August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 967, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 2, 11. Januar 1889, S. 5 f.]

:: Aus Norddeutschland, 8. Januar. Das Jahr fing gut an. Verläuft es so alle übrigen einundfünfzig Wochen wie die erste, dann macht es uns Freude.

Gleich am Beginne desselben wurde die Welt mit der Nachricht überrascht, der deutsche Kaiser habe dem unter seinem Vorgänger entlassenen Puttkamer reaktionären Angedenkens den höchsten preußischen Orden verliehen. Die so demonstrative Auszeichnung ist eine Kundgebung der eigenen Herzensmeinung des Kaisers, bei dem Herr v. Puttkamer persona gratissima, Liebling seines Herzens, ist, und sie war zugleich eine scharfe Desavouierung seines verstorbenen Vaters, des Kaisers Friedrich, der Puttkamer so unzeremoniell entließ. In dem verstorbenen Vater und dem lebenden Sohn kamen die beiden sich gegenüberstehenden Anschauungen innerhalb der bürgerlichen Welt in Deutschland zum klassischsten Ausdruck. Der Vater huldigt den liberalen Ideen in jeder Richtung und hätte sie, wenn er als gesunder Mann an die Regierung kam, zu verwirklichen gesucht, vorausgesetzt, das die Hauptstütze des heutigen Staates, die Bourgeoisie, ihn nicht aus Angst und Feigheit vor der Verwirklichung ihres eigenen früheren Programmes, verließ. Der Sohn ist die personifizierte moderne Reaktion, fromm bis zum Äußersten, womit freilich gewisse Taten schwer stimmen, Repräsentant des Militarismus und des politischen Rückschrittes, mit einem starken Stich ins Feudale, kurz Freund jeder Rückwärtserei, welcher heute auch unsere Bourgeoisie huldigt.

Herr v. Puttkamer ist nun der vornehmste Typus dieser Rückwärtserei. Rücksichtslos und zynisch-frivol, aber dabei äußerlich von Frömmigkeit triefend, schreckt er gegen den politischen Gegner vor keiner Schandtat zurück, wenn sie dem System zum Nutzen gereicht. Wenn einmal die Monarchie in Deutschland einen Organisator des weißen Schreckens brauchte, dann ist Herr v. Puttkamer der rechte Mann. Wir sind überzeugt, er rechnet sich das selbst zum Lobe an und wir wollen ihm zum Lobe nachsagen, das er sich nie anders gab, als er war; die ihn für anders hielten, sind Gimpel ohne Verstand und ohne Menschenkenntnis.

Empfängt nun so Einer eine der höchsten Auszeichnungen, die der Throninhaber zu vergeben hat, dann beleuchtet dies grell die Lage, in der wir uns befinden. Klarheit in der Politik ist aber ein großer Vorzug und darum freuen wir uns der Auszeichnung, die unser Feind, Freund Puttkamer, erhielt. – „Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich.“ –

Am 4. Januar ist der des Landesverrats angeklagte Dr. Geffken aus der Haft entlassen worden. Da Geffken auf Betreiben Bismarcks (bekanntlich wegen der Veröffentlichung der Auszüge aus Kaiser Friedrichs Tagebuch, in welchen Bismarck und so mancher Andere etwas schlecht wegkam) unter Anklage gestellt wurde, ist die Entlassung Geffkens und die Niederschlagung der Untersuchung, eine persönliche Niederlage Bismarcks und noch eines Andern, welcher den Befehl zur Erhebung der Anklage gut geheißen hatte.

Die ganze unabhängige Presse des Auslandes behauptet frei und frank, und die inländische Presse, soweit sie noch unabhängig ist, sagt es verblümt: die Anklage gegen Geffken sei nur ein Racheakt gegen den verstorbenen Kaiser gewesen, den man selbst nicht auf die Anklagebank habe bringen können. Um so wuchtiger trifft der Ausgang des Prozesses seine Urheber. Die servile Presse tröstet sich, das das Reichsgericht angeblich die Niederschlagung des Prozesses wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit Geffkens habe angeordnet. Es mag sein, das das Reichsgericht Gründe in den Vordergrund schob, die geeignet sind, den Zorn der Urheber der Anklage zu mäßigen. Das ändert aber bei keinem Vernünftigen das Urteil über diese Anklage, von welcher der deutsche Kaiser schon im Oktober gesagt haben soll: „Es wird nicht viel dabei herauskommen“. Das ahnte man also und doch leitete man den Prozess ein, der nun mit einer offenkundigen großartigen moralischen Niederlage für seine Urheber endete.

Wir sind mit diesem Resultat außerordentlich zufrieden, sind’s die Gegner auch, uns kann’s recht sein.

