[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 10. Jahrgang, Nr. 11, 23. Mai 1900, S 81-83]
So gewissenlos unzulänglich die Enquete über die Fabrikarbeit verheirateter Frauen von Reichswegen eingeleitet worden ist; so unvollständig ihre Ergebnisse in vielen Einzelstaaten ausfallen müssen: immerhin wird sie manches Schlaglicht auf schreiende Missstände werfen, die als Folgen der kapitalistischen Ausbeutung der proletarischen Frau auftreten. Denn mögen die einschlägigen Verhältnisse noch so oberflächlich geschaut und in ihren sozialen Zusammenhängen noch so seicht erfasst werden; mag die Darstellung der Erhebungsergebnisse eine noch so trockene, nüchterne sein, um den aufreizenden Stachel der Erscheinungen, ihrer Ursachen und Wirkungen etwas abzustumpfen; mögen endlich die Geheimräte in der bekannten Schönfärbe- und Fleckreinigungsanstalt des Reichsamts des Innern die Resultate mit dem ganzen frommen Eifer kapitalistenstaatlicher Beamten bearbeiten: es bleiben genug Tatsachen, welche mit der Kraft der Steine des Evangeliums reden, wenn die Menschen schweigen. Weiterer, gründlicher Ausbau des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes, – nicht bloß im Interesse der wirtschaftlich, gesundheitlich, sittlich aufs Schwerste geschädigten Arbeiterklasse, sondern der gesamten Nation, die in den Wurzeln ihrer Kraft bedroht ist – das ist die Forderung, welche diese Tatsachen mit überzeugender Wucht predigen werden.
Wir begreifen deshalb den schlecht verhaltenen Ingrimm, mit welchem einzelne Kapitalistenklüngel über die „Beunruhigung der Industrie“ durch die Enquete jammern; wir begreifen die aufgeregte Besorgnis, mit welcher sie eindringlichst im Voraus vor jeder Erweiterung der armseligen gesetzlichen Schutzbestimmungen zu Gunsten der Arbeiterinnen als vor einem nationalen Unglück warnen. Dass der Chor der kapitalistischen Klageweiber von den Textilbaronen angeführt wird, ist in der Natur der Sache begründet. Die Textilindustrie ist das Gebiet der fabrikmäßigen Frauenarbeit par excellence. Hier steigert die Frauenarbeit den kapitalistischen Profit nicht bloß, weil sie billig und gefügig ist, sondern auch weil ihre umfangreiche Verwendung verbilligend, niederdrückend auf die Männerlöhne einwirkt. Dank des Überwiegens der Frauenarbeit in der Textilindustrie sind hier die Löhne auch für die Arbeiter auf das Niveau von Hungerlöhnen gesunken. Die „Textilindustrie“ selbst fühlt sich nun gewiss nicht durch die Möglichkeit beunruhigt, dass ein wirksamer gesetzlicher Schutz der Arbeiterinnen dazu beiträgt, eine Arbeiterklasse zu schaffen, welche körperlich nicht bis zur Blutleere, zur Erschöpfung abgerackert ist, der Frische und Schulung des Geistes, Kraft des Charakters eignet, und die sich in der Folge leistungsfähiger erweist, als eine verelendende Bevölkerung. Wie schreckhaft ist dagegen die Aussicht auf schärfere Zügelung der kapitalistischen Ausbeutungsfreiheit gegenüber armen Frauen und Mädchen für den Textilindustriellen, den das „Ewig-Weibliche“ in der Fabrik aus den Reihen des gewöhnlichen Kapitalistenmobs zu den lichten Höhen der Kommerzienratswürde hinan gezogen hat oder hinan ziehen soll!
