[eigene Übersetzung des englischen Textes in Militant Nr. 582, 18. Dezember 1981, S. 10]
Am vergangenen Wochenende (12./13. Dezember) hat die Armee in ganz Polen das Kriegsrecht verhängt.
Die Regierung von General Jaruzelski hat führende Solidarność-Vertreter*innen verhaftet, Solidarność selbst „suspendiert“, Streiks „vorläufig“ für illegal erklärt und faktisch alle demokratischen Errungenschaften der letzten 17 Monate für die Bürokratie zurückerobert.
Zweifellos findet Jaruzelskis Vorgehen die wohlwollende Zustimmung der russischen Bürokratie, die seit langem auf ein hartes Durchgreifen gegen die polnischen Arbeiter*innen drängt. Das Eingreifen der Armee hat unter den polnischen Arbeiter*innen eine Stimmung des Zorns und der Empörung hervorgerufen, vielleicht aber auch eine Stimmung der Verzweiflung unter einigen Teilen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen.
Die Reaktion der Arbeiter*innen in Aktion ist noch nicht klar. Das Regime hat die Grenzen Polens abgeriegelt, eine strenge Zensur von Presse und Fernsehen eingeführt und alle Telekommunikationsverbindungen gekappt. Sogar der Funkverkehr ausländischer Botschaften wurde gestört, um das Durchsickern von Nachrichten zu verhindern.
Es ist jedoch klar, dass Millionen von Arbeiter*innen am Montag krank zu Hause blieben und noch nicht zur Arbeit zurückgekehrt sind. Einige Fabriken wurden besetzt. Einige der großen Fabriken und Werften, die Bastionen der Solidarność, wurden von Truppen umstellt. Einige von ihnen scheinen durch die Androhung von Gewalt geräumt worden zu sein, aber andere bleiben besetzt.
Auch in Warschau, Danzig [Gdańsk] und anderen Industriezentren wurde von Schießereien berichtet.
Die meisten führenden Solidarność-Vertreter*innen wurden verhaftet, obwohl das Regime behauptet, sie seien nur „vorübergehend festgenommen“ worden. Wałęsa wurde Berichten zufolge freigelassen, obwohl er aufgefordert wurde, Verhandlungen mit Jaruzelskis Beamt*innen aufzunehmen. Ob dies freiwillig geschah oder nicht, ist noch unklar.
Es ist wahrscheinlich, dass Jaruzelski versuchte, die führenden Solidarność-Vertreter*innen zu spalten, indem er sich auf die „Gemäßigten“ um Wałęsa stützte, um die Arbeiter*innen zu beruhigen und die Aktionen gegen die Militärherrschaft einzudämmen. Jaruzelski wird sich auch auf die führenden Vertreter*innen der katholischen Kirche und die mit Wałęsa verbundenen Intellektuellen stützen, um im Interesse der Bürokratie eine befriedende Rolle zu spielen.
Schießereien, Zusammenstöße zwischen Arbeiter*innen und Truppen und andere Zwischenfälle könnten jedoch immer noch aufflammen und zu einem größeren Konflikt führen, der sich zu einem Bürger*innenkrieg entwickeln könnte. Sollten sich die Ereignisse in diese Richtung entwickeln, ist eine militärische Invasion durch die russische Bürokratie immer noch nicht ausgeschlossen, auch wenn sie es immer noch vorziehen würde, sich auf die polnische Führung zu stützen, um die Kontrolle zu behalten, wenn sie kann.
Die Bürokrat*innen rechnen zweifellos damit, dass die polnischen Arbeiter*innen nicht bereit sind, sich mit der polnischen Armee anzulegen, aber die russischen Truppen würden zweifellos auf erbitterten, bewaffneten Widerstand stoßen, wobei Teile der polnischen Armee und Polizei zu den Arbeiter*innen überlaufen würden.
Jaruzelski ist vorsichtig vorgegangen. Vor einigen Wochen wurden Armeeeinheiten ins Land geschickt, angeblich um „Produktionsschwierigkeiten zu überwinden“. Obwohl es eine große Machtdemonstration mit gepanzerten Fahrzeugen usw. gegeben hat, scheinen die Befehlshaber*innen der Armee versucht zu haben, keine Konflikte zu provozieren.
Was auch immer die Taktik der Bürokratie sein mag, sie hat nur ein Motiv: ihre ungeteilte Herrschaft über die Gesellschaft wiederherzustellen.
Die einzige wirksame Antwort besteht darin, dass die Arbeiter*innenführer*innen einen Generalstreik ausrufen. Dieser müsste zwangsläufig auf den Sturz der Bürokratie abzielen. Die demokratischen Rechte können nur wiederhergestellt werden, wenn die Macht in die Hände von Arbeiter*innen- und Bäuer*innenräten gelegt wird.
