[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 3, 31. Januar 1900, S 17 f.]
„Eine vorübergehende Erscheinung, die sich austoben muss“, so hat der Kaiser die Sozialdemokratie kürzlich genannt. Die Sozialdemokratie hat diesen Ausspruch mit der kühlen Aufmerksamkeit verzeichnet, die gegenüber Stimmungen und Urteilen von maßgebender Stelle in unseren Tagen geboten ist, wo der Zickzackkurs gesteuert wird, und des Königs Wille als oberstes Gesetz gilt. Die bürgerlich-liberale Presse jeder Schattierung hat sich dagegen der Äußerung mit einem kindischen Eifer bemächtigt, der ebenso sehr in widerlichem Byzantinismus nach oben, als schlotternder Furcht vor unten wurzelt. Das liberale Zeitungsgeschwister gebärdet sich verzückt nicht anders, als ob mit der rein persönlichen Wertung der Sozialdemokratie durch den Kaiser schon das unwiderrufliche geschichtliche Todesurteil über die Partei des proletarischen Klassenkampfes gesprochen und der kapitalistischen Gesellschaft mitsamt dem altersschwachen Liberalismus das ewige Leben verbürgt wäre. Was soll’s mit dem Getute?
Dass geschichtlich genommen die Sozialdemokratie eine vorübergehende Erscheinung ist, diese Auffassung entspricht nur der Binsenwahrheit, die schon der selige weise Salomo verkündigte, der erklärte: Alles hat seine Zeit, Lieben und Hassen, Steineauflesen und Steinezerstreuen. Die Geschichte ist das verwirrend reiche, vielgestaltige, oft dunkle und kaum entzifferbare Bild von Einrichtungen, Bewegungen, Ideen, die im steten Fluss des Vergehens und Werdens empor sprossen, sich entfalten und absterben. Wie die Parteien, so sind auch die Dynastien und das monarchische Prinzip vorübergehende Erscheinungen, die in einem Falle welken, dürren Blättern gleich langsam und lautlos vom Baume der geschichtlichen Entwicklung zu Boden gleiten, die in einem anderen Falle vom tobenden Sturme abgerissen und in rasendem Wirbel davongejagt werden. Es ist erklärlich, dass sich gerade jetzt das Bewusstsein von der Vergänglichkeit der geschichtlichen Erscheinungen besonders fühlbar aufdrängt. Wir leben in den Zeitläuften der politischen Plötzlichkeiten, wo der Lucanus über Nacht Minister holt und bringt, wo die Rezepte der Regiererei von Tag zu Tag wechseln, wo der Reichskarren heute hott und morgen hü dahin holpert Die Sozialdemokratie hat jedoch wirklich keine, aber auch gar keine Ursache, über ihre geschichtliche Vergänglichkeit und Bedingtheit betrübt zu sein. Sich nicht als vorübergehende, sondern als ewige Erscheinung zu begreifen, hieße für sie nichts anderes, als an ihrem Siege, an der Verwirklichung ihres Endziels verzweifeln.
Die bürgerliche Presse fällt denn auch dem gröbsten Selbstbetrug zum Opfer, wenn sie aus dem geschichtlichen Vorübergehen der Sozialdemokratie die tröstliche Hoffnung schöpft, die bürgerliche Gesellschaft könne je mit dieser fertig werden. Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Die Sozialdemokratie wird erst in dem Augenblick zur vorübergegangenen Erscheinung, wo sie mit der kapitalistischen Ordnung fertig geworden ist. Sie kann und wird nur zusammen mit den gesellschaftlichen Bedingungen verschwinden, aus denen sie hervorgegangen ist, aus denen sie ihre Existenzberechtigung und Existenznotwendigkeit zieht. Sie wird deshalb erst gewesen sein, wenn die kapitalistische Ordnung mit ihrer Ausbeutung und Versklavung des Menschen durch den Menschen gewesen ist. So lange diese Ordnung besteht, in welcher das Privateigentum an den kapitalistischen Produktionsmitteln die Klassenspaltung in Ausbeuter und Ausgebeutete bedingt, die Klassenherrschaft der Kapitalisten über die Proletarier; so lange in Folge dieser Ordnung die kapitalistische Warenerzeugung zum Zwecke des Profils herrscht und die zügellose Konkurrenz Aller gegen Alle: so lange muss auch die Sozialdemokratie sein, kämpfen und um den Sieg ringen, denn sie ist der Willensausdruck der Ausgebeuteten und Beherrschten, die nur durch eine grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Befreiung erringen können. Zur vorübergegangenen Erscheinung kann die Sozialdemokratie deshalb einzig und allein in dem weltgeschichtlichen Augenblick werden, wo sie durch den Sturz der politischen Klassenherrschaft der Kapitalisten die Möglichkeit für die freie, ungehinderte Entwicklung der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und die Emanzipation des Proletariats schafft.
Im Kampfe gegen die Sozialdemokratie muss in der Folge das Zuckerbrot und die Peitsche mit der gleichen unvermeidlichen Sicherheit versagen. Mit heiterer Gelassenheit können wir uns daher an dem hoffnungstollen Gezwitscher bürgerlicher Blätter ergötzen, welche davon fabuliere, dass die neueste Äußerung des Kaisers über die „Rotte von Menschen, nicht Wert, den Namen Deutsche zu tragen“, einen sozialreformlerischm Frühling herauf zaubern werde, vor dessen lindem Säuseln die revolutionäre Sozialdemokratie zu Gunsten einer frumben [frommen] Nur-Reformpartei abdanken müsse. Das Ende der Sozialdemokratie kann nur ihr Sieg sein. „’s ist der Geschichte ehr’nes Muss, Es ist kein Rühmen, ist kein Droh’n.“ Dieses wird Jenes überdauern und überwinden. Die als vorübergehende Erscheinung dem Tode zugesprochene Sozialdemokratie überwindet geschichtliche Erscheinungen, die von mancher Seite für ewig dauernd gehalten weiden: Fürstengeschlechter, Monarchien und andere gesellschaftliche Institutionen, „was sie auch seien, und wie sie auch heißen“.
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