Es hat nun von jeher zu den löblichen Gepflogenheiten der Kapitalistenklasse gehört, ihre niederträchtigsten Gelüste nach maßlosen Profiten, ihr Hängen und Kleben an den schäbigsten, gemeingefährlichsten Ausbeutungspraktiken mit dem Feigenblatt wohlklingender Schlagworte zu decken. In unserem Falle sind die Textilindustriellen und andere kapitalistische Nutznießer weiblicher Arbeitskraft mitsamt den Hand- und Spanndienste leistenden Handelskammern dieser Gepflogenheit nicht untreu geworden. Allerdings haben sie auf der Suche nach Vorwänden, hinter denen sich der kapitalistische Heißhunger nach Gewinn verkriechen kann, mehr Eifer als Geschick bewiesen. Der kapitalistischen Seele Drängen hat die Braven taub für das Gebot der Klugheit gemacht, dass der Mensch bei der Wahl fauler Ausreden nicht vorsichtig genug sein kann. Wäre dem nicht so, wie könnten sonst die Organisationen der Textilindustriellen und die Handelskammern aus den tollen Einfall kommen, bei Landtagen und beim Bundesrat mit dem alten Ladenhüter Hausieren zu gehen, dass ein weiterer gesetzlicher Schutz der Arbeiterinnen der Industrie zum schweren Schaden gereichen werde? Dadurch, dass selbiger Ladenhüter schon die ehrwürdige Spanne von fast 100 Jahren abgelagert ist, hat er wirklich nicht an Güte gewonnen Umgekehrt, die Entwicklung des Wirtschaftslebens hat immer nachdrücklicher dargetan, dass der gesetzliche Arbeiterschutz nicht zum Ruin der Industrie führt, sich vielmehr als ein vorzügliches Mittel erweist, diese zu kräftigen, zu Fortschritten und zu Verbesserungen anzuspornen und zu gesunder Entfaltung zu bringen. Aber freilich, die Geschichte, ihre Erfahrungen und Lehren scheinen für die Besitzenden nicht zum Lernen, sondern nur zur Blamage vorhanden zu sein, um klärlich nachzuweisen, entweder wie gottsträflich unwissend oder wie skrupellos verlogen sie sind. In der Tat, was soll das handelskammerliche Getute, dass die deutsche Industrie, insbesondere aber die Textilindustrie, durch eine weitere Ausgestaltung des Arbeiterinnenschutzes den schwersten Schädigungen, wenn nicht gar dem Ruin ausgesetzt werde, angesichts der Erfahrungen, welche in England seit nahezu 50 Jahren betreffs der gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit vorliegen?
In England verkürzte bereits 1844 ein Gesetz die Arbeitszeit der jugendlichen Personen und Frauen auf 12 Stunden täglich. Die Reform, die äußerst mangelhaft durchgeführt wurde, erwies sich als durchaus unzureichend, dem Verkommen der Arbeiterklasse in Folge der maßlosen Ausbeutung der Kinder, jungen Leute und Frauen entgegenzuwirken. Der Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit, um die gesetzliche Festlegung eines Normalarbeitstags, wenigstens für die sozial schwächsten und widerstandsunfähigsten Kategorien von Arbeitskräften, dauerte deshalb fort und wurde von Seiten des Proletariats wie der Kapitalisten mit gleicher Zähigkeit und Energie geführt. Die Bill vom 8. Juni 1847 bestimmte, dass schon am 1. Juli des gleichen Jahres der Arbeitstag der jugendlichen Personen und Frauen in der Textilindustrie auf 11 Stunden, dass er am 1. Mai 1848 auf 10 Stunden herabgesetzt werden sollte. Im Laufe von noch nicht einem Jahre also eine Verkürzung der Arbeitszeit um 2 Stunden täglich, eine Maßregel, die für ihre Zeit einschneidender und weitergehend war, als in unseren Tagen die Festlegung des Achtstundentags sein würde. Die Durchführung des Gesetzes stieß denn auch seitens der Baumwollgrafen auf den härtesten, raffiniertesten, bösartigsten Widerstand. Die brutale Gewalt der Hungerpeitsche; ein geradezu höllisches Raffinement in der Anwendung des Relaissystems und anderer Kniffe und Pfiffe; die verbrecherische Gesetzesbeugung der zuständigen Richter; Lücken im Gesetz; die mangelhafte Organisation der Fabrikinspektion: alles wurde ausgenutzt und aufgeboten, um die Arbeiterinnen und mit ihnen die ganze Arbeiterklasse um ihr Recht zu prellen. Wer einen Funken menschlichen Gefühls und Gerechtigkeitssinnes besitzt und die Größe noch in etwas anderem sieht, als in blutigem Schlachtenruhm, der kann nicht ohne die tiefste Ergriffenheit und Bewunderung den Kampf verfolgen, den die englischen Arbeiter in jenen Jahren als „Preisfechter des Proletariats der ganzen Welt“ für die Einführung und Durchführung eines Normalarbeitstags gekämpft haben; der wird aber auch mit Bewunderung und Sympathie des Mannes gedenken, der den Arbeitern in ihrem Ringen mit unbeugsamer Pflichttreue zur Seite gestanden hat: des Fabrikinspektors Leopold Horner. Schließlich wurde 1850 die Reform der 60stündigen Arbeitswoche für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen dadurch gesichert, dass die Arbeitszeit an den fünf ersten Wochentagen auf 10½ Stunden erhöht, am Samstag aber auf 7½ Stunden herabgesetzt wurde. Was die Gesetzgebung den Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern gebracht, das fiel den erwachsenen männlichen Arbeitern durch die zwingende Macht der Zusammenhänge der Verrichtungen in den Textilfabriken zu. Nicht de jure, wohl aber de facto trat der Zehnstundentag auch für sie in Kraft.
