[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 10, 17. Mai 1905, S. 55 f.]
„Die größte Leistung der deutschen Arbeiter seit dem Falle des Sozialistengesetzes ist die Entwicklung der Gewerkschaften.“ Dieses anerkennende Urteil, das Parvus bereits 1901 gefällt hat, dürfte mit Fug und Recht im Saale des alten Gürzenich prangen, wenn er am 22. Mai den fünften Gewerkschaftskongress aufnimmt. War diese Wertung nach Mehring schon „ein historisches Urteil von bleibendem Wert“ für die Entwicklungsperiode gewerkschaftlichen Lebens, die bis zum Ende des letzten wirtschaftlichen Aufschwungs reichte, so ist sie seither erst recht bestätigt worden.
Wohl hat die Krise, die Deutschlands Wirtschaftsleben erschütterte, naturgemäß die Entwicklung der Gewerkschaften vorübergehend verlangsamt. Jedoch sie hat die Organisationen nicht zu zertrümmern, nicht zurückzuwerfen vermocht. Mit fest geschlossenen Reihen und gut gefüllten Kassen sind sie aus dem Anprall des wirtschaftlichen Ungewitters und aus großen, heißen wirtschaftlichen Kämpfen hervorgegangen, auf bedeutsame Leistungen zurückblickend und durch fruchtbare Anregungen zum weiteren Ausbau, zur besseren Rüstung bereichert. Unaufhaltsam hat sich ihr kraftvoller Ausstieg vollzogen. Ihr Mitgliederstand ist beträchtlich gewachsen und zu immer klarerer Einsicht in die Ziele der Gewerkschaftsbewegung, in die Notwendigkeit größerer finanzieller Pflichten geschult worden; ihr Wirkungsgebiet wurde umfassender, vielseitiger; ihre materielle und kulturelle Leistungsfähigkeit nahm zu. Die Gewerkschaften haben Zehntausende und Zehntausende deutscher Proletarier zur Zeit der Krise, in Tagen der Arbeitslosigkeit und anderer Nöte vor dem furchtbarsten Elend, vor dem Sturz in das Lumpenproletariat bewahrt und sie damit kampfesmutig und kampfesfähig erhalten. Sie haben anderen Zehntausenden und Zehntausenden bessere Arbeitsbedingungen errungen; sie haben große proletarische Massen aus den dumpfigen Niederungen der Bedürfnislosigkeit emporgeführt, sie zum Bewusstsein ihrer Klassenlage, ihres Menschentums gerufen und zur Solidarität erzogen. Mit ruhigem Stolze können sie sich neben die englischen Trade-Unions stellen. An Mitgliederzahl und Kraft sich ihnen rasch nähernd, sind sie ihnen an proletarischem Klassenbewusstsein, an geschichtlicher Einsicht weit überlegen.
Aber eins ist dank der kapitalistischen Ordnung in der Natur der Dinge begründet. Je mehr die Organisation als ein Trutz-Kapital ausgebaut und befestigt wird, dessen die Ausgebeuteten nicht entraten können, um so höher schwillt der grimme Hass der ausbeutenden Klassen gegen sie an, um so leidenschaftlicher wird deren Bestreben, die Gewerkschaften zu zerschmettern. Mindestens in dem gleichen Maße, aber unter hundertfach günstigeren Bedingungen wie der gewerkschaftliche Zusammenschluss der Arbeitermassen vollzieht sich der Aufmarsch der Kapitalisten in fest geschlossenen Kampfesorganisationen Die Scharfmacherverbände, die Träger des wildesten, skrupellosesten wirtschaftlichen und sozialen Terrorismus sind in der Welt der Unternehmer Trumpf. Durch die wachsende Konzentration des Wirtschaftslebens gefördert, gliedern sie sich enger und enger aneinander, um hinter das Ringen zwischen Kapital und Arbeit an einem Orte, in einem Gewerbe die vereinigte Macht des Unternehmertums eines ganzen Industriegebietes, der gesamten Ausbeuterklasse zu setzen. Und nicht deren riesige wirtschaftliche Macht allein ist es, welche sie den Arbeiterorganisationen entgegenstellen, auch ihre ungeheure soziale Macht, ihre politische Macht im Staate, der – das beweist die krüppelhafte Sozialreform und ihr kraftstrotzender Zwillingsbruder, der Arbeitertrutz – in immer größere Abhängigkeit von den Scharfmacherklüngeln gerät. Die ruhmvoll durchgefochtenen Kämpfe der Textilarbeiter von Crimmitschau, der Holz- und Metallarbeiter in Berlin, der Grubenproletarier im Ruhrrevier künden deutlich genug, wessen die Gewerkschaften sich zu versehen haben Und diese wissen genau, dass es ihrerseits gelten muss, gerüstet zu sein, um den aufziehenden übermächtigen Feind von allzu frivol-frevelhaften Überfällen abzuschrecken und nötigenfalls im Kampfe zu bändigen.
