August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 966, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 1, 5. Januar 1889, S. 6 f.]

:: Aus Norddeutschland, 1. Januar. Achtzehnhundertneunundachtzig! Das Jubeljahr der großen französischen Revolution, das Siegesjahr der bürgerlichen Welt, von welchem die Ära der bürgerlichen Ordnung der Dinge auf dem europäischen Kontinent datiert, hat begonnen. Aber kein Jubelruf ertönt aus den Reihen Derer, die jenem großen Ereignis ihre Existenz, ihre Entwicklung, ihr Alles verdanken. Der junge Riese, der vor hundert Jahren die Weltbühne betrat, hoffnungs- und siegesfreudig, himmelanstürmend, die alte Welt aus den Angeln hebend, eine neue Welt begründend, politische, soziale, gesellschaftliche Einrichtungen schaffend, die das Antlitz und das Wesen der Gesellschaft von Grund aus änderten, ist heute ein übersättigter gebrochener Greis, dem die Greisenhaftigkeit aus jedem Zuge blickt, dem keine Hoffnung mehr winkt, dem die einst vor Enthusiasmus und Menschenliebe überquellende Brust, gleich wie ein ausgebrannter Vulkan, erstarrt ist.

Enthusiasmus? Schwindel! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Schwindel! Allgemeine Menschenrechte? Schwindel! statt dessen ist die Losung: Verdienen ! Verdienen! und wieder Verdienen! Rafft Gold zusammen, so weit Ihr könnt, und wenn Ihr dabei Millionen Menschenleben zerknickt und zertretet? Sieh! was liegt daran! Sehe jeder, wo er bleibe, sehe jeder, wie er’s treibe, und wer steht, das er nicht falle! Jeder ist sich selbst sein Gott, ein Narr wer an Andere denkt. Das ist die Moral der Epigonen, die ihren Vätern aus der großen Revolution folgten. Sie haben keine Illusionen, aber auch keine Ideale mehr, sie leben nur noch ihrem Bauche und verprassen und verjubeln leichtsinnig in einer Nacht, was hunderte von fleißigen Händen, die sie in ihren Dienst gepresst, in vielen Tagen für sie mühsam erwarben.

„Zum Teufel ist der Spiritus, das Phlegma ist geblieben.“ Das Phlegma und die Apathie, die jeden Übersättigten erfassen. Nur Eins haben sie sich bewahrt: den Hass, unterstützt von der Angst, gegen die, welche von ihnen unterdrückt und ausgebeutet werden, denen sie ihr Menschenrecht vorenthalten und die heute als die besten und gelehrigsten Schüler der Väter ihrer Unterdrücker an die Türen pochen und auch ihr Teil am Lebensgenuss und Menschenwürde verlangen. Ja, ja, die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Im Namen Aller und zum Besten Aller treten sie das Erbe der alten Gesellschaft an und wucherten mit ihrem Pfund, aber nur zu ihrem eigenen Besten. Diejenigen, die für sie schanzen und schaffen, speisen sie mit einem Gnadenbrot ab, gerade groß genug, um ihnen das Leben zu ermöglichen und neue Heloten zu zeugen.

Doch die Vergeltung naht. Geschult in der Schule ihrer Herren, in Massen zusammengeschweißt durch das ökonomische System, das in diesen hundert Jahren seiner Herrschaft zu großartigster Blüte gelangte, haben die Massen ihre Kräfte kennen gelernt und formulieren nun ihre Forderungen. Immer größer wird die Zahl der selbstbewusst Auftretenden, immer mächtiger schwellt die Bewegung an, ein Strom, der schließlich kein Hindernis mehr kennt.

Das ökonomische System, das die Massen bedrückt und in Banden hält, ist gleichzeitig die Quelle, aus welcher die Bewegung immer neue Nahrung schöpft, um schließlich die weltgebietende Macht zu werden. Sie wird nach dem Beispiel der großen Revolution eine neue Ordnung der Dinge erzeugen, in der es keine Unterdrückten und keine Herrscher mehr gibt, die in der Tat und in der Wahrheit verwirklicht, was die Männer von Neunundachtzig und Dreiundneunzig nur in der Phrase versuchen konnten.

