August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 895, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 3, 21. Januar 1888, S. 3 f.]

Über die Einzelheiten des Entwurfes schreibt uns unser Korrespondent:

Aus Norddeutschland, 18. Jänner. Endlich ist der neue Sozialistengesetzentwurf dem Reichstag zugegangen, die weitgehendsten Anträge auf Verschärfung werden mit der jämmerlichsten Motivierung, die uns je vorgekommen ist, begründet. Die Motivierung der Vorlage ist von A bis Z die vollständigste Bankrotterklärung der Ausnahmegesetzgebung. Weil man mit dem Ausnahmegesetz bankrott geworden ist, deshalb beantragt man die Verschärfung desselben. Das fällt unter die Heilmethode des berühmten Doktor Eisenbart und fordert den Spott und das Hohngelächter aller ernsthaften und logisch denkenden Leute heraus. Wie Jemand, der auf den Namen eines „Staatsmanns“ Anspruch erhebt und wie Fürst Bismarck sogar als einer der „größten Staatsmänner aller Zeiten“ von dem servilen Zeitungsgelichter gepriesen wird, eine solche Vorlage mit seinem Namen decken kann, darüber wird die Nachwelt ein scharfes Verdammungsurteil fällen, der Gegenwart fehlt noch der Tacitus, der ihrem Götzen das verdiente Denkmal setzt.

Die Vorlage hat die ungünstigen Gerüchte, die schon vor ihrem Erscheinen sich verbreiteten, noch übertroffen. sie enthält nicht bloß die Expatriierung, sie enthält auch die Internierung, die beide je nach Wahl der Landeszentralbehörden und nachdem die Gerichte für die meisten Vergehen die härtesten Gefängnisstrafen ausgesprochen haben, verhängt werden können.

Die vorgeschlagenen Änderungen sind in der Hauptsache folgende: Wer eine verbotene Druckschrift, oder wer eine von der vorläufigen Beschlagnahme betroffene Druckschrift verbreitet, fortsetzt – oder wieder abdruckt, wird mit einer Geldstrafe bis zu 1000 Mk. oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft. Bisher betrug die zulässig höchste Strafe sechs Monate Gefängnis.

Eine ganz unerhörte Verschärfung erfährt der § 22 des Gesetzes. Darnach soll gegen Personen, welche sich die Agitation für die durch das Gesetz getroffenen Bestrebungen zum „Geschäft“ machen, im Falle einer Verurteilung wegen Zuwiderhandlungen gegen die §§ 17-20 auf Gefängnis nicht unter 2 Jahren erkannt werden. Auch soll neben der Freiheitsstrafe auf die Zulässigkeit der Einschränkung ihres Aufenthaltes erkannt werden.

Bisher konnte im Falle der Verurteilung auf § 17 des Gesetzes (Teilnahme an verbotenen Vereinen, Versammlungen etc.) auf eine Geldstrafe bis zu 500 Mk. oder auf Gefängnis bis zu 3 Monaten erkannt werden. Gegen die Vorsteher, Leiter, Ordner, Redner etc. eines solchen verbotenen Vereines oder einer verbotenen Versammlung auf Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahr.

Nach § 18 sollte Derjenige, der Räumlichkeiten für einen verbotenen Verein oder eine verbotene Versammlung hergab, mit Gefängnisstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr belegt werden können; wer nach § 19 eine verbotene oder von der vorläufigen Beschlagnahme betroffene Druckschrift verbreitete, fortsetzte oder wieder abdruckte, mit Geldstrafe bis zu 1000 M. oder mit Gefängnis bis sechs Monaten bestraft werden. Endlich sollte, wer eine verbotene Geldsammlung, dem Verbot zuwider vornahm, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten verurteilt werden.

Nunmehr soll, wie bemerkt, auf alle diese Vergehen eine Minimalstrafe von zwei Jahren Gefängnis verhängt werden und die Einschränkung des Aufenthalts ausgesprochen werden können.

Ein neuer § 22 a fordert, das auch alle Diejenigen Aufenthaltsbeschränkungen unterworfen werden können, die auf Grund des § 129 des Strafgesetzbuchs verurteilt wurden, einer Verbindung anzugehören, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen gehört, die Vollziehung dieses Gesetzes oder auf die Ausführung desselben bezügliche Maßregeln der Verwaltung durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften. Auf § 129 wurden seiner Zeit Auer, Bebel, Vollmar und Genossen in Freiberg verurteilt, auf denselben Paragraf wurden fast alle jene mit verurteilt, die im letzten Jahre den zahlreichen Geheimbundsprozessen zum Opfer fielen.

Nimmt man hinzu, dass die Motivierung darauf hinausgeht, die Parteileitung, d. h. die jeweilige Reichstagsfraktion als die Urheberin aller dieser Verbindungen hinzustellen, so kann nur ein schwacher an Geist nicht merken, wohin man mit dem neuen Paragraf zielt.

In demselben wird weiter ausgeführt, das je nach Wahl der Landeszentralbehörden, d. h. der Ministerien des Innern, nachdem das erkennende Gericht die Zulässigkeit der Aufenthaltsbeschränkung ausgesprochen hat, die Internierung im Wohnort oder die Expatriierung aus dem Bundesstaat, womit eo ipso dieselbe für jeden andern Bundesstaat und das gesamte Reich ausgesprochen ist, verhängt werden kann. Endlich bestimmt ein neuer Paragraf, das die Beteiligung eines Deutschen an einer Versammlung, welche außerhalb des Bundesgebietes zu dem Zwecke stattfindet, die im Sozialistengesetz verbotenen Bestrebungen zu fördern, mit Gefängnis zu bestrafen sei. Außerdem soll auf Zulässigkeit der Entziehung der Staatsangehörigkeit erkannt werden können. Der letztere Paragraf richtet sich gegen Kongresse wie der zu St. Gallen, gegen deren Teilhaber nach dem Eingeständnis der Vorlage die Regierungen auf Grund der bestehenden Gesetze nicht vorzugehen vermögen.