Angesichts dieser Situation wird unseres Dafürhaltens der Schwerpunkt der Kongressarbeiten in der Beratung von Mitteln und Wegen liegen, die Werbekraft und Leistungsfähigkeit der Organisationen zu stärken und zu steigern. Im Zeichen dieses Zieles stehen die einzelnen Verhandlungsgegenstände, welche die Generalkommission in Anschluss an ihren Tätigkeitsbericht auf die provisorische Tagesordnung gesetzt hat, und der größte Teil der bisher vorliegenden Anträge und Resolutionen.
Zwei große, stetig und rasch wachsende Kategorien von Arbeitskräften, die im Allgemeinen sozial rückständig, politisch minder berechtigt oder ganz rechtlos sind und daher widerstandsschwach gegenüber der kapitalistischen Ausbeutungsgier, sollen durch bessere gewerkschaftliche Organisierung aus ihrer Schwäche zur Kraft emporgehoben, aus Schmutzkonkurrenten in Mitkämpfer des organisierten Proletariats verwandelt werden. Es sind dies die Arbeiterinnen und die ausländischen Arbeiter. Die Stellung der Gewerkschaften beiden gegenüber ist ein ehrenvolles Zeugnis ihrer sozialen Einsicht, ihres Freiseins von Zünftelei, Spießbürgerei und Nationalitätsdünkel. Was die Frage der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiterinnen insbesondere anbelangt, so sind wir fest überzeugt, dass der Kongress zu Köln sich mit Entschiedenheit für eine Maßregel erklärt, welche sein Vorgänger mehr angedeutet als mit aller Klarheit und Bestimmtheit formuliert hat: für die Anstellung weiblicher Gewerkschaftsbeamten. Das Verständnis für die notwendige Neuerung ist in den zwei letzten Jahren erheblich gestiegen, das bekundeten nicht bloß Äußerungen der Gewerkschaftspresse, das bestätigt vor allem der Beschluss der Nürnberger Organisationen, eine Frau am Arbeitersekretariat anzustellen. Dass die Amtierung weiblicher Gewerkschaftsbeamten kein alleinseligmachendes Mittel ist, die Arbeiterinnen den Organisationen zuzuführen, versteht sich am Rande. Die Kongressberatungen werden daher zu der Frage sicher noch eine Reihe bedeutsamer Anregungen zeitigen Insbesondere wichtig dünkt es uns, dass sie neuerlich hinweisen auf die Notwendigkeit der Gründung und weiteren Ausgestaltung der Beschwerdekommissionen, der Vermehrung der weiblichen Vertrauenspersonen zur Übermittlung von Klagen der Arbeiterinnen an die Gewerbeinspektion, auf die Heranziehung der weiblichen Mitglieder zu allen Arbeiten und Vertrauensstellungen in den Gewerkschaften und schließlich, aber nicht zum Mindesten, auf die unerlässliche „gewerkschaftliche Propaganda der Tat“: den Ausbau der Unterstützungseinrichtungen und die energische Verfechtung der Arbeiterinneninteressen bei Lohnbewegungen.
Der Kongress soll das Seinige dazu tun, dass durch die Beseitigung des Kost- und Logiszwanges recht ansehnliche Scharen von Arbeitern und Arbeiterinnen größere Bewegungsfreiheit und damit höhere gewerkschaftliche Kampfesfähigkeit erlangen. Er hat die Aufgabe, den Kampf gegen das Heimarbeiterelend zu fördern, das der Kapitalismus in neue, größere Bevölkerungsmassen trägt, das Hunderttausenden die Kampfesmöglichkeit raubt, dem gesetzlichen Arbeiterschutz, wie den Zielen der Gewerkschaftsbewegung entgegenwirkt. Eine reiche Fülle weiterer Materien noch – wir nennen von ihnen nur die Gewerkschaftskartelle, das Reichsarbeitersekretariat, die Ausgestaltung des „Korrespondenzblattes“, die Errichtung von gewerkschaftlichen Unterrichtskursen, die Frage der Arbeitskammern – steht auf der Tagesordnung und lässt erkennen, wie vielseitig die Organe und Bestrebungen sind, welche der gewerkschaftlichen Rüstung der Arbeiterklasse dienen.
