[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 12, 14. Juni 1905, S. 67 f.]
Die 213 Vertreter der Gewerkschaften, welche in Köln tagten, haben eine reiche Fülle von Arbeit erledigt, welche im Allgemeinen sicher die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung fördern wird. Trotzdem zählt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung die Kölner Woche zu jenen Tagungen, die kaum je ungeteilte Anerkennung finden dürften. Nicht gleich befriedigend wie das, was der Kongress auf dem Gebiet spezifisch gewerkschaftlicher Fragen geleistet hat, dünkt uns, wie sehr vielen, sein Ergebnis hinsichtlich von Problemen, die über das unmittelbare Aktionsfeld der Organisationen hinausreichen und der allgemeinen Arbeiterbewegung Aufgaben stellen.
Die Verhandlungen und Beschlüsse zu den verschiedenartigen Angelegenheiten rein gewerkschaftlicher Natur, die den Kongress beschäftigten, spiegeln die kraftvolle äußere Entwicklung und die wachsende Klarheit und Reife wieder, mit der sich diese den Ausbau der Organisation angelegen sein lassen, die Erfolge ihrer Betätigung zu sichern streben.
Die unvermeidlichen Grenzstreitigkeiten zwischen Gewerkschaften klangen trotz manchem scharfen Worte von hüben und drüben in einer Beschlussfassung aus, die eine ersprießliche Regelung der Materie in die Wege leitet. Mit der Festlegung von Richtlinien für die Streikunterstützung hat der Kongress ein ebenso nützliches als nötiges Werk getan. Die Schaffung eines allgemeinen Streikfonds lehnte er ab und forderte dafür, dass die Gewerkschaften das eigene Leistungsvermögen durch angemessene Beiträge steigern. Finanzielle Hilfe der gesamten organisierten Arbeiter soll nur ausnahmsweise bei großen Kämpfen gewährt werden. Die Generalkommission ist unter Zustimmung der Gewerkschaftsvorstände in solchen Fällen zur Vornahme einer allgemeinen Sammlung ermächtigt, hat das Mitbestimmungsrecht in der Leitung und allen taktischen Maßnahmen der Bewegungen und entscheidet über die Verteilung der gesammelten Gelder. Bei der Erörterung der Frage wurde die Leitung im letzten großen Bergarbeiterausstand und die Taktik der übertriebenen Neutralität scharf kritisiert. Unseres Erachtens gelang es ihren Verteidigern nicht, die erhobenen Vorwürfe zu entkräften.
Der treffliche Bericht Robert Schmidts über das Zentral-Arbeitersekretariat ist geeignet, den Blick der Arbeitermassen für die schweren Mängel der Sozialgesetzgebung und die Dringlichkeit ihrer Ausgestaltung zu schärfen, ihnen aber auch die Wichtigkeit der Mitarbeit der Organisationen bei der Durchführung und dem Ausbau dieser Gesetzgebung klar zum Bewusstsein zu führen. Die Fragen: Beseitigung des Kost- undLogiszwanges, Ausgestaltung des „Korrespondenzblattes“, Agitation unter den ausländischenArbeitern und Heimarbeiterschutz wurden ohne lange Debatten erledigt. Was der Kongress zu der letzteren Materie beschloss, wird gewiss die Einbringung eines Antrags der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion beschleunigen, welcher die Forderungen des vorjährigen Heimarbeiterschutzkongresses an die Gesetzgebung formuliert. Die Verhandlungen über die Punkte: Genossenschaftenund Gewerkschaften und Agitation unter den Arbeiterinnen werden an anderer Stelle gewürdigt.
