August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 979, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 5, 1. Februar 1889, S. 4]

:: Aus Norddeutschland, 29. Jänner. Unsere Partei hat bei der Stichwahl in Breslau am 25. d. M. glänzend gesiegt. Unser Kandidat Kühn bekam 9948 Stimmen, der fortschrittliche Gegenkandidat 3237 Stimmen. Kühn hat gegen die erste Wahl 2100, der Gegner 2700 Stimmen gewonnen. Die erlangte Majorität ist weit größer als wie gehofft. Der Zuwachs der Stimmen ist teils der gesteigerten Agitation zu danken, teils dem Zuzug von Arbeiter-, Kleinbürger- und kleinen Beamtenstimmen, welche bei der ersten Wahl anderen Kandidaten zufielen. Diese Wähler, des moralischen Druckes ledig, der bei der ersten Wahl auf sie geübt wurde, folgten jetzt dem Zuge ihres Herzens und gaben dem sozialdemokratischen Kandidaten ihre Stimmen. Den Zuwachs des Gegners an Stimmen bilden neben der Reserve aus dem engeren Lager die nationalliberale und konservative Bourgeoisie mit ihrem Heerbann, welche ihr Klasseninteresse veranlasste, dem freisinnigen Kandidaten als dem kleineren Übel den Vorzug zu geben. Die Breslauer Arbeiterschaft hat sich ausgezeichnet gehalten, sie hat den Satrapen des Königtums, die nach der erzwungenen Fackelzugdemonstration im vorigen November zu Gunsten des Kaiser-Königs die Breslauer Arbeiter für das Königtum und die offizielle Sozialreform einzuschlachten gedachten, ein paar gründliche Ohrfeigen versetzt.

Bei den nächsten allgemeinen Wahlen soll’s noch ganz anders pfeifen. Wann’s immer den Herren beliebt den Tanz zu wagen, wir sind bereit. Die Vorbereitungen zu den Wahlen sind überall im Gange. In einer großen Zahl von Wahlkreisen sind bereits die Kandidaten aufgestellt, anderwärts ist man damit im Werke, außerdem werden die Kriegskassen eifrigst gefüllt, damit es im gegebenen Moment an der entsprechenden Munition nicht fehlt.

Während so unten in den Massen alles sich rührt, ist man oben bemüht, sich Blöße auf Blöße zu geben, um uns den Kampf zu erleichtern. Vorige Woche beschäftigte sich der Reichstag mit verschiedenen Anträgen, die aus der Mitte des Zentrums und der Deutschfreisinnigen gestellt waren und die Regulierung, bzw. Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit bezweckten. Die Parteizugehörigkeit der Antragsteller verbürgt schon, dass die Forderungen keine „radikalen“ waren, auch hatte der Reichstag und das will bei diesem Reichstag doch auch etwas heißen -– diese Anträge bereits zweimal angenommen. Dessen ungeachtet erklärte der Sprechminister der verbündeten Regierungen in einer wohlvorbereiteten Rede, dass die Regierungen aus so und so viel Gründen nicht auf die Anträge eingehen könnten und Alles beim Alten bleibe. Diese hartnäckige Weigerung der Regierungen den Beschlüssen des Reichstags gegenüber – auf dessen Seite doch sicher in diesen Fragen die weit größere Sachkenntnis und die Fühlung mit dem praktischen Leben steht – hat indes ihren guten Grund. Die Regierungen wissen ganz genau, dass es einem erheblichen Teil der Majorität des Reichstags mit diesen Beschlüssen nicht ernst ist, dass diese dieselben nur annehmen in der Hoffnung und unter der Voraussetzung, dass die verbündeten Regierungen diese Beschlüsse zurückweisen. Unsere Kartellbrüder kommen dadurch in die angenehme Lage, vor ihren Wählern sich rechtfertigen zu können und alle Schuld auf die Regierungen zu wälzen, die den Beschlüssen des Reichstags einen so hartnäckigen Widerstand entgegensetzten. Die Regierungen aber tragen an dieser Sündenlast leicht, sie sind den Wählern nicht verantwortlich und schützen durch ihre Weigerung diesen Reichstag, der in Wahrheit ihr Reichstag ist.