Um den Erfolg zu sichern, müssen die Arbeiter*innen an die Reihen der Armee appellieren und sie aus den Händen der Offizierskaste nehmen. Und es ist von grundlegender Bedeutung, dass die polnischen Arbeiter*innen, die innerhalb ihrer nationalen Grenzen keine Lösung finden werden, an die Arbeiter*innen Osteuropas und des Westens appellieren.
Der jüngste Schritt des Regimes hatte fast den Anschein von Unvermeidlichkeit. „Nur wenige dachten, dass die Dinge friedlich enden würden“, kommentierte eine Frau, die Polen am Sonntag verließ.
Seit Beginn des Generalstreiks in Gdańsk hat Militant selbst davor gewarnt, dass die Bürokratie sich unweigerlich wieder etablieren und ihre starre Diktatur wieder einführen würde, wenn Solidarność nicht eine Bewegung anführe, die die Bürokratie zerstört und eine Arbeiter*innendemokratie errichtet.
Infolge jenes Generalstreiks hing das Regime in der Luft. Seine Misswirtschaft hatte zu einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen geführt, und die groteske Korruption der Spitzenbürokrat*innen hatte unter den Arbeiter*innen eine enorme Wut aufgestaut. Innerhalb weniger Monate hatte Solidarność über zehn Millionen Arbeiter*innen gewonnen. Unterdessen verlor die Kommunistische Partei seit August letzten Jahres 244.000 Mitglieder durch Austritte und schloss weitere 180.000 aus.
Die Bürokratie konnte ohne die Zustimmung der Arbeiter*innen keinen Schritt machen. Die wirkliche Macht wäre in den Händen der Arbeiter*innen gewesen – wenn die führenden Solidarność-Vertreter*innen den Kampf nur bis zu seinem notwendigen Abschluss geführt hätten.
Hartgesottene Betonköpfe in der Bürokratie befürworteten sofortiges Schritte gegen die Arbeiter*innen. Die weitsichtigeren führenden Vertreter*innen der Bürokratie, wie Jaruzelski selbst, erkannten, dass eine brutale Unterdrückung einen Bürger*innenkrieg mit einem gefährlich ungewissen Ausgang provozieren würde.
Jaruzelski befürwortete einen vorübergehenden Rückzug – um die Macht der Bürokratie später wiederherzustellen. Sie mussten ihre Zeit abwarten. Doch der Einsatz der Bereitschaftspolizei zur Vertreibung streikender Feuerwehrkadetten aus ihrer Akademie vor zwei Wochen war ein entscheidender Test. Die Reaktion war ein Hinweis darauf, wie die Arbeiter*innen auf Repressionen in größerem Umfang reagieren würden.
Die Reaktion von Solidarność war jedoch in dem Fall unentschlossen. Es gab einige Protestaktionen, und das Nationalkomitee von Solidarność rief gegen Wałęsas Rat zu einem Protestgeneralstreik auf, der in dieser Woche hätte stattfinden sollen.
Dem vorgeschlagenen Generalstreik kam jedoch die Verhängung des Kriegsrechts durch Jaruzelski brutal zuvor. Die Bürokratie spürte offensichtlich, dass sich in der Masse der Arbeiter*innen eine gewisse Müdigkeit und Erschöpfung eingestellt hatte. Wie wir gewarnt hatten, konnte die Massenaktivität der Arbeiter*innen nicht unbegrenzt auf einem so hohen Intensitätsniveau aufrechterhalten werden. Wenn es nicht zu einem entscheidenden Wandel kommt, werden die Energie und die Aktivität der Arbeiter*innen unweigerlich nachlassen.
Die überwältigende Mehrheit der Pol*innen begrüßte die demokratischen Errungenschaften des Arbeiter*innenkampfes. Zum ersten Mal – abgesehen von früheren, kurzen Massenstreikbewegungen – konnten sie frei atmen.
Doch weil die durch die Massenbewegung errungenen Gewerkschaftsrechte die Bürokratie nur kontrollierten und nicht ersetzten, blieben die wirtschaftlichen Probleme ungelöst.
Diese Probleme entstehen durch die Misswirtschaft der Bürokratie, nicht durch die Streikbewegung, wie die Stalinist*innen behaupten. Aber ohne einen demokratischen Produktionsplan unter der Kontrolle der Arbeiter*innen hat sich die Wirtschaftskrise unweigerlich verschärft.
Die Arbeiter*innen sind erschöpft von den langen Zeiten des Schlangestehens für Bedarfsgüter. Lebensmittel und Kleidung sind Mangelware. Die Brennstoffknappheit hat zu Kürzungen bei den kommunalen und individuellen Heizungen geführt. Vor allem aber hat bei vielen Arbeiter*innen Ernüchterung eingesetzt, und einige verzweifeln daran, eine dauerhafte, grundlegende Veränderung zu erreichen.