Außerdem soll damit aber auch der Besuch oder die Abhaltung anderer, z.B. internationaler Kongresse, wie die Abhaltung von Versammlungen, wie sie Liebknecht auf seiner Agitationstour in den Vereinigten Staaten arrangierte, unmöglich gemacht werden.

Ist schon dass ganze Sozialistengesetz ein Novum, das im grellsten Widerspruch mit unserer modernen Kultur und den bürgerlichen Bestrebungen auf Gründung des Rechtsstaates steht, so ist dieser zuletzt erwähnte Punkt geradezu ein Unikum. Er belegt mit den härtesten Strafen – schweren Gefängnis und Expatriierung Handlungen, die nicht einmal ohne Weiteres im Inland mit Strafe belegt werden.

Und die Motivierung für all diese ungeheuerlichen Bestimmungen? sie ist dürftiger als dürftig. Von all dem „schwerwiegenden Belastungsmaterial“ , das nach der offiziösen Presse Herr v. Puttkamer in petto haben sollte, keine Spur, nichts, was nicht schon fünf- und sechsmal bei früheren Anträgen auf Verlängerung des Gesetzes und in den Begründungen für die Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über die verschiedensten Städte und Bezirke gesagt worden wäre. Entschieden allein die Motive, welche die Regierungen für ihre Anträge einbringen, über das Gesetz, dasselbe müsste mit erdrückender Majorität abgelehnt werden, nur vollendete Schwachköpfe oder die charakterlosesten Streber könnten dafür stimmen. Man weiß aber, dass für die Majoritätsparteien ganz andere Gründe maßgebend sind, vor allen Dingen die Angst vor der Sozialdemokratie, die trotz aller Verfolgungen immer stärker wird, die in dem bisher gegen sie geführten Kampf sich als unüberwindlich erwies. Das gestehen die Motive zu dem Gesetzentwurf selbst ein.

In meinem vorigen Brief schrieb ich Ihnen, das es wohl Herr v. Bennigsen selbst sei, der im „Hannov. Courier“ habe erklären lassen, das die Nationalliberalen für die fünfjährige Verlängerung des Sozialistengesetzes stimmen würden. Alle Welt war der gleichen Vermutung und die gegnerische Presse gab dieser Vermutung Ausdruck. Herrn v. Bennigsen schien diese Vermutung sehr unangenehm gewesen zu sein; er ließ erklären, das seine Stimme für die fünf Jahre nicht zu haben sein würde. Ebenso ließ Herr Miquel im „Frkf. Journ.“ erklären , das die große Mehrheit der Partei nur für drei Jahre und gegen alle Verschärfungen stimmen werde.

Sehr energisch gegen die Verschärfung des Gesetzes und seine Verlängerung auf 5 Jahre erklärt sich die nationalliberale „Nat. Zeitung“ in Berlin; sie verlangt, das endlich das Sozialistengesetz beseitigt werde durch entsprechende Änderungen im gemeinen Recht, die diesmalige Verlängerung auf drei Jahre müsse die letzte sein.

Die nächsten Wochen werden zeigen, was hinter diesen Worten und Erklärungen steckt. Wollen die Nationalliberalen die Verschärfungen wirklich zurückweisen, was wir bezweifeln, so werden sie schlagende Gründe in dem Anklage- und Beschwerdematerial finden, das die sozialistischen Abgeordneten im Reichstag vorbringen werden. Herr v. Puttkamer darf sich zur Gegenwehr rüsten, um sein System vor der moralischen Vernichtung zu retten.

Einen recht bedenklichen Stoß hat dasselbe wieder durch den Posener Sozialistenprozess erhalten, in dem ein gewisser Geheimpolizist Naporra die Rolle eines zweiten Ihring-Mahlow, d. h. eines Agent provocateur schlimmster Gattung spielt. Es wurde gerichtlich festgestellt, das dieser Mensch, der sich als Handwerker und Parteigenosse in das Vertrauen der Angeklagten einzuschleichen wusste, selbst der eifrigste Verbreiter verbotener sozialistischer Schriften war, dass er durch Wort und Tat Andere zu gleichen Handlungen reizte und selbst zu Gewalttätigkeiten gegen die Polizei am Abende des 6. Dezember 1886 aufzuhetzen versuchte, als es in Folge einer aufgelösten Versammlung in Berlin zu kleinen Ruhestörungen auf der Straße kam. Herr Naporra ist in dieser seiner Eigenschaft als Agent Provocateur schon einmal voriges Jahr im Meineidsprozess Wittkowski vor Gericht in Berlin entlarvt worden, das hat aber seinem Rufe als „pflichtgetreuer Beamter“ bei Herrn v. Puttkamer nichts geschadet, auch hat es der Staatsanwalt vermieden, gegen diesen Burschen den Strafantrag wegen Verbreitung verbotener Schriften zu stellen. Solche Beispiele ungesetzlichen und provokatorischen Verhaltens von Beamten, das von Seiten der berufenen Wächter des Staates unverfolgt und ungerügt bleibt, tragen ungemein dazu bei, den Glauben an den „Rechtsstaat“, in dem wir leben, zu stärken, es ist eine wahre Lust Bürger eines solchen zu sein.


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