[Nr. 959, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 50, 15. Dezember 1888, S. 5]
:: Aus Norddeutschland, 11. Dezember. Die Auslegung der Wahllisten zur Einsichtnahme der Breslauer Wähler zum 14. d. M. kündigt an, das die Wahl etwa Mitte Januar stattfinden dürfte. Dies veranlasste das Breslauer Polizeipräsidium, bekannt zu machen, dass Sammlungen für die Wahl eines sozialdemokratischen Kandidaten unter Hinweis auf das Sozialistengesetz verboten seien. Das Breslauer Polizeipräsidium sieht hiernach in der Wahl eines sozialdemokratischen Abgeordneten eine auf „den Umsturz der bestehenden staats- und Gesellschaftsordnung“ gerichtete Handlung. Das ist nicht übel. Entspricht diese Auslegung dem Sinn und Geist des Sozialistengesetzes, so wäre die einfache Konsequenz, die Wahl von sozialistischen Abgeordneten überhaupt zu verbieten. Das möchte gar vielen unserer Gegner aus dem Herzen gesprochen sein, aber dies auch offen auszusprechen, dazu haben sie sich noch nicht aufraffen können, sie hatten noch nicht den Mut dazu. Vielleicht kommt auch das noch. Nach der neulichen Rede des Herrn v. Bennigsen gegen Liebknecht dürfte man sich über eine solche Interpretation oder Umgestaltung des Gesetzes nicht wundern.
In den letztwöchentlichen Verhandlungen des Reichstages spielte die Beteiligung der unpolitischen Militärvereine bei politischen Aktionen (wie Wahlen) eine große Rolle. Die Debatte war unseren Majoritätsparteien sehr unangenehm, wurde doch dadurch eines der Hauptmittel, mit welchem sie bei den Februarwahlen des Jahres 1887 auf die Massen gewirkt hatten, einer ihnen höchst unliebsamen Kritik unterzogen. Zwar weigerte sich der Kriegsminister klare Antwort über die an ihn gestellten Fragen zu geben, trotzdem ist nicht zweifelhaft, das künftig die gleichen Machinationen nicht vorkommen. Die öffentliche Kritik übt ihre Wirkung.
Der Abg. Bebel richtete bei dieser Gelegenheit eine Anfrage an den Kriegsminister in der Prozesssache wider Ehrenberg, dem bekanntlich Gelegenheit gegeben wurde, sich rechtzeitig der Untersuchungshaft durch die Flucht zu entziehen. Bebel wollte wissen, warum das Karlsruher Militärgericht, trotz der vorliegenden erdrückenden Beweise auf Hoch- und Landesverrat gegen v. Ehrenberg, diesen habe laufen lassen, und sprach den Verdacht aus, das Ehrenberg entweder sehr hohe Gönner habe, die ihn schützten, oder dass derselbe, was er glaube, agent provocateur sei und im Dienste der Geheimpolizei stehe. Der Kriegsminister antwortete auch hier ausweichend. Die Militärgerichte gingen ihn nichts an, der Fall v. Ehrenberg interessiere ihn nicht mehr als andere ähnliche Fälle, gegen den Einfluss der geheimen politischen Polizei seien nach seiner Überzeugung die Militärgerichte gefeit. Diese ausweichende Antwort machte auf verschiedenen Seiten im Reichstag einen überraschenden Eindruck. Aber die Verwunderung wird aufhören, sobald öffentlich bekannt wird, das es mittlerweile den Sozialdemokraten gelang, herauszubekommen, das v. Ehrenberg wirklich im Dienste der Geheimpolizei stand und seine Berichte aus der Schweiz an die Polizei nach Frankfurt a. M. richtete. Bebel hatte also vollkommen recht, wenn er behauptete, es handle sich im Falle Ehrenberg um ein gegen die sozialdemokratischen Führer gerichtetes niederträchtiges Bubenstück, indem v. Ehrenberg die Aufgabe gehabt habe, durch seine gefälschten und erlogenen Berichte und den von ihm begangenen hoch- und landesverräterischen Handlungen eine Reihe von Personen im Kriegs- falle auf Hoch- und Landesverrat hineinzulügen und diese Personen für immerzu vernichten. Solche die öffentliche Entrüstung herausfordernde Dinge sind heute im Deutschen Reiche möglich, in diesem Reich, das seine glühendsten Verehrer nach seiner Gründung „das Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte“ zu nennen beliebten. In der Staatsraison dieses Reiches merkt man weder das Eine noch das Andere, wohl aber sehr viel von dem, was jeden Klassen- und Erobererstaat auszeichnet, rücksichtslose Unterdrückung alles dessen, was dem herrschenden System opponiert und widerspricht. –
Der Verlauf der Generaldebatte über die Alters- und Invalidenversorgung der Arbeiter hat den schon früher in Aussicht gestellten Verlauf genommen. Die Redner aller Parteien hatten sehr Wesentliches an dem Entwurf auszusetzen und es ist nicht abzusehen, wie diesen Bedenken in der Kommissionsberatung abgeholfen werden soll. Im Namen der Sozialdemokratie sprach Grillenberger, welcher in einer über zwei Stunden dauernden sehr guten Rede scharfe Kritik übte und die Forderungen der Partei formulierte. Grillenberger war der erste Redner, der aus dem Hause zu dem Entwurf sprach. Diese Höflichkeit hatte man gegen die eigentlichen Vertreter der Arbeiter geübt – und seine Ausführungen zwingen alle nachfolgenden Redner, sich mit denselben zu beschäftigen.
Die sozialdemokratischen Abgeordneten haben die Aufhebung der Getreide- und Mehlzölle beantragt. Die Debatte darüber wird erst nach den Weihnachtsferien stattfinden. Aussicht auf Annahme hat der Antrag nicht, aber er gibt einer tiefen Missstimmung in den Massen über die steigenden Brotpreise Ausdruck und seine Debattierung ist geeignet, die Brotverteuerer einmal wieder gründlich anzunageln.
Den 15. Dezember beginnt in Leipzig wiederum ein Sozialistenprozess wegen Geheimbündelei. Es ist schwer zu sagen, der wievielte dieser in der großen Seestadt an der Pleitze seit fünf Jahren ist. Die armen Angeklagten werden schwerlich Ursache bekommen, sich über die „Milde“ ihrer Richter zu beklagen.
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