Das jetzt zu Ende gegangene Jahr hat, vor Allem in Deutschland, mächtig in diesem Sinne gewirkt. Die Grundursache der neuen sozialen Bewegung, das kapitalistische Produktionssystem, hat in diesem Jahre wiederum große Fortschritte gemacht. Die großen Aktiengesellschaften, diese höchste Blüte des Systems, sind im vergangenen Jahre in den verschiedensten Industriezweigen, wie Pilze aus dem Boden gewachsen. Neue Unternehmerringe und Kartelle zur Aussaugung des Publikums sind geschlossen worden. Neue Fabriken sind in Masse erstanden und vermehren die Konkurrenz der bestehenden, bringen das Zwerggewerbe in immer schwierigere Lage. Kurz, wir haben ein Jahr von leidlicher Prosperität hinter uns, ein Jahr der Prosperität, das unter dem heutigen Wirtschaftssystem ebenso schlimm wirkt, als ein Jahr der Krisen. Der Prosperität folgt die Krise, und zwar um so heftiger, je blühender die Epoche der Prosperität sich gestaltete. sehen unsere Kapitalisten dem neuen Jahre mit Hoffnung entgegen, weil es die Ernte fortsetzen wird, die das alte angefangen, so sehen wir ihm noch viel hoffnungsvoller entgegen, weil es die Katastrophe beschleunigt, welcher die bürgerliche Gesellschaft, kraft des ihr innewohnenden Gesetzes der Entwicklung, entgegeneilt.

Der ökonomische Zersetzungs- und Auflösungsprozess wird durch den politischen ergänzt. Auf politischen Fortschritt hat das deutsche Bürgertum Verzicht geleistet. Die paar Idealisten, welche seine alten Forderungen nach politischer Freiheit noch vertreten, sind Offiziere ohne Armee, die aus jedem Wahlkampf dezimiert hervorgehen. Das Bürgertum befindet sich in der Defensive. Die aufstrebende Arbeiterklasse ist das Gespenst, das es nicht zur Ruhe kommen lässt, das wie Banquos Geist es im Wachen und im Schlafe verfolgt, ihm den ruhigen Genuss des Gewonnenen stört. Darum ist: Rückwärts, immer rückwärts! sein Feldgeschrei. Maßregeln, die einst von seinen Unterdrückern gegen es selbst angewandt, von ihm auf das Heftigste verurteilt und bekämpft wurden, wendet es heute mit Wollust gegen die von ihm Unterdrückten an. Und doch macht es damit an sich dieselbe Erfahrung, die einst seine Verfolger an sich machten. Die Gewaltmittel versagen und schlagen in ihr Gegenteil um. Glänzender konnte das nicht bewiesen werden, als durch die zehnjährige Feier des Sozialistengesetzes, die nicht, wie man hätte erwarten sollen, die Macher des Gesetzes begingen, sondern diejenigen, gegen die es gemacht wurde. Eine größere Ironie kann die Geschichte nicht erzeugen.

Was haben all die Verfolgungen gegen die bewussten Vertreter der Arbeiterklasse genützt? Der größte Gegner der Sozialdemokratie muss zugeben: günstigsten Falls nichts. Kein Jahr weist soviel Geheimbundsprozesse auf als das verflossene. Hunderte wurden verurteilt, Dutzende erlebten den Beginn des neuen Jahres in den Gefängnissen, andere Dutzende werden in diesem Jahre die im alten begangenen „Sünden“ verbüßen! Aber ist durch alles dass auch nur eine Seele dem Sozialismus verloren gegangen? Nicht nur Keine ist verloren, sondern Tausende sind gewonnen worden.

Und wie die Signatur der inneren Politik der chronische Bankrott ist, so ist das Gleiche bei der äußeren der Fall. Rüstung folgt auf Rüstung, Schulden häufen sich auf Schulden, vermehrte Steuern und Lasten im Gefolge führend. Und alle diese Riesenanstrengungen werden nur gemacht, um uns angeblich den Frieden nach Außen zu sichern, der niemals gefährdeter war, als seitdem diese ins Wahnsinnige sich steigernden Rüstungen begannen.

