauen sind in Industrien tätig, in denen die Saisonarbeit herrscht, sie leiden schwer unter dem Hin und Her zwischen den Zeiten toller Überarbeit und den Tagen teilweiser oder völliger Erwerbslosigkeit. Die Arbeiterinnen insgesamt werden durchgängig mit Hungerlöhnen abgespeist, welche zu einem sorgenvollen, entbehrungsreichen Leben verurteilen, welche Hunderte und Tausende zwingen, in dem Laster zeitweilig oder ständig einen Nebenerwerb zu suchen.

Der Achtstundentag bringt größere Regelmäßigkeit und Stetigkeit in die Produktion; er mildert etwas den Gegensatz zwischen Überarbeit und Flaue mit seinen verderblichen Folgen in materieller, gesundheitlicher und sittlicher Hinsicht. Der Achtstundentag führt zu einem Steigen der Löhne. Die Theorie lehrt und die Praxis bestätigt, dass überall niedriger Lohn Hand in Hand geht mit unbegrenzt langer Arbeitszeit: dass ein kurzer und geregelter Arbeitstag von höherer Entlohnung begleitet wird. Die Arbeiterinnen, welche im Interesse ihrer Gesundheit, ihrer Sittlichkeit und einer kulturwürdigen Existenz besonders dringend einer Aufbesserung ihres Einkommens bedürfen, fordern den Achtstundentag als Ausgangspunkt für einen stetigeren und ausreichenderen Broterwerb. –

Gewiss, nicht alle proletarischen Frauen sind als Hörige des Kapitals an den Vorteilen des Achtstundentags unmittelbar interessiert. Aber bei der Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung ist keine Proletarierin sicher, dass sie nicht von heut auf morgen mit ihrem Tun aus der Familie in die Fabrik gedrängt, aus einer Hausfrau zur ausgebeuteten Berufsarbeiterin wird. Und wer ist der Vater, wer ist der Gatte, wer sind die Schwestern und Brüder und Kinder der Proletarierin, die jetzt noch am häuslichen Herde schaltet und waltet? Fast ausnahmslos Lohnsklaven und Lohnsklavinnen, denen die Segnungen des Achtstundentags zu Gute kommen, Segnungen, an denen auch die nicht kapitalistisch ausgebeutete Proletarierin teilnimmt.

Unmittelbar oder mittelbar fordern deshalb die Lebensinteressen der gesamten proletarischen Frauenwelt den Achtstundentag für alle Lohnarbeitenden. Die Bundesregierungen haben bekanntlich laut Beschluss des Reichstags die Fabrikinspektoren angewiesen, 1899 dem Umfang und den schädlichen Folgen der Fabrikarbeit verheirateter Frauen ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, auch auf die Mittel hinzuweisen, durch welche diesen schädlichen Folgen entgegen zu wirken sei. Die proletarischen Frauen, soweit sie zum Klassenbewusstsein erwacht sind, nennen den Herrschenden das beste, das heilkräftigste Mittel: den Achtstundentag. Begeistert stimmen sie ein in die Forderung, die am 1. Mai von ungezählten Scharen Ausgebeuteter in allen Kulturländern erhoben wird:

Heraus mit dem Achtstundentag!


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