Der Leser wird sagen: das ist ja die reine Komödie, die da getrieben wird. Ja, lieber Leser, das ist vollkommen wahr, aber es ist auch ein Fortschritt, das die Vertretung der herrschenden Klassen sich zu einer solchen Komödie entschließen muss, weil sie nicht mehr wagen, den Forderungen der Arbeiter ein offenes Nein entgegenzurufen.

Indes so der Bundesrat als Vertreter der deutschen Regierungen auf die Beschlüsse des Reichstags pfeift, erklärt Fürst Bismarck zwei Tage später anlässlich der Kolonialdebatte in Ostafrika, er werde nur den Beschlüssen des Reichstags Folge leisten und keinen Schritt weiter gehen, als dieser ihn autorisiere zu gehen – in Ostafrika. So redete derselbe Mann, von dem das geflügelte Wort stammt: „man muss den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus zu Grunde richten“.

Der Konstitutionalismus des Fürsten Bismarck ist heute genau so viel wert als vor 25 Jahren, als er mit der preußischen Volksvertretung im heftigsten Konflikt lag. Aber er findet es bequem heute den eifrigen Konstitutionellen zu spielen, so lange es sich um – Ostafrika handelt. Besagtes Gebiet hat etwas sehr Bedenkliches. „Sitzen wir erst an den Länderküsten Ostafrikas fest und haben wir dort verschiedene Niederlagen erlitten, so werden wir von einem Schritt zum anderen gedrängt und niemand kann mehr die Opfer ermessen, die es kostet.“ so rief der Abg. Bebel in der erwähnten Debatte der Majorität des Reichstags zu. Bismarck weiß das auch ganz genau, er weiß, das Ostafrika für Deutschland leicht ein kleines Tonking werden kann und was das bei der Gespanntheit der europäischen Verhältnisse und den riesenhaften Opfern, die das Volk Jahr für Jahr in immer höherem Maße zu tragen hat, bedeutet, weis Bismarck ebenfalls. Er ist kein „Kolonialmensch“, wie er selbst sagt, d.h. er schwärmt nicht für dieses Abenteuer und blieb ihm am liebsten fern. Aber er wird von zwei Seiten gedrängt. Von seinen Freunden in der Bourgeoisie, die sich kolonisatorisch in Ostafrika festsetzten und nun durch den Aufstand der schwarzen gründlich in der Tinte sitzen, und durch den Kaiser, der in Ostafrika die Lorbeeren pflücken will, die ihm vorerst noch in Europa versagt bleiben. Diesen beiden Mächtigen gegenüber kann Bismarck nicht widerstehen und so fügt er sich, lässt sich aber drängen und will für nichts verantwortlich sein, was nicht der Reichstag ihn geheißen So erklärt sich sein „Konstitutionalismus“, der in diesem Falle sehr aufrichtig ist.

Das ostafrikanische Abenteuer kommt auch auf das Kerbholz der Reichstagsmehrheit und wird seine Wirkung bei den Massen tun, welche sich für die Abschaffung der dortigen Sklaverei – was man nicht einmal will sondern nur verspricht – nicht begeistern, während sie selbst noch in Sklaverei leben.

In Berlin sind vorige Woche wieder sieben Sozialisten wegen Geheimbündelei zu vier und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden, und damit diese Art von Prozessen nicht abreist, verlautet, dass ein neuer in Ludwigshafen, in der Rheinpfalz eingeleitet ist. Und doch sind alle diese staatsretterischen Handlungen ebenso viele Schläge ins Wasser.

Der Ausfall der Pariser Wahl hat in Deutschland allgemein überrascht, am meisten aber hat in unseren Kreisen das Verhalten der Pariser Arbeiter überrascht, die sich in ihrer Mehrzahl einfach erbärmlich benommen haben. Mit der sozialistischen und klassenbewussten Gesinnung der Pariser Arbeiter muss es sehr traurig aussehen, wenn von 436.000 abstimmenden Wählern nur gegen 17.000 Stimmen auf einen sozialistischen Kandidaten fallen und ein Hanswurst und Demagog, wie Boulanger, 244.000 Stimmen erhält.


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