August Bebel: Eine Gedächtnisfeier

[Nr. 944, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 42, 20. Oktober 1888, S. 2 f., verglichen mit dem Nachdruck in Ausgewählte Reden und Schriften, Band 2, S. 487-490]

Am 21. Oktober feiert die deutsche Sozialdemokratie den zehnjährigen Bestand des Sozialistengesetzes. Zehn Jahre der Ächtung, der Verfolgung, der Unterdrückung, zehn Jahre der Rechtlosmachung und der Vernichtung von allem, was in fünfzehnjähriger Arbeit unter schweren Mühen und Opfern aufgebaut wurde, sind über sie dahin gerauscht, und nach allen diesen Schlägen steht die Partei heute wie ein aus der Asche entstiegener Phönix stärker, kräftiger und siegesmutiger denn je vor ihren Feinden und verlacht deren Mühen und Anstrengungen, sie zu vernichten. Ja, die Partei hat alle Ursache, dieses zehnjährige Jubiläum des über sie verhängten Ausnahmegesetzes zu feiern.

Zäher und ausdauernder hat noch nie eine politische Partei der Macht der Gewaltigen widerstanden, tapferer ist noch keine der Übermacht ihrer Feinde entgegengetreten, keine verstand es bewusster, den gelegten Schlingen zu entgehen.

Diese Partei der Armen und Elenden hat den Mächtigen Respekt eingeflößt; sie hat ihnen ihre Anerkennung abgetrotzt und hat sie gezwungen, ihre eigenen früheren Grundsätze zu verlästern und der verfolgten Partei eine Konzession nach der anderen zu machen.

Freilich, ohne furchtbar schwere Opfer ist dieser Sieg nicht errungen worden. Gar mancher ist auf dem Kampffeld liegengeblieben, andere wurden versprengt in alle Welt und mussten den Boden, auf dem sie so tapfer gekämpft, für immer verlassen.

Prüfen wir den Erfolg der Taten unserer Feinde und der uns zugefügten Verluste in diesen zehn Jahren, so ergibt sich ungefähr folgendes:

Unterdrückt wurden weit über hundert politische und gewerkschaftliche Blätter und Zeitungen; von dem Verbot der Verbreitung betroffen wurden nahe an eintausendfünfhundert Bücher, Broschüren und Flugblätter. Über fünf der größten Städte Deutschlands mit ihrer dichtbevölkerten Umgebung, im ganzen volle 3½ Millionen Einwohner, den dreizehnten Teil der Reichsbevölkerung umfassend, wurde der sogenannte Kleine Belagerungszustand verhängt und wurden auf Grund desselben über 600 Personen, darunter zwei Drittel Familienväter, ausgewiesen. Die Zahl der Haussuchungen beträgt 8000 bis 9000; die Zahl der Prozesse mehrere hundert; die Dauer der in diesen Prozessen verhängten Untersuchungshaft und Gefängnisstrafen ist mit 400 Jahren nicht zu hoch geschätzt. Auf Leipzig und Umgegend treffen davon allein über 60 Jahre.

Arbeitervereine, gewerkschaftliche Verbindungen, Unterstützungskassen etc. wurden in diesem Zeitraum über 300 unterdrückt, darunter eine große Zahl von Arbeiterbildungsvereinen, die in ihrer Art als Musterinstitut betrachtet werden konnten. Die Zahl der aufgelösten oder verbotenen Versammlungen ist Legion.

Durch alle diese Verbote, Unterdrückungen und Auflösungen wurden zehn aus Arbeitermitteln gegründete Buchdruckereien vernichtet, eine Unzahl von Personen, die als Redakteure, Expedienten, Kolporteure, Buchbinder, Setzer etc. in diesen Unternehmungen ihre Lebensstellung fanden, wurden existenzlos gemacht, und wurden Hunderte und Aberhunderte dieser Zugrundegerichteten gezwungen, jenseits des Ozeans sich eine neue Heimat zu suchen. Der Wert des dabei zugrunde gerichteten Eigentums beläuft sich hoch in die zwei Millionen.