Auch diese Wahnsinnstaten, anders kann man sie nicht bezeichnen, gehören zu dem Ensemble von Umständen, welche das herrschende Wirtschafts- und politische System mit Notwendigkeit aus sich selbst heraus gebiert und die schließlich zu seinem Untergange führen. Die äußere Politik ist nur das Komplement, die Vervollständigung der inneren. Der innere Druck und die wachsende Unzufriedenheit im Innern muss durch die Ablenkung der Aufmerksamkeit nach Außen und die Kriegssucht paralysiert werden. Das Volk darf nicht zum Nachdenken, es darf vor Aufregung nicht zur Besinnung kommen. Das geht so lang es geht. Aber einmal kommt die Masse doch hinter das mit ihr getriebene Spiel und gerade dann, wenn man’s Oben am wenigsten wünscht.

Über all das zu klagen, liegt kein Grund vor. So lange Klassenherrschaft existiert, vollzieht sich der große Fortschritt nur durch zeitweilige Katastrophen. Ob wir’s wünschen, ob’s die Gegner fürchten, ist gleich Man stellt nicht melancholische Betrachtungen an, man rechnet mit vorhandenen Faktoren. Es ist der Geschichte ehernes Muss, das sich vollzieht, und so begrüßen wir diese ganze Entwicklung als durchaus notwendig und uns immer rascher zum Ziele führend mit Freuden.

Unsere Hoffnung und unser Wunsch ist, das Jahr 1889 möchte uns in dieser Richtung einen tüchtigen Ruck vorwärts bringen.

* *

*

Die verflossenen Weihnachtsfeiertage tagten zwei Arbeiterparlamente. Zu Weimar waren die deutschen Schlosser vereinigt und zählten 70 Delegierte aus 41 Orten, in Braunschweig die deutschen Tischler, welche aus 46 Orten durch 56 Delegierte vertreten waren. Der im letzten Briefe gemeldete verbotene deutsche Tischlehrkongress wurde nachträglich noch genehmigt. Die Polizei war wieder einmal das Opfer eines „Irrtums“; sie glaubte den Unterstützungs-Verband der deutschen Tischler im Tischlehrkongress vor sich zu haben und nahm dass Verbot zurück, als sie über den „Irrtum“ aufgeklärt wurde. schließlich genehmigte sie aber auch, das die auf dem Kongress anwesenden Mitglieder des Unterstützungs-Verbandes eine Versammlung abhalten durften. „Liebet die Brüder, “ rief der Minister von Bötticher neulich dem versammelten Reichstag bei der Beratung der Alters- und Invalidenversicherungsvorlage zu. Und dessen erinnerte sich wohl die Braunschweiger Polizei, als sie ihren staatsretterischen Eifer selbst dämpfte. Das find so die kleinen Mittelchen und Praktiken, womit man einer großen weltbewegenden Bewegung glaubt Herr werden zu können. O sancta simplicitas!

Ein wirkliches Bild der Bruderliebe zeigt der Verwaltungsbericht „der Zentral-Kranken- und Sterbekasse der Tischler und anderer gewerblicher Arbeiter“ für das III. Quartal des verflossenen Jahres. Darin heißt es unter Anderem: Mit besonderer Genugtuung können wir auf das Ergebnis dieses Quartals zurückblicken, da dasselbe für die Kasse als ein außerordentlich günstiges zu bezeichnen ist, indem bei einer Einnahme von 395.603,43 M. ein Überschuss von 101.525,70 M. oder 27 Prozent erzielt wurde. Das Kassenvermögen, welches sich am Schlusse des Jahres 1887 auf 506.427,87 M. belief, beträgt am Schlusse des dritten Quartals 628.155,76 M., also ein Mehr von 121.727,39 M. Der Reservefond, welcher zinstragend angelegt ist, betrug bei Schluss des dritten Quartals 524.658,23 M. Heute, bei Fertigstellung der vorstehenden Abrechnung, sind bereits über 600.000 M. zinstragend angelegt. Wir sind also in der glücklichen Lage, unseren Mitgliedern mitteilen zu können, das wir in diesem Jahre nicht allein die gesetzlich vorgeschriebene Rücklage für den Reservefonds, sondern auch den größten Teil desjenigen Kapitals, welches zur Ergänzung desselben nötig war, erübrigt haben. Auch noch in einer anderen Beziehung hat das dritte Quartal recht günstige Resultate erzielt, indem die Mitgliederzahl um 1000 gestiegen ist. Dieselbe betrug am Schlusse des Quartals mit den Einzelmitgliedern 71.297.

Örtliche Verwaltungsstellen zählte die Kasse am Schlusse des Quartals 720. (Bravo!)


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert