[Nr. 960, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 51, 22. Dezember 1888, S. 5, Auszugsweise in Ausgewählte Reden und Schriften, Band 2, S. S. 516-518]
:: Aus Norddeutschland, 18. Dezember: Unsere Voraussetzung, die Leipziger Angeklagten würden sich über die „Milde“ ihrer Richter nicht zu beklagen haben, ist voll und ganz eingetroffen. Die 12 Angeklagten wurden sämtlich der Geheimbündelei für schuldig erachtet und mit 4 bis zu 10 Monaten Gefängnis bestraft Dieses harte Urteil entspricht nicht den vorgelegenen Tatsachen, wohl aber dem Geist, der die Leipziger Richter seit einigen Jahren beseelt. Früher konnte man dort auf ein objektives Urteil rechnen, aber seit Jahren hat, so scheint es, gegnerischer Hass und Fanatismus in politischen Prozessen die Oberhand gewonnen, denn nirgends in Deutschland werden so harte Urteile gefällt als in Leipzig. Der reaktionäre Geist, welcher über dem Reichsgericht schwebt, hat auch die Übrigen richterlichen Kreise Leipzigs erfasst. Das Wort „Klassenjustiz“ liegt auf Aller Zunge.
Der deutsche Kaiser lässt nicht nur seine Reden berichtigen, sondern auch seine Strafanträge. Letztere, welche er gegen die „Kieler Zeitung“ und die „Freis. Zeitung“ anhängig gemacht hatte, weil sie Kapitel aus den Tagebüchern seines Vaters aus den Jahren 1866 und 1870–71 abgedruckt hatten, eine Veröffentlichung, die ihm als Erben allein zustände, diese Strafanträge hat er zurückgenommen. Das geschah sicher nur nach gewonnener Erkenntnis, das er mit der strafrechtlichen Verfolgung Schiffbruch litte. Das „Erbrecht“ des Kaisers an die Tagebücher seines Vaters erscheint sehr zweifelhaft, sintemalen dieselben sich in den Händen einer ganzen Reihe von Personen befinden sollen. Gut, dass dem so ist, Die Welt würde sonst noch auf lange hin gewisse geschichtliche Vorgänge aus den Jahren 1870–1871 in sehr gefärbtem und erkünsteltem Lichte gesehen haben.
Die Geschichtsfälschung unserer Tage, wo doch die Mittel der Kontrolle ganz andere sind, als in früheren Zeiten, lässt oft die Frage gerechtfertigt scheinen: Was ist an der Darstellung der älteren Geschichte wahr, wenn wir in der Gegenwart schon so belogen werden.
Herr Geffken, der durch seine Veröffentlichungen aus dem kaiserlichen Tagebuch das Geschichtsbild von 1870–71 ein wenig entschleiern half, sitzt noch immer hinter Schloss und Riegel. Angeblich soll die Voruntersuchung geschlossen sein, von anderer Seite wird dies bestritten. Ob das gewünschte Resultat herauskommt, ist mehr als zweifelhaft. Versumpfen kann man den Fall aber auch nicht lassen, dafür ist das öffentliche Interesse an demselben zu groß.
Das Deutsche Reich wird nunmehr mit aller Macht in die Bahnen einer sehr bedenklichen und auf alle Fälle sehr kostspieliger Kolonialpolitik gelenkt.
Es ist die alte Geschichte, wer A sagt, muss auch B sagen und würden ihm die Konsequenzen noch so unangenehm. Erst ließ man sich darauf ein, weil man selbst sich scheute, die Sache ihrer Gefährlichkeit und Kostspieligkeit halber selbst in die Hand zu nehmen, gewisse Gebiete Ostafrikas der aus deutschen Kapitalisten und „schneidigen“ Leutnants gebildeten Ostafrikanischen Gesellschaft zur Kolonisation zu überlassen und ihr einen sogenannten Schutzbrief darüber auszustellen. Nachdem aber nunmehr die Gesellschaft durch ihre unverantwortlichen Dummheiten, Taktlosigkeiten und Gewalttätigkeiten die Eingeborenen zum Aufstand reizte und sie finanziell bankrott ist, soll die „Ehre“ und das „nationale Interesse“ Deutschlands im höchsten Maße auf dem Spiele stehen und soll das Reich verpflichtet werden, den in den tiefsten Schmutz geschobenen Karren zu retten.
