Lynn Walsh: Polen: Niederlage für die Arbeiter*innen – aber das Militär kann die Krise nicht lösen

[eigene Übersetzung des englischen Artikels in Militant Nr. 583, 8. Januar 1982, S. 9]

Von Lynn Walsh

Mit brutaler Effizienz hat General Jaruzelskis Militärrat die Reaktion der herrschenden Bürokratie Polens gefestigt.

Tausende von führenden Solidarność-Vertreter*innen wurden verhaftet und interniert oder ins Gefängnis geworfen. Militärprozesse wegen des „Verbrechens“ des Kampfes für Gewerkschaftsrechte und politische Freiheiten für die Arbeiter*innenklasse sind bereits im Gange, und gegen Arbeiter*innenführer werden grausame Urteile verhängt.

Alle Errungenschaften der letzten 18 Monate wurden innerhalb weniger Tage zunichte gemacht. Solidarność ist illegal, Streiks sind verboten. Die Bürokratie hat ihre eiserne Kontrolle über die Fabriken, die lokale Verwaltung und die Medien wiederhergestellt.

Die polnischen Arbeiter*innen waren schockiert und fassungslos über den Militärputsch vom 12. Dezember. Es gab spontane Streiks, Fabrikbesetzungen und Demonstrationen auf den Straßen. Bergarbeiter*innen in Kattowitz besetzten mehr als eine Woche lang die Grube.

Jaruzelski wartete auf den richtigen Zeitpunkt

In ganz Polen, vor allem in den Industriezentren, wurden Hunderte von Arbeiter*innen bei Zusammenstößen verletzt, und wahrscheinlich wurden einige von der Armee oder der Polizei getötet.

Jaruzelskis Truppen schlugen den Widerstand der Arbeiter*innen, der eine verzweifelte Reaktion auf die Machtübernahme durch das Militär war, rücksichtslos nieder.

Der Aufruf von Solidarność zu einem Generalstreik gegen den Putsch war jedoch ein Misserfolg. Jaruzelski hatte richtig eingeschätzt, dass die Arbeiter*innenbewegung bereits am Abflauen war. Es gab bereits Verwirrung, Desillusionierung und Verzweiflung in Teilen der Arbeiter*innenschaft. Solidarność hatte keine klare Alternative, um auf ihrer Grundlage zu einem Generalstreik aufzurufen. Die einzige Alternative wäre der vollständige Sturz der Bürokratie.

Vor allem die Polizei, die Miliz und sogar die überwiegend aus Wehrpflichtigen bestehende Armee duldeten die Bürokratie. Zur Zeit des Generalstreiks hatte Jaruzelski, der gegen die Hardline-Stalinist*innen argumentierte, verstanden, dass der Einsatz der Armee zu deren Auflösung führen würde. Damals hätte die Gewalt eine politische Revolution mit dem vollständigen Sturz der Bürokratie und der Errichtung einer echten Arbeiter*innendemokratie hervorgerufen.

Die Macht war in Wirklichkeit ein Jahr lang oder länger in den Händen der Arbeiter*innenklasse. Die Forderungen, die Arbeiter*innen vorbrachten und für die sie kämpften, ergaben zusammen das Programm der politischen Revolution. Aber die Arbeiter*innenklasse war sich ihrer Macht nicht bewusst. Und die Solidarność-Führung um Wałęsa, die von den Intellektuellen und den katholischen Berater*innen in die Irre geführt wurde, war weit davon entfernt, die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, und argumentierte, nicht „zu weit“ zu gehen.

Noch Tage vor dem Putsch Jaruzelskis versuchten Wałęsa und Co. einen Kompromiss mit der Bürokratie zu finden und stimmten sogar Plänen zu, Solidarność in die Bürokratie zu integrieren. Einige der führenden Solidarność-Vertreter*innen hatten Wałęsas Politik bereits abgelehnt und den umfassenden Kampf gegen das Regime gefordert. Doch es war zu spät.