Und der Ruin der englischen Textilindustrie und all jene entsetzlichen Folgen für die „arbeiterfreundlichen“ Unternehmer, für die Arbeiterklasse, ja die ganze Nation, welche die Fabrikanten mitsamt ihren wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Helfershelfern gramzerrissen in Kassandratönen prophezeit hatten?
Sehr bald nach der Einführung des Normalarbeitstags, nämlich 1853, begann der wirtschaftliche Aufschwung der englischen Textilindustrie, der bis 1860 währte. 1850 hatte man in der englischen Baumwollindustrie 1932 Fabriken mit 330.000 Arbeitskräften gezählt, 1861 dagegen waren in 2887 Anlagen 451.000 Arbeiter beschäftigt. Die Zahl der Textilarbeiterinnen war ungeachtet der „Beschränkung ihrer Freiheit der Arbeit“ absolut wie relativ geradezu gewaltig gewachsen. Die Zahl der tätigen Spindeln war in dem betreffenden Zeitraum von 21 Millionen auf 30.400.000 gestiegen. 1847 wurden in England 400 Millionen Pfund Baumwolle eingeführt – den Wiederexport abgerechnet – 1860 aber 1140 Millionen. Die Zahl der Arbeitskräfte und der Spindeln hatte sich um die Hälfte vermehrt, die Menge des verarbeiteten Rohstoffes fast verdreifacht. Wie man sieht, konnte die englische Textilindustrie sich diesen „Ruin“ wohl gefallen lassen, er leitete wahre Goldströme in die Kassen der Schlotjunker.
Nun fällt es uns gewiss nicht ein, zu behaupten, dass der Zehnstundentag die Blüte der englischen Textilindustrie bedingt hat. Aber jedenfalls beweisen die angezogenen Ziffern das eine, dass die vollzogene Reform durchaus kein Hindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung war. Sie erhärten jedoch etwas mehr, nämlich dass die Verkürzung der Arbeitszeit unbedingt mit zu den Umständen gezählt werden muss, welche von wesentlichem Einfluss auf das Emporblühen der englischen Textilindustrie gewesen sind. Die Tatsachen bestätigten durchaus im Großen, was im Anfang des Jahrhunderts der Versuch des edlen Robert Owen mit der Einführung des Zehnstundentags in seiner Baumwollspinnerei zu New-Lanark erwiesen hatte. Indem die Verkürzung der Arbeitszeit die Arbeitenden physisch und geistig gehoben, hatte sie ihre Leistungsfähigkeit gesteigert. Lohnsklaven, Lohnsklavinnen, denen die Ausbeutung nicht jede Minute Zeit, jedes Fünkchen Kraft abpresst, denen kürzere Arbeitszeit ermöglicht, sich weniger als Maschinen, mehr als Menschen zu fühlen: arbeiten mehr, besser, überlegter und sparsamer. Die größere Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte aber steigert den Ertrag der Unternehmungen.
Der enge Zusammenhang zwischen der Verkürzung der Arbeitszeit, der Leistungsfähigkeit der Arbeiter und der Ergiebigkeit der Arbeit wird heute nur noch von Leuten bestritten, die aus dem verbohrtesten, steifnackigsten Kapitalabsolutismus heraus sich durchaus der Erkenntnis der Wahrheit verschließen wollen. Vor der Royal Commission of Labour und anderenorts erklärten englische Großunternehmer wiederholt und aufs Nachdrücklichste, dass der gesetzliche Schutz zu Gunsten der Kinder, jugendlichen Personen und Arbeiterinnen, dass insbesondere die Einführung des Normalarbeitstags von günstigem Einfluss auf die Entwicklung der englischen Industrie gewesen sei. Kürzere Arbeitszeit und hohe Löhne hätten die englische Industrie leistungsfähig gemacht und in den Stand gesetzt, gut und mit verhältnismäßig geringen Kosten zu produzieren. Der Exminister Asquith bezeichnete die günstigen Arbeitsbedingungen der englischen Arbeiter geradezu als einen Schutz gegen die Konkurrenz des Auslandes.
