August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 887, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 1, 7. Januar 1888, S. 7 f.]

:: Aus Norddeutschland, 3. Jänner 1888. Das neue Jahr wurde von der gesamten Presse mit sehr gemischten Gefühlen begrüßt. Nicht ein Blatt, das mit frohen Hoffnungen demselben entgegensieht. Die Mehrzahl der Blätter begnügt sich, dem Wunsche Ausdruck zu geben, das die bangen Befürchtungen, die wie eine drohende Wetterwolke über den Völkern Europas schweben, sich nicht erfüllen möchten, und das es, wenn auch nicht besser, so doch auch nicht schlechter als sein Vorgänger verlaufe. Fürwahr ein sehr magerer Trost. Jahre wie das verflossene, kann der öffentliche Zustand nicht viele vertragen, ohne das die Leistungsfähigkeit oder – die Geduld der Völker auf die härteste Probe gestellt wird.

Mit frivolen, den niedrigsten Motiven entsprungenen Kriegshetzereien trat das verflossene Jahr ins Leben, Alles mit Schrecken und mit banger Sorge für die Zukunft erfüllend , unzählige Existenzen ruinierend, allüberall Arbeitslosigkeit verbreitend und in der gleichen Weise ging es zu Ende, seinem Nachfolger die böse Erbschaft hinterlassend.

Und wie sein Anfang und sein Ende, so war nicht viel besser sein ganzer Verlauf. Die Kriegsgerüchte und die Kriegsdrohungen haben sich verschiedene Male wiederholt, und das gab den Machthabern leichtes Spiel, den Völkern gegenüber Forderungen zu stellen und Lasten aufzuerlegen, wie sie solche bei Beginn des Jahres selbst wohl kaum für möglich gehalten haben. Deutschland darf in dieser Beziehung sich ganz besonders gratulieren.

Nachdem das deutsche Volk unter dem Schrecken der wildesten Kriegshetzereien einen neuen gefügigen Reichstag gewählt, um der Reichsregierung die verlangte Präsenzziffer der Armee auf sieben Jahre zu bewilligen, erkannte man Oben sehr rasch, das diese Gunst der Umstände ausgenutzt werden müsse. Und siehe da, es gelang über Erwarten. Die Zuckersteuer wurde erhöht, die Branntweinsteuer wurde verdreifacht, wobei den schnapsbrennenden Großgrundbesitzern 30-35 Millionen Mark per Jahr an den Händen kleben bleiben, die Getreidezölle wurden nahezu verdoppelt und dadurch das wichtigste und dringendste Lebensmittel des Volkes abermals erheblich verteuert. Damit nicht genug, bewilligte der Reichstag eine Vermehrung der Reichsschulden von über 300 Millionen Mark, die fast ausschließlich für neue militärische Rüstungen verpulvert werden, und erledigte in erster Lesung noch kurz vor Weihnachten ein Gesetz über eine neue Organisation der Landwehr und des Landsturms, das zunächst eine weitere Anleihe von einigen hundert Millionen zu seiner Durchführung erfordern wird, und im Ernstfalle die Gut- und Blutopfer der Nation in gewaltiger, kaum zu ertragender Weise steigert.

Und wo sind die Vorteile gegenüber all diesen Neubelastungen und gesteigerten Opfern? Ist der Friede gesicherter, als er vor einem Jahre war? Nein! Hat das arbeitende Volk größere Aussicht auf Arbeit und Verdienst? Nein! Hat es an seinen Rechten und an der freien Betätigung seines Willens gewonnen? Nein! Genau das Gegenteil ist der Fall. Die feindselige Behandlung, welche allen aus der eigenen Initiative der Arbeiterklasse entsprungenen Bestrebungen schon in den vergangenen Jahren behördlicherseits entgegengebracht wurde, hat sich im verflossenen Jahre womöglich noch verschärft und wird in diesem Jahre keine Abminderung erfahren. Das Ausnahmegesetz, das einen großen Teil der Arbeiterklasse ächtet , zu Deutschen zweiter Klasse degradiert, soll nicht bloß erneuert und verlängert, es soll erheblich verschärft werden. Nebenbei macht die Reaktion Miene, die Arbeitsbücher , welche vor zwanzig Jahren die mündig gewordenen Arbeiter los wurden, aufs Neue wieder einzuführen und damit ein neues Mittel für die Knechtung der Arbeiter der Unternehmerklasse an die Hand zu geben.

Also nichts als erhöhter Druck, erhöhte Rechtlosigmachung, erhöhte Ausbeutung in Aussicht, das ist die Perspektive, die das neue Jahr der deutschen Arbeiterklasse und dem arbeitenden Volke Deutschlands überhaupt eröffnet. Dem Allen gegenüber nimmt sich die in Aussicht gestellte Altersrenten- und Invalidenversicherung für die Arbeiter mit ihrer Bettler-Almosenhöhe als der bitterste Hohn und als frivole Ironie aus.

Mag die Reaktion immerhin ihre Waffen schärfen und die Gunst der Umstände aufs Äußerste ausnutzen, wir haben zu der deutschen Arbeiterklasse das unerschütterliche Vertrauen, das alle noch kommenden Maßregelungen und Verfolgungen sie um keines Haares Breite von dem betretenen Wege abbringen werden. sie wird tun, was sie muss, um ihr Ziel, die Befreiung der Arbeit aus der Lohnsklaverei und die Gründung einer auf Gleichheit und Gerechtigkeit basierten Gesellschaftsordnung, zu erreichen Eins mögen die Gegner nicht vergessen: In dem Maße wie die Reaktion steigt, steigt auch naturnotwendig ihr Gegenpol – die Revolution. Die Eine erzeugt die Andere.