Teile der Arbeiter*innenschaft waren durch Kämpfe, die keine greifbaren Ergebnisse brachten, erschöpft. Unter dem Druck der Arbeiter*innenmacht hatte die Bürokratie Angst, Entscheidungen zu treffen. Doch ohne die Kontrolle über die Wirtschaft und einen demokratischen Produktionsplan konnten die Arbeiter*innen die Krise der Wirtschaft nicht überwinden, die sich immer weiter verschlimmerte.

Unsere Vorhersage, dass Jaruzelski eine Reaktion vorbereitete, wenn die Zeit reif wäre, hat sich nun bestätigt. Die Machtübernahme durch die militärische Führung ist in einem stalinistischen Staat beispiellos (abgesehen von den merkwürdigen deformierten Arbeiter*innenstaaten, die in einer Reihe von Ländern in den unterentwickelten Ländern entstanden sind).

Es ist daher ein Maß für die Tiefe der Krise des Stalinismus, dass die Generäle in Polen die Macht übernommen haben. Ironischerweise haben die polnischen Bürokrat*innen nach dem Generalstreik in Gdańsk [Danzig] Solidarność angegriffen, weil sie sich weigerten, „die führende Rolle der Kommunistischen Partei“ anzuerkennen. Doch Jaruzelski hat die Partei kurzerhand beiseite geschoben, und die Macht wird nun durch den Militärrat ausgeübt.

Die „Kommunistische Partei“ war natürlich keine echte Arbeiter*innenpartei – sie war, wie in den anderen stalinistischen Staaten, ein Instrument der Herrschaft der Bürokratie. Aber die Ereignisse der letzten achtzehn Monate haben ihr jegliche Grundlage zerschlagen. Die Partei verlor fast eine halbe Million Mitglieder, entweder durch Massenaustritte oder Ausschlüsse. Die unteren Ränge der Bürokratie und sogar einige der mittleren und oberen Ränge wurden von der Bewegung der Arbeiter*innen betroffen. Nach diesem Zusammenbruch war nur noch die Offizierskaste der Armee ein verlässliches Instrument für die Bürokratie.

Die Machtübernahme durch das Militär unterstreicht zudem das Scheitern der aufeinanderfolgenden Parteiführungen, das Regime durch „Reformen“ und „Liberalisierung“ zu stabilisieren – Gomulka nach 1956, Gierek nach 1970 und 1976 und Kanias kurzer und unglücklicher Versuch, die Forderungen der Arbeiter*innen nach August 1980 abzuwehren.

Das Scheitern dieser führenden Vertreter*innen ist in der grundlegenden Krise des Stalinismus begründet, die in Polen in besonders akuter Form zum Ausdruck kommt.

Die Bürokratie kann die Wirtschaft nicht mehr entwickeln

Erstens ist die stalinistische Bürokratie, wie Trotzki in den 1930er Jahren erklärte, grundsätzlich nicht in der Lage, unabhängige Arbeiter*innenorganisationen zuzulassen. Unter dem Kapitalismus kann es sich die herrschende Klasse leisten, der Arbeiter*innenklasse demokratische Zugeständnisse zu machen, weil sie die Produktionsmittel und damit die entscheidenden Hebel der wirtschaftlichen Macht besitzt und kontrolliert. Aber unter dem Stalinismus behält die herrschende bürokratische Elite ihre Macht nur aufgrund der Tatsache, dass sie die politische Kontrolle der Arbeiter*innen über die verstaatlichte Planwirtschaft an sich gerissen hat. Jedes Element echter Arbeiter*innendemokratie stellt eine ernste Bedrohung für die Macht und die Privilegien der Bürokratie dar. Aus diesem Grund konnte das polnische Regime die demokratischen Rechte, die es den Arbeiter*innen nach den Ereignissen im August 1980 zugestehen musste, nur für einen sehr kurzen Zeitraum dulden.

