[Nr. 952, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 48, 1. Dezember 1888, S. 6 f.]
:: Aus Norddeutschland, 27. November. Die in unserer letzten Korrespondenz erwähnten, auf Antrag des Elberfelder Untersuchungsrichters vorgenommenen Haussuchungen bei‘ den Herren Singer und Bebel, sind auch bei dem Reichstags-Abg. Meister in Hannover und bei den Herren Auer und Viereck in München vorgenommen worden. Die drei letztgenannten hatten außerdem polizeiliche Verhöre zu bestehen. Ein greifbares Resultat haben diese Hausdurchsuchungen nicht gehabt.
Nach zwölftägiger Verhandlung ist der Düsseldorfer Geheimbundsprozess endlich zu Ende gegangen. Das Resultat entspricht nicht entfernt dem aufgewendeten Apparat. Die Staatsanwaltschaft hatte an hundert Belastungszeugen von allen Richtungen der Windrose zitieren lassen, darunter einige Subjekte recht zweifelhaften Rufes – unter andern eine unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Dirne – welchen die Verteidigung nur wenige Entlastungszeugen entgegenstellte. Das Urteil des Gerichtshofes lautete, das Tischler Lehmann als die „Seele“ der Verbindung 6 Monate, 10 der Angeklagten von 3 Wochen bis 3 Monaten und einer 1 Woche Gefängnis erhielt. 6 wurden freigesprochen. Der Staat ist wieder einmal gerettet und im Übrigen bleibt Alles beim Alten.
Der Reichstag ist Donnerstag mit einer Thronrede eröffnet worden, die durch geschäftsmäßige Kühle sich auszeichnet. Irgend welche Erwartungen sind dadurch nicht getäuscht worden. Auffallend ist die häufige Anrufung Gottes in dem verlesenen Aktenstück, man sollte glauben, es handelte sich um irgend eine Kirchenversammlung.
Die Ankündigungen über die sozial-politische Gesetzgebung beschränken sich auf die Mitteilung, das die Alters- und Invalidenversicherungsvorlage sofort dem Reichstag werde zugehen, welche wohl „einen gangbaren Weg“ zur Erreichung dieses Zieles bringe. Einige Tage zuvor waren bereits die neuen Abänderungsbeschlüsse des Bundesrates an der Vorlage bekannt geworden, die durch ihre Jämmerlichkeit die kühnsten Erwartungen überboten. Die Lumpensumme von 120 M. Altersversorgung, die nach dem ersten Entwurf der Arbeiter nach 54jähriger Steuerzahlung erhalten soll, wird im abgeänderten Entwurf für die Arbeiter der niedersten Arbeitsverdienstklasse auf 72 M. ermäßigt. Der Bundesrat hat nämlich beschlossen, eine Abstufung nach dem Durchschnitts-Jahresverdienst für gewöhnliche Handarbeit eintreten zu lassen, und da sind denn Sätze zum Vorschein gekommen, die in der ganzen deutschen Arbeiterwelt einen Sturm der Entrüstung wachgerufen haben.
Mit dieser Art von Sozialreform locken die deutschen Regierungen keinen Hund hinter dem Ofen hervor, sie ist ganz geeignet, die Milch der frommen Denkungsart, wo sie noch vorhanden ist, in gärend Drachengift zu verwandeln. Der Bundesrat bewies weiter seine Arbeiterfreundlichkeit und seinen sozialreformerischen Eifer damit, das er die sehr gemäßigten Beschlüsse der vorigen Reichstagssession bezüglich der Sonntagsarbeit, der Frauen- und Kinderarbeit, als schädlich für die Industrie ablehnte. Um nach der einen Seite nicht zu sehr zu verschnupfen, lehnte er auch die angenommenen Anträge auf Erweiterung der Vollmachten der Innung ab.
Zur allgemeinen Verwunderung haben auch die Deutschfreisinnigen, welche bisher in der reinen Negation aller staatlichen Eingriffe in das Gewerbeleben sich befanden, Anträge auf Arbeiterschutz gestellt. sie verlangen unter Anderem obligatorische Einführung von Gewerbegerichten, die durch Wahl der Arbeiter und Unternehmer zusammengesetzt werden sollten. Ferner beantragen sie die sorgfältigere Handhabung gewisser Bestimmungen des Sozialistengesetzes (Versammlungen, Ausweisungen), in welchen Punkten nach Meinung der Antragsteller allerlei Fehlgriffe vorkämen.