Eine große Zahl der tüchtigsten Kräfte sind durch alle diese Maßregeln im Laufe dieser 10 Jahre der Partei verlorengegangen, die einen wanderten aus, die anderen starben, die Dritten verdarben. Not und Elend wurde in unzählige Familien getragen. Und trotz dieser ungeheuren Verluste steht heute die Partei größer, stärker und geschlossener denn je zuvor da, ohne eine sogenannte Organisation, gefestigt durch das Band der gemeinsamen Überzeugung, der gleichen Ziele und der – gleichen Unterdrückung. Letztere ist ein Kitt, der mehr als jedes äußere Band der Vereinigung die Gleichstrebenden zusammenhält, tiefer gehende Meinungsverschiedenheiten verhindert und das Bewusstsein von der Notwendigkeit straffer Disziplin auch im jüngsten und letzten der Genossen wach erhält.

Es ist oft die Frage aufgeworfen worden, ob die deutsche Sozialdemokratie noch so einig und geschlossen dastehen würde, wenn sie ohne den Druck des Ausnahmegesetzes frei sich hätte entfalten können. Die einen bejahen sie, gute Kenner der Verhältnisse und Personen verneinen sie. Man sagt, ohne das Ausnahmegesetz würde durch das Wachstum der Partei und das Wachsen ihres politischen Einflusses ganz von selbst das Verlangen entstanden sein, auch einen gewissen praktischen Einfluss auszuüben und praktische Resultate zu erlangen, was ohne Kompromiss mit anderen Parteien nicht möglich gewesen wäre und dann von selbst zu einer Verschiebung der Kampfstellung der Partei geführt hätte. Darüber zu philosophieren hat keinen Zweck. Unbestreitbare Tatsache ist, dass in den Reihen der Parteigenossen auch nicht einen Augenblick die Neigung zu Kompromissen und zu veränderter Frontstellung vorhanden gewesen ist. Dort hieß es und heißt es: geradeaus, vorwärts! Und wer dieser Stimmung rednerisch oder schriftstellerisch am schärfsten Ausdruck gibt, der ist ihr Mann.

So ist die Partei trotz des Ausnahmegesetzes, ja vielleicht ganz wesentlich durch dasselbe, infolge der unverwüstlichen Lebensfähigkeit und Unerschütterlichkeit, die sie betätigte und unseren Staatslenkern ad hominem1 demonstrierte, zu einem Faktor geworden, der unsere innere und äußere Politik beherrscht, der in den Berechnungen unserer Staatsmänner eine entscheidende Rolle spielt und mit jedem Tage mehr an Bedeutung gewinnt.

Die Frage nach der Verlängerung des Sozialistengesetzes wird gegenwärtig abermals in, der deutschen Presse behandelt, obgleich seine jetzige Dauer erst mit September 1890 abläuft. Dieses fortwährende Auftauchen dieser Frage ist ein Beweis, wie sehr dieselbe unsere herrschenden Klassen und die maßgebenden Kreise beunruhigt. Nicht auf der Sozialdemokratie, sondern auf ihren Gegnern lastet das Sozialistengesetz wie ein Alb. Es ist das böse Gewissen, das sie nicht zur Ruhe kommen lässt, und es ist wieder die Furcht vor dem, was ohne das Gesetz aus der Sozialdemokratie werden möchte, was seine Aufhebung verhindert. So stehen die herrschenden Klassen wie Bileams Esel am Scheidewege. Schließlich aber wird die Furcht über die bessere Einsicht siegen. Und wenn bis zum Jahre 1890 das Sozialistengesetz nicht in Gestalt eines Spezialgesetzes seine Verewigung für die Dauer des gegenwärtigen Systems feiert, so wird dasselbe abermals verlängert werden.2

Ob das eine oder das andere geschieht, der Bankrott des herrschenden sozialen und politischen Systems ist besiegelt. Die Sozialdemokratie bleibt als die Frucht der bestehenden Staats- und Gesellschaftsorganisation bestehen; sie wächst in demselben Maße, wie diese Staats- und Gesellschaftsorganisation unfähiger wird, den aus ihrem Schoße erwachsenden Kulturansprüchen der arbeitenden Klassen zu genügen, und sie siegt in dem Augenblick, wo diese Erkenntnis die Einsicht der Massen durchdringt. Zehn weitere Jahre der Herrschaft des Sozialistengesetzes werden diese Auffassung glänzend bestätigen.

1 Verständlich.

2 Siehe hierzu Nr. 74.


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