Zweitens ist in Polen eine Krise auf die andere gefolgt, weil die Bürokratie ihre relativ fortschrittliche Rolle bei der Entwicklung der Produktion durch die Planwirtschaft inzwischen hinter sich gelassen hat. Die Bürokratie hat Polen, wenn auch unter enormen Kosten, von einer rückständigen Wirtschaft in einen modernen Industriestaat verwandelt. Aber die Verschwendung, die Ineffizienz, die Privilegien und die Korruption der bürokratischen Planung können nicht mehr den Anforderungen einer komplexeren Wirtschaft gerecht werden. In ihrem Bemühen, die Akzeptanz der Arbeiter*innen mit mehr und höherwertigen Konsumgütern zu erkaufen, war die Bürokratie gezwungen, sich an den kapitalistischen Westen zu wenden, was zu den lähmenden Auslandsschulden führte, die sich heute auf 27 Milliarden Dollar belaufen.

Und die Errungenschaften der Planwirtschaft haben eine gesellschaftlich vorherrschende, überwiegend junge Arbeiter*innenklasse hervorgebracht, die nicht mehr bereit ist, die Bürokratie stillschweigend auf ihrem Rücken zu tragen.

So hat die bürokratische Reaktion in Polen den stalinistischen Totalitarismus in seiner nacktesten und brutalsten Form offenbart – der der offenen Militärdiktatur.

Keine Bürokratie kann jedoch auf Dauer allein mit Gewalt herrschen. Die Massenverhaftungen von Arbeiter*innenführer*innen haben bereits deutlich gemacht, dass jede Opposition brutal und systematisch unterdrückt werden wird. Abgesehen von Gefängnis – und möglicherweise Exil – hat eine Bürokratie, die die Fabriken, das Bildungswesen, den Wohnungsbau und alle Aspekte des kulturellen Lebens kontrolliert, tausend und eine Möglichkeit, ihre Gegner einzuschüchtern, zu schikanieren und zu ungerecht zu behandeln.

Vorbereitungen für das nächste Mal

Nichtsdestotrotz wird Jaruzelski in der nächsten Periode mit ziemlicher Sicherheit versuchen, die Kommunistische Partei zu erneuern und erneut zu versuchen, die Arbeiter*innenklasse zu durchdringen, um eine Basis für das Regime zu sichern. Jaruzelski beabsichtigt offenbar, die Prozesse gegen Mitglieder der alten Gierek-Führung wegen Korruption und Misswirtschaft fortzusetzen. Dies zielt darauf ab, den Eindruck zu erwecken, es werde einen „Neuanfang“ geben, ebenso wenn Jaruzelski einige der schlimmsten Exzesse korrupter Beamt*innen zunächst eindämmen dürfte.

Jaruzelski hat auch versprochen, dass Gewerkschafts- und andere Rechte später wiederhergestellt würden. Das sind völlig leere Versprechungen, die von der Bürokratie nicht erfüllt werden können, auch wenn sie versuchen mag, die offiziellen staatlichen „Gewerkschaften“ aufzumöbeln.

Kommentator*innen haben vermutet, dass Jaruzelski eine Politik der „Kadarisierung“ anstreben werde, d.h. eine Herangehensweise ähnlich der des führenden ungarischen Vertreters Kadar, der versuchte, das bürokratische Regime nach dem Arbeiter*innenaufstand von 1956 wiederherzustellen. Diese basierte auf Wirtschaftsreformen, die darauf abzielten, sich die Duldung der Arbeiter*innen durch einen besseren Lebensstandard, mehr Konsumgüter usw. zu erkaufen.