Übrigens gelangt der Einfluss der kürzeren Arbeitszeit auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitenden in den oben angeführten Zahlen ziffernmäßig zum Ausdruck. Die Menge des verarbeiteten Rohstoffes wuchs in dem angegebenen Zeitraum stärker an, als die Zahl der Arbeitskräfte. Ein weiterer Beweis dafür. In Russland, wo seinerzeit die Baumwollfabriken ununterbrochen in Betrieb waren, leisteten nach Mundella zwei Arbeiterschichten in 150 Stunden pro Woche nicht mehr, als in England eine Arbeiterschicht in 60 Stunden. Dass lange Arbeitszeit und geringe Leistung Hand in Hand gehen, erhellt ferner aus folgenden Zahlen. Nach Mulhall betrug im Anfang der achtziger Jahre die Zahl der Spindeln, die auf einen Arbeiter kamen, in Großbritannien 83, den Vereinigten Staaten 66, Deutschland 46, Frankreich 24, Russland, Österreich und Indien je 20. Und Rudolf Martin teilt in seiner bekannten Broschüre über die Fabrikarbeit verheirateter Frauen mit, dass in Galashiels in Schottland Mädchen die schnellsten Stühle mit 70 bis 80 Schuss per Minute bedienen, während hervorragende deutsche Fabrikanten der Ansicht sind, dass solche schnell gehende Stühle nur eingestellt werden könnten, wenn sie mit kräftigen männlichen Webern besetzt würden. Der Grund, weshalb die englische Weberin zu der höheren Arbeitsleistung als ihre deutsche Kollegin befähigt ist, liegt seines Erachtens lediglich in der kürzeren Arbeitszeit, die 56½ Stunden wöchentlich beträgt und in den um 25 Prozent höheren Löhnen.
Kein Zweifel, dass auch die Vervollkommnung der technischen Arbeitsmittel und die Verbesserung der Produktionsverfahren von Einfluss auf die höheren Leistungen der Arbeitskräfte sind. Aber Fortschritte in dieser Richtung werden gerade durch die Verkürzung der Arbeitszeit angeregt und herausgefordert. Der kürzere Arbeitstag ist ein ständiger Anreiz für den Kapitalisten, nach Verbesserung der technischen Hilfsmittel der Produktion zu trachten. Das Profitbegehren, das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals zwingt, die Spanne Zeit, während welcher die Arbeiter der Ausbeutung entzogen sind, durch ertragfähigere Arbeitsmittel und Arbeitsmethoden wettzumachen. Die Möglichkeit, die menschliche Arbeitskraft schrankenlos ausbeuten zu können, wirkt dagegen geradezu den Fortschritten der Produktionstechnik entgegen. Das beweisen die Verhältnisse in wirtschaftlich rückständigen Ländern, das zeigen die Verhältnisse in der Hausindustrie.
Die englische Gesetzgebung ist denn auch nicht bei der Einführung des Zehnstundentags in der Textilindustrie stehen geblieben. Sie hat die Reform nach und nach auf die Nichttextilfabriken und auch auf die Werkstätten ausgedehnt. Und noch immer ist für die englische Industrie der geweissagte jüngste Tag nicht gekommen!
Die Kapitalistensippen müssen die Kenntnisse oder die Sittlichkeit der Regierungen ungemein niedrig einschätzen, wenn sie überzeugt sind, diese durch das Ammenmärchen vom Ruin der Industrie als Folge des weiteren Arbeiterinnenschutzes schrecken zu können. Es ist gewiss das unveräußerliche Amtsrecht der Regierungen, durch ihre Haltung eventuell zu bestätigen, dass diese Einschätzung verdient war. Jedenfalls aber täuschen sich die Wortführer der kapitalistischen Ausbeutungsmacht, wenn sie sich in den Wahn lullen, durch ihr Gerede und Gehabe die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen nasführen zu können. Die Arbeiterklasse hat gelernt. Sie weiß, dass umfassende gesetzliche Schutzmaßregeln zu Gunsten der Arbeiterinnen sowohl unabweisbar nötig, als praktisch möglich sind. Sie weiß, dass diese Schutzmaßregeln zusammen mit der unentbehrlichen, unschätzbaren Aktion der Gewerkschaften nicht bloß dem Proletariat frommen, sondern dem Wirtschaftsleben und der Kulturentwicklung des gesamten Volkes zum Vorteil gereichen. In ihrem Kampfe für notwendige Reformen lässt sie sich durch faule Ausreden nicht beirren.
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