Diese Anträge sind für die Linksschwenkung der Deutsch-Freisinnigen sehr lehrreich, sie sehen ein, das sie mit den Massen mehr Fühlung haben müssen, wollen sie bei den nächsten allgemeinen Wahlen noch auf Erfolge rechnen Die Sozialisten können sich dieses Vorgehen gefallen lassen, schaden tut es ihnen nicht im Geringsten, wohl aber gibt es ihren Vertretern im Reichstag willkommene Gelegenheit, die Handhabung dess Sozialistengesetzes viel umfänglicher zur Sprache zu bringen, als dies bei der Erörterung der Regierungsberichte über die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes über verschiedene Bezirke möglich wäre.
Die Vermutung, das noch in der jetzigen Session der Reichstag Gelegenheit bekommen werde, mit der Verlängerung dess Sozialistengesetzes, bzw. mit einer Neugestaltung desselben sich zu befassen, wird offiziöserseits bestritten. Unseren Kartellparteien ist dieses Dementi durchaus unwillkommen, sie fürchten, das andernfalls das Sozialistengesetz im nächsten Wahlkampf eine große Rolle spielt und ihnen sehr unbequem werden könnte. Und so ist es. Das Volk ist nicht für das Ausnahmegesetz begeistert.
Im neuen Reichsetat wird abermals eine neue Anleihe von über 62 Millionen Mark gefordert, nachdem im letzten Jahre bereits 394 Millionen bewilligt wurden. Das Reich begann erst im Jahre 1875 mit dem Schuldenmachen. Bis dahin hatten die französischen Milliarden gereicht. Es hat aber seitdem bereits nahe an 1¼ Milliarden Schulden gemacht, eine sehr respektable Ziffer, die in der Hauptsache für militärische Rüstungen verbraucht wurden. Weiter geht aus dem Etat hervor, dass man zum Bau einer neuen Schlachtflotte 116 Millionen bedarf, die sich auf zehn Jahre verteilen sollen.
Die Zustände werden in der Tat immer nettere. Ganz Europa gleicht einem großen Irrenhaus in der Stärkung seiner Rüstungen und der Vermehrung seiner Schulden. Wenn das einmal zum Krach führt, dann freut Euch, Ihr Völker.
Die Fraktion beschloss, von der Einberufung eines internationalen Kongresses im nächsten Jahre in der Schweiz abzusehen, dagegen der Einladung eines internationalen Arbeiterkongresses nach Paris Folge zu geben, wenn die französischen Arbeiter sich verständigen und nur einen Kongress nach Paris einberufen, nicht zwei, wie es bis jetzt der Fall zu sein scheint.
Die Fraktion erlässt folgenden Aufruf:
Parteigenossen!
Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge würde das Mandat des jetzigen Reichstages im Februar 1890 erlöschen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist vorhanden, das derselbe früher aufgelöst wird und bereits im Herbst 1889 die Neuwahlen angeordnet werden. Dies veranlasst uns, Euch zuzurufen: seid auf der Hut und rüstet Euch!
Sammelt Geld, Geld, und abermals Geld, damit Ihr für den Wahlkampf mit der nötigen Munition versehen seid. Der nächste Wahlkampf wird sehr heftig werden. Nicht weil zu befürchten ist, das die Wählerschaft sich durch Schreckgespenster, wie sie die Kartellparteien in den berüchtigten Tagen des Februar 1887 durch Wort und Schrift dem Volke vorschwindelten, sich wiederum einschüchtern lassen wird – die Pikrinsäure, die Bretterbaracken, die Melinitbomben nebst den famosen Bildern, welche die Wehrlosigkeit der deutschen Grenzen dem Philister vorlogen, haben wohl für immer ihre Zauberkraft verloren und auch Herr Boulanger, der Wau-Wau der Kartellparteien, ist in seiner Nichtigkeit entlarvt – der Wahlkampf wird heftig werden, weil der Reichstag nicht wie die bisherigen Reichstage nur auf drei Jahre, sondern auf fünf Jahre gewählt wird.
Diese Verkürzung des Volksrechts ist auch eine Errungenschaft der Kartellparteien.
Letztere werden alle Anstrengungen machen sich abermals die Mehrheit zu sichern, einerlei durch welche Mittel.