Ob die Gewerkschaften Arbeitskammern oder Arbeiterkammern fordern sollen, darüber gingen die Meinungen auseinander. Umbreit, der eine Referent zu der Frage, befürwortete die paritätisch aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzten Arbeitskammern. Er erachtete es für nötig, dass eine Behörde geschaffen wird, die durch ihre Beschlüsse regelnd in die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eingreift. Der Korreferent dagegen, Hué, trat für Arbeiterkammern ein. Seiner Ansicht nach müssen die Arbeiter und ihre Interessen vor allem eine amtliche Vertretung erhalten, wie sie die Unternehmer bereits in den Handels-, Gewerbe- und Landwirtschaftskammern besitzen. Diese Vertretung würde in der Hauptsache eine begutachtende Behörde sein, neben der das Arbeitsamt zu funktionieren hätte. Der Kongress entschied sich für Arbeiterkammern und stellte sich damit in Gegensatz zu der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die Arbeitskammern fordert. Ein Konflikt zwischen Partei und Gewerkschaften aus Anlass dieser Entscheidung ist jedoch ausgeschlossen. Die strittige Frage ist eine reine Zweckmäßigkeitsfrage, über welche auch in der Sozialdemokratie die Meinungen auseinandergehen. In Württemberg und Hamburg zum Beispiel fordern die Vertreter der Partei Arbeiterkammern.
Eine weit größere Bedeutung kommt dem Ergebnis des Kongresses zu den Punkten General- beziehungsweise Massenstreik und Maifeier zu. In ihnen hat er sich bedauerlicherweise nicht auf der Höhe seiner Aufgabe gezeigt, sondern bekundet, dass die Vertiefung der Gewerkschaftsbewegung ihrer erfreulichen Ausdehnung und Erstarkung noch nicht nachgekommen ist.
Was den Generalstreik anbelangt, so nahm der Kongress mit allen gegen 30 Stimmen eine Resolution an, die dem Referat Bömelburgs entsprechend in ihrem wichtigsten Passus besagt: „Die Taktik für etwa notwendige Kämpfe solcher Art (zur Erzwingung von Reformen oder zur Abwehr von Attentaten gegen Volksrechte) hat sich nach den jeweiligen Verhältnissen zu richten. Der Kongress hält daher auch alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich; er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten.“
In seinem Schlusswort erklärte der Referent, die Resolution solle sich nicht in Gegensatz zu dem einschlägigen Beschluss des Amsterdamer internationalen Sozialistenkongresses stellen. Diese Erklärung ist gewiss gut, und wir wollen angesichts ihrer nicht prüfen, ob sich nicht dennoch aus der Fassung des Kölner Beschlusses ein solcher Widerspruch mühelos herauslesen lässt, ja sich geradezu aufdrängt. Bedeutsamer ist, dass das Referat selbst den Geist schroffen Gegensatzes zu der Amsterdamer Resolution atmete, und dass dieser Geist durch die Haltung der übergroßen Mehrzahl der Delegierten recht kräftig hervorgehoben wurde. Allerdings blieb eine energische Opposition dagegen nicht aus, die in den trefflichen Reden Timms, Kloths und ganz besonders v. Elms gipfelte. Allein ihr Hinweis auf die Möglichkeit, ja immer größere Wahrscheinlichkeit von Situationen, die zum Massenstreik drängen, auf die Notwendigkeit, über seine Bedingungen Klarheit zu erlangen: hat sicherlich aus die Arbeitermassen außerhalb des Kongresses überzeugender gewirkt als auf die Delegierten.
Freilich, auch das muss betont werden: die Gedankengänge des Referats waren in sich selbst und untereinander voller Widersprüche, die durch das Schlusswort noch verschärft worden sind. Bömelburg drang nicht tief in die aufgerollte Streitfrage ein und schob alles beiseite, was aus geschichtlichen Erfahrungen und theoretischen Untersuchungen über das Wesen des politischen Massenstreiks und seine Durchführung erhellt. Er hielt nicht die Unterschiede fest zwischen den verschiedenen Arten von General- oder Massenstreiks; erfolgreiche politische Massenstreiks schienen ihm unbekannt; die Klärung der vorliegenden Probleme erachtete er offenbar als gleichbedeutend mit der Aufforderung zu kindlicher, gefährlicher Spielerei, als gleichbedeutend mit der Vernachlässigung jeder stetigen, ruhigen Kleinarbeit zur Aufklärung und Organisierung der Massen. Das freche Treiben der Reaktion legt die Frage nahe: was tun, welche Waffen anwenden im proletarischen Freiheitskampf, wenn die Volksrechte zertrümmert werden? Bömelburg antwortet daraus zuversichtlich, dass das Proletariat auch ohne Wahlrecht und Koalitionsrecht noch lange nicht am Ende seines Lateins sei. Er, der erklärte Pessimist betreffs der Urteilsfähigkeit der Arbeiter, wenn es sich um die bloße Erörterung des Massenstreiks handelt, ist mit unerschütterlichem Optimismus überzeugt, dass sie ohne klärende Diskussion in entscheidungsschwerer Stunde wissen werden, was tun, und wie tun. Seine Ausführungen pendelten alles in allem zwischen Widersprüchen und Selbstverständlichkeiten hin und her. Wir sprechen das offen aus, unbeschadet der hohen persönlichen Achtung und Sympathie, die wir für Bömelburg als einen der besten Vorkämpfer des Proletariats hegen.