Jaruzelski beabsichtigt zweifellos, eine solche Politik zu verfolgen. Aber die Bedingungen haben sich seit den späten 1950er und 1960er Jahren völlig verändert. Seitdem ist das Produktionswachstum in den stalinistischen Staaten, 10% oder sogar 15% in der früheren Periode, auf 3% oder 4% oder weniger gesunken, niedriger als in einigen Ländern des kapitalistischen Westens. In der Ära der hochentwickelten Technologie, der Computer usw. kann die Bürokratie die Wirtschaft nicht mehr voranbringen. Kurzfristig wird Jaruzelskis Regime die Wirtschaft wahrscheinlich stabilisieren. Einige der Engpässe der vergangenen Monate lagen an der vorsätzlichen Sabotage der Bürokratie, die bewusst versuchte, die Moral der Arbeiter*innen zu untergraben. Einigen Berichten zufolge erschienen innerhalb weniger Stunden nach der Machtübernahme durch das Militär in vielen Geschäften Lebensmittel und lebensnotwendige Güter in den Regalen. Die Botschaft war, dass das Militär die Waren liefern könne.

In den kommenden Monaten wird es in vielen Fabriken, Werften und Bergwerken weiterhin zu Dienst nach Vorschrift, Verweigerung der Zusammenarbeit und sogar Sabotage durch die Arbeiter*innen kommen. Aber mangels Alternative, wird es allmählich eine Rückkehr zur „Normalität“ geben. Mit Hilfe der ausländischen Banken, die einen Zusammenbruch des Regimes in Polen befürchten, wird die Bürokratie in der Lage sein, die Wirtschaft bis zu einem gewissen Grad wiederherzustellen. Mit der Zeit wird Jaruzelski vielleicht seine Uniform ablegen oder sogar an einen zivilen Nachfolger übergeben.

Aber Jaruzelskis neue „Normalität“ wird auf den zerstörten Hoffnungen von Millionen von Arbeiter*innen aufgebaut sein, die sich aktiv am Kampf gegen die Bürokratie beteiligt und einen Vorgeschmack auf die Arbeiter*innendemokratie erhalten haben. Die Repression mag vorerst jede Opposition zerschlagen, aber unter der Oberfläche wird die bittere Wut der Arbeiter*innen weiter schwelen. Das Militär wird den Hass der Arbeiter*innenklasse auf die Privilegien der Bürokrat*innen und deren rücksichtslose Verteidigung ihrer diktatorischen Macht nicht auslöschen.

Wenn Jaruzelski die bürokratische Reaktion festigt, wird es in Teilen der Arbeiter*innenschaft Stimmungen der Verzweiflung geben. Viele werden sich der Religion oder dem Wodka zuwenden, um Trost zu finden und zu „entkommen“. Einige Arbeiter*innen werden unweigerlich mit Posten und Vergünstigungen gekauft werden.

Aber die Erfahrung der letzten achtzehn Monate kann niemals ausgelöscht werden. Die fortgeschrittenen Schichten der Arbeiter*innen, insbesondere die Jugend, werden über die Lektionen nachdenken – und auf das nächste Mal warten. Sie werden die Schlussfolgerung ziehen, dass ihr Ziel beim nächsten Mal von Anfang an der Sturz der Bürokratie als einziger Weg zur Arbeiter*innendemokratie sein muss.

Und es wird ein nächstes Mal geben. Daran kann es keinen Zweifel geben.

Die polnischen Arbeiter*innen haben eine vernichtende Niederlage erlitten, und vorerst wird die Reaktion die Oberhand behalten. Aber die zugrundeliegende Krise des Stalinismus, sowohl in Polen als auch in Russland und im Rest Osteuropas, macht eine neue Umwälzung absolut unvermeidlich. Die den polnischen Arbeiter*innen zugefügten Wunden werden langsam aber sicher heilen – und sie werden die Lehren aus den letzten achtzehn Monaten verinnerlichen. Die Bürokratie wird den Willen der Arbeiter*innenklasse, für den Sturz der Bürokratie und die Einführung der Arbeiter*innendemokratie zu kämpfen, nicht brechen, auch nicht durch eine Militärregierung. Natürlich kann der nächste Umsturz in einem anderen stalinistischen Staat stattfinden – aber die polnischen Arbeiter*innen, deren Mut, Entschlossenheit und Zähigkeit im Kampf über jeden Zweifel erhaben sind, werden im Kampf für die politische Revolution nicht weit zurückbleiben.


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