Jüngste Berichten weisen darauf hin, dass die Teilnahme an Solidarnośćversammlungen tendenziell abgenommen hat und die Beteiligung an den Wahlen der Arbeiter*innenvertreter*innen zurückgegangen ist. Die Unterstützung für wiederholte Proteststreiks und Generalstreiks ist weniger enthusiastisch geworden.
Jaruzelski und seine bürokratischen Gefolgsleute urteilten klar, dass es die rechte Zeit war, um zum Wiederherstellen ihrer Position zu schreiten.
Darüber hinaus erhielt die Bürokratie in letzter Zeit weitere dringende Gründe, zu handeln. Auf der jüngsten Sitzung des Nationalkomitees vor etwas mehr als einer Woche formulierten die führenden Vertreter*innen von Solidarność eine Reihe von Forderungen, die den Kern der Bürokratie trafen: freie Parlamentswahlen im kommenden Mai (offiziell sind Wahlen erst 1984 fällig); ein nationales Referendum über die künftige Regierungsform, das eine klare Wahl zwischen der Fortsetzung des derzeitigen Regimes und den Vorschlägen von Solidarność bietet; und Forderungen nach demokratischerem Zugang zu Zeitungen, Radio und Fernsehen.
In den Diskussionen des Nationalkomitees forderten einige der führenden Vertreter*innen, dass Solidarność die Macht übernehmen und eine auf die Arbeiter*innenklasse gestützte „provisorische Regierung“ bilden solle. Es gab auch Forderungen nach „Arbeiter*innenmilizgruppen“ zur Verteidigung ihrer Errungenschaften.
Die führenden Vertreter*innen von Solidarność drohten damit, dass sie einen weiteren Generalstreik ausrufen würden, wenn die Regierung ihr „Sondermaßnahmen“-Gesetz im Parlament weiter verfolgen würde, das zwar „das Streikrecht garantierte“, aber die Gewerkschaftsrechte faktisch außer Kraft setzte und Streiks „bis auf Weiteres“ verbot.
Selbst Wałęsa, der ursprünglich argumentierte, Solidarność solle sich auf eine gewerkschaftliche Rolle beschränken, und der nach eigenem Bekunden als „Feuerwehrmann“ agierte, um Kämpfe zu dämpfen, gab zu, dass eine Konfrontation mit dem Regime unvermeidlich geworden sei. Als Widerspiegelung des enormen Drucks der Arbeiter*innen gab er anscheinend zu, dass sein „moderater Ansatz“ zu nichts geführt hatte.
In dem Bemühen, zweifelnde Teile der Arbeiter*innen – und vielleicht auch Wałęsa selbst – zu verängstigen, strahlte die Regierung Auszüge aus Tonbändern der Solidarność-Diskussionen aus, die ihr in die Hände gefallen waren.
Für Jaruzelski war dies klar das Signal, dass die Zeit für eine Demonstration der Stärke gekommen war.
Die beispiellose Lage, die sich in den letzten 17 Monaten in Polen entwickelt hat, zeugt sowohl von der enormen Energie und Kampfkraft der Arbeiter*innenklasse als auch vom Mangel an klarer Richtung der Solidarność-Führung.
Die Bewegung hat, größtenteils als Ergebnis der ständig erneuerten spontanen Initiative der Arbeiter*innen, in der Praxis alle Hauptforderungen der politischen Revolution erhoben. Diese wurden von Leo Trotzki im Kampf gegen die stalinistische Bürokratie in den 1930er Jahren theoretisch formuliert. Sie wurden nun durch die spontane Aktion der polnischen Arbeiter*innen glänzend bestätigt.
Die Organisation der Solidarność setzte die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften unter der Kontrolle der Arbeiter*innen in die Praxis um. Das Verbot für Funktionär*innen der Kommunistischen Partei, Positionen in der Solidarność einzunehmen, bestätigte Trotzkis Vorhersage, dass die Arbeiter*innen die Bürokratie und ihre Agenten ausschließen würden.
Die Arbeiter*innen haben das Recht gefordert, Fabrikmanager zu wählen, und dies in einigen Fällen auch in die Tat umgesetzt. Sie prangerten die Privilegien der Bürokrat*innen an und erzwangen häufig deren Absetzung durch direkte Aktionen. Sie forderten Zugang zu den Medien und gründeten ihre eigenen lokalen und nationalen Zeitungen.