Gewiss: keine noch so haltlosen Gedankengänge und ungeschickt gefassten Beschlüsse vermögen den Gang der Geschichte zu ändern. Momente der historischen Entwicklung, die unter bestimmten Bedingungen mit Naturwendigkeit aus dem Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie hervorwachsen, lassen sich nicht nach Einsicht und Belieben ausschalten. So wenig wie der politische Massenstreik in der Retorte eines Kongressbeschlusses fabriziert werden kann, so wenig lässt er sich verbieten. Jedoch übersehen wir nicht, dass die mehr oder minder verständnisvolle Stellungnahme der Arbeiterorganisationen von beträchtlichem Einfluss auf den Grad der Einsicht, Disziplin, Opferfreudigkeit, kurz der Reise ist, mit welchem das Proletariat in die ihm aufgezwungenen Kämpfe eintritt. So unverantwortlich es wäre, bei jedem Anlass mit dem Massenstreik zu drohen und ihn im Westentaschenformat inszenieren zu wollen, so verhängnisvoll müsste es wirken, die Proletarier im Unklaren darüber zu lassen, dass unter Umständen trotz aller Gefahren und Opfer der Massenausstand das einzige und äußerste Kampfesmittel sein kann, ja sein muss. Die schamlosen Attentate gegen das Wahlrecht in Hamburg und Lübeck reden eine noch eindringlichere Sprache als die unzweideutigen Drohungen der Manteuffel, Mirbach und anderer Möchtegern-Wahlrechtsräuber. Bereit sein, gerüstet sein, ist alles.
Zur Frage der Maifeier drehte sich der Kampf der Meinungen um die Arbeitsruhe am 1. Mai. RobertSchmidt wendete sich in seinem Referat mit großem Nachdruck gegen sie, ihr erstanden jedoch in Glocke, Timm. Bock, Beyer und anderen eifrige und beredte Verteidiger. Heiß prallten die Gegensätze aufeinander, und es fiel manche Äußerung, die des erprobten Gewerkschafts- und Parteiführers Bock Ausruf rechtfertigte: das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen gewerkschaftlicher und politischer Bewegung scheine bei einzelnen Delegierten nicht mehr vorhanden zu sein. Drei Resolutionen standen einander gegenüber. Die des Referenten, der zufolge die Gewerkschaften erklärten, im Prinzip die Feier des 1. Mai durch Arbeitsruhe zu verwerfen, aber an der bisherigen Form der Maifeier nichts zu ändern, solange der Beschluss des letzten internationalen Kongresses zu Recht bestehe. Des weiteren eine Resolution Glocke, die im Sinne der Parteitagsbeschlüsse gehalten war, und eine solche von Bock, dahingehend, die Generalkommission möge sich mit dem Parteivorstand in Verbindung setzen, um dem nächsten Parteitag in der Angelegenheit gemeinsame Vorschläge zu unterbreiten. Zur allgemeinen Überraschung wurden sämtliche Resolutionen zurückgezogen. Wir bedauern, dass nicht durch namentliche Abstimmung eine Klärung und Entscheidung der Frage herbeigeführt worden ist. Sie wäre dienlicher gewesen als dieses In-der-Schwebe-bleiben, das den unerquicklichen Eindruck der Debatten verstärkt und lebendiger erhält, als ein bestimmter Beschluss.