Die in unserem letzten Briefe gemeldete Nachricht, das am Weihnachtabend das Sozialistengesetz dem Reichstag zugegangen sei, beruht auf einer Mystifikation, der nicht nur Ihr Berichterstatter, sondern die gesamte Presse zum Opfer gefallen ist. Dafür bleiben aber alle die Einwände, die wir wegen der späten Veröffentlichung der Vorlage machten, in verschärftem Maße bestehen. Kein Zweifel, dass nur die Scheu und Furcht vor der Kritik, die an dem Entwurf zweifellos von einem großen Teil der Presse geübt werden wird, diese bisher nie gehandhabte Zurückhaltung bei der Veröffentlichung einer solchen Vorlage verschuldete. In den Kreisen der deutschen Sozialdemokratie ist man über diese Reserve nur belustigt. Der von den Offiziösen angekündigten „schwerwiegenden Begründung“ der Vorlage wird die Vertretung der Partei im Reichstag mit „schwerstem Geschütz“ antworten.

Die Affäre Prinz Wilhelm-Stöcker will noch immer nicht zur Ruhe kommen. Der Prinz hat in dieser Angelegenheit eine solche Einbuße an Popularität erlitten, dass er große Mühe haben wird, den Schaden zu reparieren. Die Versammlung bei dem Grafen Waldersee war eines jener Ereignisse, die blitzartig die ganze Situation erleuchten und den Vertrauensseligen mit Schrecken den Abgrund zeigen, vor dem sie stehen. Wir sagen: nur zu, je toller, je besser.

Im Augenblick sind die Freundschaftsbezeugungen zwischen Russland und Preußen, die sich jede der Staatsgewalten auf Kosten des Volkes der andern erlaubt, wieder im schönsten Schwunge. Preußen weist in einem fort russische Staatsangehörige aus seinen Provinzen aus, Russland antwortet mit der gleichen Münze, indem es deutsche Staatsbürger über seine Grenzen treibt. In diesem Spiele, das eine Schmach für unsere sogenannte Zivilisation und für unser Zeitalter ist, ist leider Preußen „das Karnickel, das angefangen“ hat. Die Ende 1885 begonnene Massenaustreibung der Polen aus seinen Ostprovinzen, soweit diese russische Staatsangehörige waren, ist einer der schwärzesten Flecken der preußischen Geschichte. Es ist eine der Gefälligkeiten, die Fürst Bismarck in seinem Übereifer dem Zaren zu Willen zu sein, diesem erwies, und für die Deutschland in der steigenden Zahl der Misshandlungen Deutscher seitens von Russen im Grenzverkehr, in den ewigen Zollerhöhungen, die schließlich jede deutsche Einfuhr unmöglich machen, und in der Ausweisung deutscher Staatsbürger und der Schädigung deutschen Eigentums den entsprechenden Dank empfängt. Erlaubte sich Frankreich nur den zwanzigsten Teil der Übergriffe, die Monat für Monat seitens Russland an der deutsch-preußischen Grenze vorkommen, man sollte einmal unsere deutsche Hetzpresse sehen, Aber Russland gegenüber macht man die Faust im Sack und fährt trotz aller Fußtritte fort, seinen politischen Zielen im Orient nach Kräften Vorschub zu leisten. Es ist keine sehr mannhafte und ehrenvolle Rolle, die Deutschland gegen Russland spielt, und man begreift in Deutschland das Misstrauen sehr wohl, das sofort in Österreich gegen den „treuen Verbündeten“ erwacht, sobald deutsche und russische Staatsmänner nur Miene machen, die Köpfe zusammenzustecken.

Obgleich die Offiziösen verbreiten, das in der Frage über das kleinkalibrige Gewehrmodell noch nichts entschieden sei, wird in den Gewehrfabriken mit ungeheurer Kraftanstrengung Sonn- und Werktag, Tag und Nacht gearbeitet. Das geschieht sicher nicht zum Vergnügen.

Während für die militärischen Rüstungen Hunderte von Millionen bereitwilligst bewilligt werden, fehlt in Preußen das Notwendigste für die Aufbesserung der Lehrergehalte. Derselbe Lehrermangel, der bis in die Mitte der siebziger Jahre „im Staate des deutschen Berufs“ chronisch und sprichwörtlich war, droht wieder einzukehren, und das neue Lehrerpensionsgesetz wird den Mangel noch steigern. Die Pensionssätze sind nämlich in dem neuen Gesetz so erbärmlich niedrig in Aussicht genommen, das die alten Lehrer sich beeilen, noch unter dem bestehenden schon sehr unbefriedigenden Zustand sich zur Ruhe setzen zu lassen. Ein Staat, der die Ausbildung der Kriegsmittel wissenschaftlich und sportsmäßig betreibt, und alle Übrigen zu gleichem Vorgehen antreibt, hat für Kulturzwecke wenig übrig.

Am 2. d. Mts. hat abermals und zwar in Posen ein großer Sozialistenprozess begonnen, der gleich seinen Vorgängern hinter verschlossenen Türen stattfinden dürfte. Geheime Verbindung, Verlesung des Sozialistengesetzes etc. etc. bilden die Hauptpunkte der über 400 geschriebene Seiten umfassenden Anklageschrift. Die Verteidigung haben zwei Berliner Rechtsanwälte übernommen, da in Posen sich solche zur Verteidigung der Gottseibeiuns-Sozialdemokraten nicht finden. Die Mehrzahl unserer bürgerlichen Rechtsanwälte hat es verlernt politisch Verfolgten beizustehen, viel Geld bringt’s nicht ein und schadet ihrem Ruf bei der bürgerlichen Ehrbarkeit. Was vor dreißig Jahre eine Ehre war, wird heute als ein Vergehen angesehen, als eine Vorschubleistung den Feinden der Gesellschaft.


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