Es wurde sogar die Forderung nach einer Gewerkschaft für die Polizei erhoben. Instinktiv haben die polnischen Arbeiter*innen auch eine internationalistische Haltung eingenommen und an die Dissident*innen und Arbeiter*innen Russlands und Osteuropas appelliert. Während all diese Forderungen erhoben wurden, fehlte es den Arbeiter*innen jedoch an einer Führung mit einem klaren Programm und einer Perspektive, die in der Lage wäre, sie durchzuführen. Es gab einen Streik nach dem anderen, um all die der Bürokratie abgerungenen Errungenschaften zu verteidigen – aber sie waren oft sporadisch und unkoordiniert.
Der Solidarność-Führung fehlte das politische Verständnis und die Kohärenz, um die große Mehrheit der Arbeiter*innen um ein klares Programm herum zu organisieren und die gewaltigen Kämpfe der Arbeiter*innen auf ihrem Weg zum Sturz der Bürokratie zu koordinieren und zu leiten.
Einige der führenden Solidarność-Vertreter*innen haben zweifelsohne versucht, einen Weg zur politischen Revolution zu finden. Aber die führenden Solidarność-Vertreter*innen um Wałęsa, unterstützt von den dissidenten Intellektuellen, waren ein Hindernis. Obwohl sie von der Bürokratie angegriffen und in einigen Fällen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurden, sind die Intellektuellen in Wirklichkeit eine liberale Opposition zur Bürokratie, die glaubt, dass das Regime von innen heraus reformiert werden könne.
Sie lehnen einen umfassenden Kampf zum Sturz der Bürokratie mit der Begründung ab, dass dies zu Repressionen und möglicherweise zu einer russischen Militärintervention führen könnte. Aber der Preis für die Vermeidung eines umfassenden Konflikts war ein Kompromiss mit dem Regime, der es der Bürokratie ermöglichte, auf dem Rücken der Arbeiter*innen zu bleiben.
Letztendlich hat der Kompromiss eine Konfrontation nicht verhindert.
Die fortgeschrittenen Arbeiter*innen werden auch festgestellt haben, dass die Führung der katholischen Kirche in Polen ebenfalls den Status quo aufrechterhalten will. Der polnische Primas bedrängte die Bürokratie, Zugeständnisse zu machen und blutige Repressionen zu vermeiden – aber er ermahnte die Arbeiter*innen auch immer wieder, nicht „zu weit“ zu gehen. Trotz der traditionellen Rolle des Katholizismus und seiner Verbindungen zum polnischen Nationalismus werden die Arbeiter*innen ihre eigenen Schlüsse aus den jüngsten Ereignissen ziehen.
Jaruzelski war darauf bedacht, zu betonen, dass die Militärherrschaft nur „vorübergehend“ sei. Gewerkschafts- und andere demokratische Rechte sind nur „ausgesetzt“, nicht illegalisiert. Sein Regime wird wohl versuchen, die wirtschaftlichen Zugeständnisse an die Arbeiter*innen aufrechtzuerhalten und sogar auszuweiten, auch wenn dies aufgrund der akuten wirtschaftlichen Lage Polens, insbesondere angesichts einer Auslandsverschuldung von 13 Milliarden Pfund, nur begrenzt möglich sein wird. Aber Jaruzelski wird die Wiederherstellung der demokratischen Rechte für die Arbeiter*innen nicht zulassen. Sein Ziel ist die Wiederherstellung der Macht der Bürokratie, der privilegierten, parasitären herrschenden Kaste, die die politischen Kontrolle über die verstaatlichte Planwirtschaft von den Arbeiter*innen an sich gerissen hat. Arbeiter*innen, die versuchen, Widerstand zu leisten, werden zweifellos auf brutale Repression stoßen.
Ob Jaruzelski die Situation für die Bürokratie stabilisieren kann, bleibt abzuwarten. Seine Berechnung der erschöpften und verzweifelten Stimmung der Arbeiter*innen mag richtig sein. Andererseits können Zwischenfälle und Zusammenstöße – die unterschwellige Wut und Frustration der Arbeiter*innen – noch zu einem totalen Konflikt führen.
Doch selbst wenn Jaruzelski die Kontrolle der Bürokratie wiederherstellt, wird er nur eine vorübergehende Gnadenfrist gewonnen haben. Die zugrundeliegende Krise des Stalinismus in Polen, Russland und dem übrigen Osteuropa, die enorme Macht der heutigen Arbeiter*innenklasse und die explosive Weltlage machen dies unvermeidlich.
Selbst falls sie vorübergehend besiegt sind, werden die polnischen Arbeiter*innen enorme Erfahrungen aus der letzten Periode gewonnen haben. Eine neue Bewegung – die unweigerlich kommen wird – wird auf einem höheren Niveau beginnen. Die Bürokratie kann die politische Revolution nicht sehr lange von der Tagesordnung der polnischen Arbeiter*innenklasse entfernen.
Der Kampf für Arbeiter*innendemokratie muss mit dem Sturz der Bürokratie verbunden sein.
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