Der dritte Schlag betrifft die Affäre Morier-Bazaine, Herr Morier, zur Zeit des deutsch-französischen Krieges englischer Gesandter in Darmstadt und, wie besonders hervorgehoben zu werden verdient, Freund des verstorbenen Kaisers Friedrich, wurde offiziös und schließlich offiziell beschuldigt, dem Marschall Bazaine um die Tage des 13.–16. August 1870 landesverräterische Depeschen über die Rettung der deutschen Armeen haben zukommen lassen. Bazaine soll dies einem deutschen Offizier bei der Gesandtschaft in Madrid mitgeteilt haben. Diese denkbar schwerste Beschuldigung gegen einen Gesandten einer befreundeten Macht hat Herr Morier als Verleumdung gebrandmarkt und sucht das zum Überfluss noch durch einen Brief Bazaines, der entschieden bestreitet, die Beschuldigungen erhoben zu haben, zu widerlegen. Alle Welt fragt sich, wie kann man eine solche Beschuldigung jetzt erst erheben, nachdem Bazaine tot ist und nachdem man dieselbe seit Jahren wusste? Und wie kann man einem Menschen wie Bazaine, der zuletzt geistig schwach geworden und sein Leben lang ein Mann zweifelhaften Charakters war, ohne weiteres glauben?

Auch hier spielt wieder der Hass gewisser Kreise gegen den zuletzt verstorbenen Kaiser eine Hauptrolle. In Morier sollte letzterer diskreditiert werden, wie man in Geffken denselben moralisch auf die Anklagebank zu bringen gedachte. Wie im Falle Geffken, so auch im Falle Morier fällt der Schlag auf die Urheber zurück.

Uns lassen diese Streitigkeiten der herrschenden Klassen und Personen unter sich im Ganzen kühl. Aber hier handelt es sich um symptomatische Erscheinungen, welche die maßgebenden Strömungen innerhalb der Kreise zeigen, welche die Völker regieren. Danach scheint die Nervosität das Ruder in der Hand zu haben. Apathisch und meinungslos die herrschenden Klassen und exzentrisch nervös ihre Leiter, das ist das Bild, was sich uns zeigt. Wenn das so fortgeht, kann’s gut werden. –

Ein recht interessantes Licht wirft auf unsere Situation eine Äußerung des Militär-Wochenblattes In seinem Artikel, der eine Rückschau über das verflossene Jahr enthielt, heißt es: „so viel wie jetzt ist in Friedenszeiten nie in der Armee gearbeitet worden, Alles ist neu gestaltet! Wahrlich, wir sind hart an der Grenze unserer Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit angekommen.

Und ein anderes Blatt gleicher Tendenz äußert sich: Die Fortschritte in den Rüstungen und in der Vermehrung der Truppenzahl überstürzen sich in solcher Hast, dass wir nicht zu sagen vermögen, ob wir noch unseren Gegnern in Beidem überlegen sind.“

Das sind Geständnisse, die nicht hoch genug angeschlagen werden können. Es fängt selbst Denjenigen an, vor unserer Zukunft zu grauen, welche professionsmäßig diese immer größeren Rüstungen zu betreiben haben und eigentlich sich darüber freuen sollten. –

65 Generale und 165 Stabsoffiziere sind im besten Jahre verabschiedet worden oder mit Tod abgegangen. Durch Tod aber die wenigsten. Das Geheimnis dieser Massenpensionierungen ist: es stockten die Avancements, die jüngeren Elemente werden unzufrieden und da alle Welt sich vor dem Kriege fürchtet, der der beste Avancementshelfer ist, weil sein Ausgang in Dunkel gehüllt ist und eine Welt in Verwirrung stürzt, muss künstlich nachgeholfen werden. Das deutsche Volk zahlt die Kosten in der Erhöhung des Pensionsfonds, der 1879/80 etwas über 17 Millionen betrug, für 1889/90 aber mit 34,510.000 M. veranschlagt ist. Zahlen reden.

In den letzten Tagen des abgelaufenen Jahres ging die 1½jährige Haft zu Ende, welche der Student Fux im Breslauer Geheimbundsprozess im Jahre 1887 erntete.

Die deutschen Arbeiter rüsten sich zu großen Lohnkämpfen, welche das Frühjahr beginnen werden. Allüberall rührt sich’s in einer Weise, dass einem das Herz lacht. Die Zigarrenarbeiter berufen für Ostern einen Kongress zusammen. Ebenso wird ein solcher der deutschen Maurer stattfinden. Dieselben waren bisher in zwei Lager gespalten und wird der Kongress die Versöhnung bringen.

Zu den freudigen Ereignissen dieses erst begonnenen Jahres zählen wir aber auch in erster Linie den glänzenden Verlauf des österreichischen Arbeitertages, dessen Verhandlungen von der deutschen Arbeiterpresse mit Aufmerksamkeit verfolgt und berichtet wurden. Wir brauchen nicht erst zu versichern, das die Wünsche der deutschen sozialistischen Arbeiter für den Fortgang der Bewegung in unserem Nachbarstaate Österreich die allerbesten und die wärmsten sind. –


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