Über den „Ton“ der Kölner Debatten mögen sich Zeremonienmeister und Anstandstanten die Haare ausraufen. Was uns schmerzlich berührt, ist die Tatsache, dass der Geist mancher Ausführungen wie die Faust aufs Auge zu dem tiefsten Gehalt der allgemeinen sozialistischen Arbeiterbewegung passte. Er verriet einen auffallenden Mangel der geschichtlichen Einsicht, aus welcher der proletarische Klassenkampf – der gewerkschaftliche wie der politische – Kraft, Richtung und Einheitlichkeit gewinnt. Er ließ ein Abflauen des Idealismus in Erscheinung treten, der im Bunde mit jener Einsicht die höchsten Kampfestugenden des Proletariers zur Entfaltung bringt. Noch sind das Schwinden des theoretischen Sinnes und das Nachlassen des Idealismus – die vor neuen Kampfesmitteln und schweren Kämpfen zurückschrecken lassen – nur sich vordrängende, aber nicht herrschende Tendenzen. Sie erklären sich durch das Einströmen großer, zum Teil noch rückständiger Massen in die Gewerkschaften; durch deren Aufgabe, auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung die wirtschaftliche Hebung des Proletariats und innerhalb seiner einzelner Berufsgruppen zu erringen; durch die schier erdrückende Summe der Klein- und Alltagsarbeit, die mit der Lösung dieser Aufgabe verknüpft ist. Sie werden begreiflich durch die Blüte der Gewerkschaften und die entsprechend gestiegenen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten; durch den bedrohlichen Aufmarsch der Scharfmacher auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet; durch die sich aufdrängende Erkenntnis von der Unzulänglichkeit der alten Kampfesmittel angesichts bestimmter Erscheinungen; durch den gerechtfertigten Wunsch, nicht verlieren zu wollen, was in mühseliger, opferreicher Arbeit langer Jahre geschaffen und aufgebaut worden ist. Jedoch so verständlich, so bekämpfenswert sind diese Tendenzen. Sie würden schließlich darauf hinauslaufen, im wirtschaftlichen Kampfe um des Lebens willen die Quellen des Lebens selbst zu verschütten. Denn von den Gewerkschaften gilt wie von der Taufe: „Wasser allein tut’s freilich nicht, sondern der Geist Gottes, der mit und bei dem Wasser ist.“ Mit anderen Worten: die Organisation allein tut es nicht, es muss in ihr der klassenbewusste, revolutionäre proletarische Kampfesgeist lebendig sein. Diese Tendenzen würden auch dem mehr als je nötigen Zusammenwirken von Gewerkschaften und Partei, der inneren Einheit der Arbeiterbewegung verderblicher werden als das und jenes scharfe, leidenschaftliche Wort, das in Köln gefallen ist.
Sicherlich: die geschichtliche Entwicklung wird in der deutschen Arbeiterbewegung die hervorgehobenen Tendenzen nicht die Oberhand gewinnen lassen, wird gewerkschaftlichen und politischen Klassenkampf mit ehernen Klammern zusammenhalten. Die Versicherungen über die innere Einheit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung, die den Kölner Kongress einleiteten und schlossen, entsprachen nicht bloß den ehrlichen Überzeugungen und Wünschen bewährter Führer, sie waren der Ausdruck historischer Wirklichkeit. Aber vertrauen wir nicht fatalistisch ausschließlich auf die geschichtliche Entwicklung, vergessen wir nicht, dass Wissen und Wollen der Menschen ihrerseits zu Trägern derselben werden. Wirken wir innerhalb der gesamten Arbeiterbewegung – der gewerkschaftlichen wie der politischen – an der Pflege der theoretischen Schulung und der idealistischen Gesinnung. Mehr noch als der Dummheit und den Verbrechen seiner Todfeinde muss das Proletariat seine Erfolge seiner klaren Erkenntnis und seinen Kampfestugenden danken.
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