Die Verletzung der „nationalen Ehre“ und der „nationalen Interessen“ sind die Schlagworte, womit heute die Völker noch immer geködert und verantwortlich gemacht werden, für die Fehler der regierenden und herrschenden Klassen. Von der ganzen Kolonialpolitik hat das arbeitende Volk nicht das Geringste zu erwarten, sie wird nur im Interesse einer kleinen Clique von Kapitalisten „um Millionen zu züchten“ in Szene gesetzt. Nebenbei ist sie ein famoses Mittel, die Aufmerksamkeit von den inneren Zuständen und der weißen Sklaverei im eigenen Lande abzulenken. Gründe genug, um in das große Horn zu stoßen und an die Opferwilligkeit des Volkes zu appellieren.
Der katholische Klerus kommt dabei der Regierung und den herrschenden Klassen zu Hilfe. Die Frage der Befreiung der Sklaverei – in Innerafrika wird aufs Tapet gebracht. Die Vorgänge werden in den grellsten und übertriebensten Farben geschildert und so dargestellt, als seien wir verpflichtet, Hals über Kopf Kulturzustände mit dem Aufgebot aller Mittel zu beseitigen, die bis vor ganz Kurzem sich in den allerchristlichsten Staaten breit machten und von dem Pfaffentum aller Konfessionen verteidigt wurden. Wir erinnern nur an die Zustände in den Vereinigten Staaten, welche zu Anfang der sechziger Jahre den großen Sezessionskrieg hervorriefen, nicht weil es sich um ein christliches wie humanes, sondern um ein ökonomisches Interesse handelte. Die Konservativen in fast ganz Europa standen damals auf Seiten der Sklavenbarone, namentlich die Baumwollenlords im puritanischen England. Und einer der best katholischen Staaten, Brasilien, hat erst in diesem Jahre die Sklaverei, wenigstens auf dem Papier, aufgehoben, ganz wesentlich ebenfalls aus ökonomischen Gründen. Die Sklavereifrage ist überhaupt keine Frage der Religionsform, sondern der Produktionsform. Die Religion wird nur benützt, um den materiellen Interessen Vorschub zu leisten. In Innerafrika und anderwärts sind die christlichen Missionare nichts als die Pioniere des Kapitalismus, sie haben die Aufgabe, ihm dass Menschenmaterial möglichst knetbar und gefügig zu machen, und so erklärt sich, wie die Kirche und das Kapital, einerlei ob letzteres in katholisch- oder protestantisch-christlichen oder jüdischen Händen ist, in dieser Frage so einmütig zu einander stehen. Man appelliert im Namen der „christlichen Zivilisation“ – auch eines dieser schönen Schlagworte, welches die Heuchelei an der Stirne trägt, denn unsere Zivilisation ist so unchristlich als möglich – an die Dummen, welche nie alle werden, in Wirklichkeit handelt es sich um den modernen Kapitalismus.
Am letzten Freitag stand ein Antrag Windhorst auf der Tagesordnung des Reichstags, wonach Letzterer seiner Sympathie für die Sklavenbefreiung in Afrika Ausdruck geben sollte. Die Debattierung des Antrags gestaltete sich, wie vorauszusehen war und auch gewünscht wurde, zu einer Erörterung der ostafrikanischen Kolonisationsfragen. sie bot aber auch dem jungen Bismarck die Gelegenheit zu der Erklärung, das Deutschland in Ostafrika mit der Schaffung einer Kolonialtruppe vorgehen werde, um das Schutzgebiet gegen die Angriffe der Meuterer, die doch nichts tun, als ihr „Vaterland’“ gegen fremde Eindringliche verteidigen, was nach den Begriffen unserer „christlichen Zivilisation“ die edelste Handlung ist, welche der Mensch begehen kann – zu sichern und dem Sklavenhandel ein Ende zu bereiten. Dass Volk darf sich also auf die Verausgabung ungezählter Millionen zur Wahrung seiner „Ehre“ gegen die Afrikaner gehetzt machen. Wer aber bezahlt diese Summen? Unsere Kapitalisten und Handeltreibenden, welche allein den Vorteil von diesem Unternehmen haben werden? Bewahre, die Kosten zahlen in der Hauptsache die Arbeiter, welche auf dem Wege der indirekten steuern die Kassen des Reichs füllen müssen.
Um angeblich die afrikanischen Sklaven zu befreien, drückt man unsere weißen Sklaven durch das erneute Ansetzen der Steuerschraube zu innerer niedrigerer Lebenshaltung herab. Und das nennt sich eine Lösung der Sklaverei
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