So viel an uns liegt muss dieser schöne Plan zerstört werden. Die deutsche Arbeiterklasse muss endlich überall einsehen, das sie auf Parteien nicht bauen darf, welche die reinste Klassenherrschaft repräsentieren. Dies des Näheren zu beweisen wird unsere Aufgabe sein, sobald der Wahlkampf beginnt. Wir werden dafür sorgen, das Euch das entsprechende Material nicht fehlt.
Zunächst handelt es sich darum, wie schon erwähnt, Mittel für den Wahlkampf zu sammeln. Eure stets bewährte Opferwilligkeit lässt uns das Beste hoffen. Geld kann nie zu viel vorhanden sein. Alsdann ist es Eure Aufgabe, überall in den Wahlkreisen Anknüpfungen zu suchen und Vertrauensmänner zu gewinnen, welche zu gegebener Zeit die Agitation in die Hand nehmen. Später sind Wahlvereine und Wahlkomitees zu bilden.
Nach den Beschlüssen des St. Gallener Parteitages, welche für unsere Taktik maßgebend sein müssen, sollen in allen Wahlkreisen, in welchen Parteigenossen vorhanden sind, Kandidaten unserer Partei aufgestellt werden, für die mit Aufbietung aller Kräfte zu agitieren ist. Wo immer also ein Parteigenosse zur Wahlzeit sich befindet, er muss für die Abgabe sozialdemokratischer Stimmen tätig sein. Es handelt sich nicht bloß darum, die Vertretung unserer Partei im Reichstag möglichst stark zu machen, es handelt sich nicht weniger auch darum, durch die Abgabe sozialdemokratischer Stimmzettel festzustellen, wie groß die Schar der wahlberechtigten Staatsbürger ist, die unsere Gesinnungen teilen, in der Sozialdemokratie die Vertreterin ihrer Interessen sehen.
Darum Agitation bis in die entlegenste Hütte. Eine Million Stimmen und eine entsprechende Anzahl Vertreter muss das Mindeste sein, was die nächsten Wahlen uns bringen. Dafür müssen wir unsere ganzen Kräfte einsetzen.
Ein anderer sehr wichtiger Punkt betrifft die aufzustellenden Kandidaten. Es müssen Vielkandidaturen vermieden werden, wie auch in St. Gallen und früher schon beschlossen wurde. Aber es wird bei der großen Zahl tüchtiger Kräfte, welche der Tod und andere Umstände aus unseren Reihen entfernten, hier und da Mangel an geeigneten Kräften eintreten. Viele brave und befähigte Genossen besitzen nicht die Unabhängigkeit der Stellung, um eine Kandidatur annehmen zu können. Es wird also nicht zu umgehen sein, das hier und da eine Doppelkandidatur vorkommt Treten solche Fälle ein und sollte eine Doppelwahl daraus hervorgehen, dann erwarten wir von Eurer Disziplin, das Ihr alsdann die Entscheidung darüber, wo der Doppelt-Gewählte das Mandat annehmen soll, dem später von uns zu ernennenden Zentral-Wahlkomitee überlässt, das die Frage unter Hinzuziehung von Vertrauensleuten aus den beteiligten Wahlkreisen erledigen wird. Wir erwarten also, dass kein Kandidat, welchem die Umstände eine Doppelkandidatur auferlegen, sich im Voraus über die Annahme der Wahl in einem bestimmten Kreis im Falle seiner Doppelwahl verpflichtet. Das allgemeine Interesse muss über dem Wahlkreisinteresse stehen.
Parteigenossen! Die Zeiten sind uns günstig wie nie zuvor. Die arbeitenden Massen fühlen jeden Tag mehr, das die Dinge auf die Dauer so nicht weiter gehen können, das gründliche soziale Umgestaltungen nötig sind, „um die Not der Zeit und das menschliche Elend“ zu heilen, nicht klägliches Flickwerk und Stückwerk, wie es bisher unter dem Titel der Sozialreform ihnen geboten wurde. Und wie der Arbeiter, so leidet auch der Bauer und der Kleinbürger. Alle führen mit ihren letzten Kräften den verzweifelten Kampf um das Dasein gegen die Kapitalmacht und suchen nach Hilfe und Rettung vor dem Untergang. Sorgt also für ihre Aufklärung.
Tut Ihr, tun wir unsere Schuldigkeit, dann kann der Erfolg nicht fehlen.
Frisch ans Werk!
Berlin, den 27. November 1888.
Die sozial-demokratische Fraktion des Reichstags.
Bebel. Dietz. Frohme. Grillenberger. Harm. Liebknecht. Meister. Sabor. Schumacher. Singer.
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