Der Kölner Gewerkschaftskongress wird sich auch mit der Frage des Generalstreiks beschäftigen. Seitdem das kämpfende internationale Proletariat auf dem Kongress zu Amsterdam Stellung zu ihr genommen hat, ist die Natur des Massenstreiks scharf beleuchtet worden durch den vorjährigen Generalstreik in Italien, die politischen Massenstreiks des russischen und polnischen Proletariats, den Riesenausstand im Ruhrgebiet. Klar trat in Erscheinung, dass der Massenstreik innerlich der Revolution wesensverwandt ist und sich ebenso wenig beschließen, wie verbieten lässt. Das gewerkschaftlich wie politisch organisierte Proletariat darf daher nicht der Alltagsarbeit vergessend auf ihn spekulieren, wohl aber muss es mit seiner Möglichkeit rechnen, um ihm Richtung und Ziel geben, ihn disziplinieren und leiten zu können. Und in dieser Hinsicht sagt unseres Erachtens die Amsterdamer Resolution, was gesagt werden muss, indem sie die anarchistischen und anarchistelnden Generalstreikideen mit allem Nachdruck zurückweist und die Bedeutung, die Notwendigkeit der täglichen, stündlichen Aufklärungs- und Organisierungsarbeit auf allen Gebieten eindringlich betont.
Durch den diesjährigen Maientag des Proletariats scheint uns besiegelt, dass in puncto Maifeier der Gewerkschaftskongress sich nicht in Gegensatz zu den Beschlüssen der internationalen Sozialistenkongresse und der sozialdemokratischen Parteitage stellen wird. Er hat glänzend die Befürchtungen widerlegt, die betreffs der Folgen bei Durchführung dieser Beschlüsse hier und da gehegt wurden. Im Ausland hat die Maifeier an Umfang und Bedeutung gewonnen, ganz besonders in Italien, wo trotz der Niederlage der Eisenbahner die Arbeitsruhe geradezu vollständig war. In Deutschland ist sie überall, wo es nicht an der nötigen Vorbereitung gefehlt hat, imposanter als je ausgefallen. Trotz der heftigsten Drohungen der Unternehmer sind die Aussperrungen und Maßregelungen von feiernden Proletariern recht gering. Unbestritten, dass die günstigere wirtschaftliche Konjunktur das ihrige zu diesem Resultat beigetragen hat. Jedoch Wirtschaftslage und Kapitalistengelüste allein sind nicht ausschlaggebend für die Folgeerscheinungen der Arbeitsruhe am 1. Mai. Die Reife und der Wille der Proletarier sind ebenfalls mitentscheidende Faktoren. Die Arbeiter und ihre Organisationen haben um so leichter an der Arbeitsruhe zu tragen, je allgemeiner sie durchgeführt wird. Nicht abrüsten, aufrüsten muss mithin die Losung für die würdige Begehung der Maifeier sein, deren hehrer ideeller Gehalt die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen in gemeinsamer Aktion zu der höheren Einheit der klassenbewussten Arbeiterbewegung zusammenführt. Zweifelsohne werden die politischen Organisationen des Proletariats bereit sein, mit den Gewerkschaften zusammen die Opfer der Maifeier zu tragen, wie sie diesen noch stets bei großen Kämpfen die treueste Solidarität erwiesen haben – der Bergarbeiterstreik hat dies erst kürzlich wieder überwältigend bekräftigt.
Doch wie immer die Beratungen des Gewerkschaftskongresses über die strittige Frage ausgehen mögen, nicht werden diejenigen auf ihre Rechnung kommen, welche in der Maifeier „den Keil“ erblicken, der die Gewerkschaftsbewegung von der Sozialdemokratie absprengen soll. Unsere deutschen Gewerkschaften stehen neben und mit der Sozialdemokratie auf dem Boden des Klassenkampfes. Ihre soziale Einsicht schließt aus, dass sie diesen festen Grund je verlassen, um auf die zerrinnende, bewegliche Flugsandwelle einer verbürgerlichten „Nichts-als-Berufspolitik“ zu bauen. Sie sind außerdem in der rauen Schule des Klassenkampfes zu guten „Realpolitikern“ geschult worden, welche wissen, dass die von uns eingangs skizzierte Entwicklung der Unternehmerverbände die gewerkschaftlichen und politischen Klassenorganisationen des Proletariats immer zwingender auseinander anweist. Die Sozialdemokratie bedarf für ihre Aktionen im Parlament den Druck der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter außerhalb des Parlaments, die Gewerkschaften müssen die letzten entscheidenden Schlachten gegen die Scharfmacherorganisationen auf politischem Gebiet zusammen mit der Sozialdemokratie schlagen. Auf dem Gewerkschaftskongress mögen im einzelnen Äußerungen fallen, die der Sozialdemokrat nicht gern hört, wie auf Parteitagen schon Gedanken entwickelt wurden, welche dem Gewerkschafter missfielen. Die kleinen „Unstimmigkeiten“ aber werden so morgen wie gestern übertönt und verschlungen von dem gewaltigen Akkord der Brüderlichkeit, der aus der inneren Solidarität des gewerkschaftlichen und politischen proletarischen Klassenkampfes hervorbricht, aus jener Solidarität, die alle Ausgebeuteten in der einen revolutionären Arbeiterbewegung zum Ansturm gegen die kapitalistische Ordnung zusammenschweißt.
Schreibe einen Kommentar